
ver.di fordert 12 Prozent mehr Lohn
Vor Beginn der ersten Verhandlungsrunde entrollten die Beschäftigten ein Banner vor der Versicherungskammer Bayern – versehen mit über 16.500 Unterschriften von Kolleg*innen, die eine kräftige Tariferhöhung fordern und sich bereit erklären, notfalls dafür zu streiken. Jetzt ist der Moment dafür gekommen.
Von Aleksandra Setsumei, Beschäftigte von Generali Aachen und ver.di-Mitglied
Starke Forderung
Nach Jahren des Reallohnverlusts sprachen sich 16.709 Kolleg*innen für eine starke Forderung von 12,5 Prozent in der kommenden Tarifrunde aus. Die Tarifkommission ging schließlich mit der Forderung nach 12 Prozent mehr Gehalt bei einer Laufzeit von zwölf Monaten in die Verhandlungen – sie bildet den Kern dieser Tarifrunde. Darüber hinaus fordert ver.di unter anderem eine überproportionale Erhöhung der unteren Entgeltgruppen als soziale Komponente, die Verdopplung des tariflichen Fahrtkostenzuschusses, Entfristungen, eine Anhebung der Ausbildungsvergütung um 250 Euro pro Ausbildungsjahr, die unbefristete Übernahme der Auszubildenden sowie freie Tage zur Prüfungsvorbereitung.
Die Hauptforderung nach 12 Prozent Lohnerhöhung ist keinesfalls „überzogen“, sondern gut begründet: Rechnet man die Inflationsraten der Jahre 2022 bis 2024 gegen die bisherigen Tariferhöhungen auf, ergibt sich ein Reallohnverlust von 8,1 Prozent. Hinzu kommt eine für 2025 erwartete Inflation von mehr als 3 Prozent. Zudem fließt in die Forderung eine durchschnittliche gesamtwirtschaftliche Produktivitätssteigerung von rund einem Prozent pro Jahr ein. Daraus ergibt sich ein klares Bild: Wenn die vollen 12 Prozent durchgesetzt werden, handelt es sich nicht um eine überzogene oder unrealistische Forderung, sondern ist mehr als gerechtfertigt.
Es ist auch eine motivierende und gute Forderung. Sie ist motivierend, weil sie – wenn durchgesetzt – zu einer echten Verbesserung der Lohnsituation führen wird. Und sie ist gut, weil sie ein starkes Zeichen setzt: Die Gewerkschaften können auch in die Offensive gehen, anstatt sich darauf zu beschränken, Verluste zu minimieren.
Tarifbotschafter*innen
Ein weiterer Grund, warum die Forderung gerechtfertigt ist, ist die Tatsache, dass sie sich aus einem gewissen Diskussionsprozess in Betrieben ergibt. ver.di hatte bereits 2024 damit begonnen, Kolleg*innen für eine gute Forderung zu mobilisieren. Dafür wurden sogenannte Tarifbotschafter*innen gewonnen – engagierte Beschäftigte, die als Ansprechpersonen und Aktive die Kampagne in den Betrieben begleiteten. Hunderte dieser Tarifbotschafter*innen beteiligten sich an regelmäßigen Austauschrunden und den verschiedenen Etappen der Kampagne.
Den Auftakt bildeten Befragungen, an denen sich über 21.000 Beschäftigte beteiligten. Das Ergebnis war deutlich: Rund siebzig Prozent zeigten sich unzufrieden mit der bisherigen Entwicklung der Tarifgehälter und unterstützten eine deutliche, zweistellige Forderung. Im nächsten Schritt wurden fast 2.500 Forderungsinterviews geführt – mit dem klaren Ergebnis, dass die Mehrheit der Befragten einen Fokus auf die Gehaltsfrage forderte und eine Erhöhung von mindestens 10 Prozent unterstützte. Es folgte der sogenannte Stärketest: Über 16.500 Kolleg*innen erklärten sich bereit, für eine Forderung von 12,5 Prozent in den Streik zu treten. Auf dieser Grundlage beschloss die Tarifkommission schließlich die 12- Prozent-Forderung.
Arme Versicherungsbranche?
Die Bosse reagieren auf die Forderung mit den altbekannten Argumenten: “schwierige wirtschaftliche Lage”, “begrenzte Spielräume” – und bieten eine Laufzeit von 28 Monaten mit Gehaltserhöhungen von 4,8 und 3,3 Prozent jährlich. Doch dieses Angebot würde für die Beschäftigten einen realen Lohnverlust von rund 4 Prozent im Vergleich zu 2020 bedeuten. Dabei steht die Branche wirtschaftlich alles andere als schlecht da: In den vergangenen Geschäftsjahren sowie im ersten Quartal 2025 verzeichnete die Versicherungswirtschaft gute bis sehr gute Ergebnisse. Ein Beispiel: Der Aktienkurs von Generali ist in den letzten 12 Monaten um mehr als 25 Prozent gestiegen. Von wirtschaftlicher Not kann also keine Rede sein.
Streiken!
Gegen dieses freche Angebot muss gestreikt werden! Am 26. Juni ruft ver.di deshalb bundesweit zum Warnstreik auf. Diese Tarifrunde macht deutlich: Die Bosse geben nichts freiwillig – jede Verbesserung muss erkämpft werden.
Die Gewerkschaft hat dafür eine starke Grundlage geschaffen. Die aktive Einbindung der Belegschaften ist ein großer Fortschritt. Sie sorgt dafür, dass sich viele Kolleg*innen informiert, beteiligt und bereit fühlen, in den Arbeitskampf zu treten. Diese Beteiligung muss weiter ausgebaut werden. Es gibt keinen Grund für Bescheidenheit und eine positive Dynamik. Wenn es kein wesentlich besseres Angebot gibt, sollte eine Urabstimmung für Erzwingungsstreik für die Durchsetzung der Forderungen eingeleitet werden. Der Verlauf der Tarifverhandlungen sollte nicht nur über Tarifbotschafter*innen laufen, sondern sollte auch in Streik- und Betriebsversammlungen offen und demokratisch diskutiert werden. Jeder Verhandlungsstand sollte transparent und demokratisch durch die Streikenden diskutiert und bewertet werden und demokratisch über Annahme oder Fortsetzung des Streiks abgestimmt werden. Wenn ein guter Abschluss erkämpft wird, kann er ein Signal an andere Branchen senden und als Vorbild für weitere Arbeitskämpfe dienen, mit mutigen und hohen Forderungen in Verhandlung zu gehen.