
Keine Aussicht auf stabilen Frieden im Rahmen des Kapitalismus
Während der zermürbende Stellungs- und Abnutzungskrieg in der Ukraine weiterläuft, fanden in Istanbul erstmals seit drei Jahren Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland statt. Eine realistische Aussicht auf einen stabilen (Verhandlungs-)Frieden im Rahmen des Kapitalismus ist jedoch nicht zu erwarten.
Von Gregor Schaper, Lemgo
Im Stellungskrieg im Donbass gerät die Ukraine zunehmend in die Defensive. Beide Seiten erleiden schwere Verluste an Menschenleben und Material – doch Russlands Ressourcenbasis ist ungleich größer. Mit massiver Ausweitung der Rüstungsproduktion sowie Waffenlieferungen aus Nordkorea und Iran konnte Russland seine Nachschubwege stabilisieren.
Auch die Ukraine hat ihre Waffenproduktion erhöht, bleibt aber stark abhängig von westlicher Militärhilfe, deren Zukunft unter einer Trump-geführten US-Regierung zunehmend fraglich ist. Weitaus dramatischer für das ukrainische Militär ist jedoch der akute Mangel an Soldat*innen. Viele ukrainische Brigaden sind stark unterbesetzt und können die lange Frontlinie kaum halten. Russische Offensiven führen unter hohen Verlusten zu langsamen, aber stetigen Geländegewinnen. Die militärische Initiative liegt mittlerweile klar bei Russland.
Frustration und Widerstand
Gleichzeitig nimmt auf beiden Seiten die Kriegsmüdigkeit spürbar zu. In der Ukraine verschärft der Staat seine Rekrutierungsmethoden: Männer werden auf offener Straße in Kleintransporter gezerrt und an die Front verschleppt – eine Praxis, die inzwischen zu Brandanschlägen auf entsprechende Fahrzeuge führt. Teile der ukrainischen Armee widersetzen sich aktiv: In Wuhledar trat ein Bataillon in den Streik, andere Einheiten demonstrierten gegen Verlegungen an die Front.
Auch in Russland wächst der Widerstand unter den einfachen Soldaten. Videos zeigen erschöpfte Männer, die seit Monaten ohne Ablösung an der Front stehen und ihre Rückkehr fordern. Um Desertionen zu verhindern, wurden im Januar gar mobilisierte Männer aneinander gekettet an die Front transportiert. Besonders betroffen von Mobilisierung und den hohen Todesraten sind ethnische Minderheiten in den ärmeren Grenzregionen – Buryaten, Dagestaner, Tuwiner – die als Kanonenfutter für die imperialistischen Interessen des russischen Kapitals verheizt werden.
Trump und Putin
Trumps groß angekündigte Absicht, den Krieg binnen weniger Tage zu beenden, hat den Frieden keinen Schritt näher gebracht. Auch die ersten Verhandlungen seit drei Jahren zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul führten zu kaum greifbaren Ergebnissen. Zugleich gerät Selenskyjs Regierung unter Druck. Trumps Ukraine-Politik vertritt den Teil der herrschenden Klasse in den USA, die zum Schluss gekommen ist, dass der Ukraine-Krieg verloren ist und man sich stattdessen auf China als größten imperialistischen Konkurrenten fokussieren muss. Auf die demonstrative Demütigung Selenskyjs durch Trump und Vance folgten zeitweise Einstellungen von Waffenlieferungen und der Weitergabe kriegswichtiger Geheimdienstinformationen. Das Selenskyj-Regime reagierte mit weitreichenden Zugeständnissen: US-Firmen sollen nach dem Krieg Zugriff auf ukrainische Ressourcen erhalten – ein Beleg, dass es den USA offensichtlich um imperialistische Interessen geht.
Die Interessen der EU als imperialistischer Block bleiben dabei außen vor: Die EU-Kommission bemüht sich zwar ebenfalls um ein Rohstoffabkommen mit der Ukraine, nach dem EU-Industriekommissar Stéphane Séjourné könnten nämlich 21 von 30 von Europa benötigten kritischen Rohstoffen von der Ukraine “im Rahmen einer Partnerschaft geliefert werden, bei der beide Seiten gewinnen”. Die EU kann jedoch die entscheidende militärische Rolle der USA nicht ersetzen. Für das europäische Kapital bedeutet ein Ukraine-Deal zwischen Trump und Putin eine geopolitische Niederlage, doch fehlt es an Mitteln, die eigenen imperialistischen Interessen durchzusetzen.
Klassenkampf
Der Ruf nach Frieden wird unter den leidenden Massen in der Ukraine immer lauter. Die Sehnsucht nach einem Ende des Sterbens und der Angst vor Luftangriffen ist groß. Früher oder später wird der Krieg, wie alle Krieg, ein Ende finden. Doch solange dieselben Kräfte an der Macht sind, wird das nicht bedeuten, dass die Interessen der einfachen Menschen dann zur Geltung kommen.
Unter kapitalistischen Bedingungen bedeutet ein Ende des Kriegs oder auch ein „Verhandlungsfrieden“ weder einen angemessenen Lebensstandard noch demokratische Selbstbestimmung, sondern die Aufteilung der Ukraine entlang der Interessen konkurrierender Großmächte. Weder in der Ukraine noch in den mehrheitlich russischsprachigen Regionen wie der Krim oder dem Donbass würde ein solcher Frieden das Recht sichern, frei von Besatzung, Zwang und Repression zu leben.
Es sind insbesondere jene Arbeiter*innen, Jugendlichen und Wehrdienstverweigerer*innen in Russland und der Ukraine, die sich mutig dem Krieg widersetzen, die Hoffnung für die Zukunft geben. Doch ihr Widerstand braucht ein Programm, das über bloßen Antimilitarismus hinausgeht: für grundlegende soziale und demokratische Rechte, für eine entschädigungslose Enteignung der kapitalistischen Oligarchie, für gegenseitige Anerkennung nationaler Selbstbestimmung, für die demokratische Kontrolle und Verwaltung der Wirtschaft durch die Arbeiter*innen selbst. Nur ein solches sozialistisches Programm kann die nationale Frage lösen – weil es Schluss macht mit der Ausbeutung, Repression und Unterdrückung, auf denen der Hass zwischen Völkern gedeiht. Was es braucht, ist der Aufbau einer unabhängigen, sozialistischen Kraft der Arbeiter*innenklasse – in der Ukraine, in Russland und international.