
Wie die kapitalistische Restauration zu Krieg und ‘ethnischer Säuberung’ auf dem Balkan führte
Am 15. Juli 2020 veröffentlichte die englisch-walisische Sektion des CWI (Committee for a Workers’ International) – die Socialist Party – diesen Artikel auf der Website des CWI unter https://www.socialistworld.net/2020/07/15/srebrenica-massacre-25-years-on-how-capitalist-restoration-led-to-war-and-ethnic-cleansing-in-the-balkans/. Da sich das Massaker von Srebrenica zum 30. Mal jährt, veröffentlichen wir diesen Artikel, ins Deutsche übersetzt, hier erneut. Sowohl im Titel als auch im Text ist die Zahl 25 zu 30 geändert worden, da das Massaker 5 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Artikels nicht mehr 25, sondern nun 30 Jahre her ist. Andere zeitliche Nennungen sind gegebenenfalls nicht aktuell, da sie dem Zeitpunkt der Verfassung des Artikels entsprechen.
Von Judy Beishon, Socialist Party England & Wales
Vor dreißig Jahren, im Juli 1995, wurden 8.000 bosnisch-muslimische Gelüchtete in und um die bosnische Stadt Srebrenica abgeschlachtet – eine der letzten Gräueltaten im Bosnienkrieg 1992-95.
Die Einstufung von Srebrenica als „sicherer Hafen“ durch die Vereinten Nationen (UN) war eine grausame Farce für diese Opfer und die Zehntausenden anderen, die aus der Stadt vertrieben wurden.
Während des Krieges waren die bosnischen Muslim*innen die Leidtragenden der schlimmsten Gräueltaten, darunter eine unzählige Zahl von Toten auf der Brücke von Visegrad. Auch unter der serbischen und kroatischen Bevölkerung gab es viele Opfer. Der größte einzelne Akt der „ethnischen Säuberung“ in jenen Jahren war die brutale Vertreibung von 200.000 kroatischen Serb*innen aus der Krajina in Kroatien durch die kroatische Armee. Insgesamt starben während des Krieges 100.000 Menschen und über zwei Millionen wurden vertrieben.
Die rechtsnationalistischen serbischen und kroatischen Führungskräfte in Bosnien, die darauf aus waren, ihr Territorium zu konsolidieren, das sie mit dem angrenzenden Kroatien und Serbien verbinden konnten, waren hauptsächlich für das Blutvergießen verantwortlich. Das bedeutete jedoch nicht, dass Sozialist*innen die militärische Aggression der bosnisch-muslimischen Kriegsherren in irgendeiner Weise unterstützen konnten. Wie ihre serbischen und kroatischen Kolleg*innen handelten sie in ihrem eigenen Interesse und nicht im Interesse des Teils der Bevölkerung, den sie zu schützen vorgaben. Das Ausbrechen des Krieges war das Ergebnis des Zusammenbruchs der jugoslawischen Föderation – eines stagnierenden, bürokratisch geführten, stalinistischen Regimes. Der Zerfall begann, als Slowenien seine Unabhängigkeit erklärte. In den Ländern, die daraufhin in einen Krieg verwickelt wurden, nutzten die nationalistischen Führer*innen die Ängste vor Unsicherheit und Diskriminierung in der serbischen, kroatischen und muslimischen Bevölkerung zu ihrem Vorteil.
Der Krieg endete mit dem Dayton-Abkommen, das 1995 von den imperialistischen Mächten durchgesetzt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatten die gegnerischen Milizenführungen ihre Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Interessen durch die Fortsetzung des Krieges weitgehend ausgeschöpft. Bosnien wurde zu einer einzigen Einheit erklärt, doch in Wirklichkeit wurde durch das Abkommen die Teilung zwischen einer bosnisch-serbischen Einheit und einer kroatisch-muslimischen Föderation verstärkt. Im Wesentlichen legitimierte es die erfolgte ethnische Säuberung und führte ein Flickwerk aus zehn Kantonen und eine auf ethnischen Quoten basierende Regierungsstruktur ein.
Verurteilungen
Seit dem Krieg haben viele der Familien von Srebrenica und andere Opfer die Verurteilung von mehr als 90 Personen wegen Kriegsverbrechen durch das „International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia“ (ICTY – Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, 1993-2017 in Den Haag) begrüßt. Zu den Personen, die zu langen Haftstrafen verurteilt wurden, gehören der bosnisch-serbische Ex-General Ratko Mladic und Radovan Karadžic, der ehemalige bosnisch-serbische Präsident.
Das ICTY wurde schließlich geschlossen und 3.000 offene Fälle wurden an nationale Gerichte verwiesen. Jenes war stets unfähig, den Opfern in Bosnien echte und vollständige Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nicht zuletzt, weil es zwangsläufig im Interesse der Geldgeber*innen der UNO, der führenden kapitalistischen Mächte der Welt, handelte.
Die westlichen Regierungen sind natürlich nicht bereit, sich für ihre eigenen Interventionen auf dem Balkan vor Gericht stellen zu lassen, wie zum Beispiel für die brutalen Nato-Luftangriffe auf bosnisch-serbische Gebiete während des Bosnien-Krieges oder die bösartigen „humanitären“ Nato-Bombardements von 1998 gegen Serbien, um die serbischen Truppen aus dem Kosovo zu vertreiben.
Angesichts der zunehmenden Gegensätze und widersprüchlichen außenpolitischen Interessen zwischen den Weltmächten ist es nicht schwer zu verstehen, warum keine internationalen Gerichte für Kriegsverbrechen in Kriegsgebieten wie Syrien und Jemen entstanden sind.
Nach der jüngsten Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), den Afghanistankrieg mit seinen vielen zivilen Todesopfern durch die USA zu untersuchen, und der vorangegangenen Entscheidung, sich mit Israel-Palästina zu befassen, hat die US-Regierung unter Trump den IStGH der Korruption beschuldigt und sogar Sanktionen gegen IStGH-Beamt*innen angedroht.
In Anlehnung an die Realität der kapitalistischen „internationalen Justiz“ bezeichnete der US-Generalstaatsanwalt William Barr den IStGH als „wenig mehr als ein politisches Instrument, das von zügellosen internationalen Eliten eingesetzt wird“.
Arbeiter*innenorganisation
Nur wenn Menschen aus der Arbeiter*innenklasse ihre eigenen Organisationen aufbauen, wird es möglich sein, wirklich unabhängige, demokratisch geführte Untersuchungen zu vergangenen Gräueltaten durchzuführen. Und auf dem Balkan muss eine politische Vertretung der Arbeiter*innen aufgebaut werden, um die gesamte Agenda der ethnischen und religiösen Spaltung in Frage zu stellen, die von den herrschenden Klassen vorangetrieben wird – und die auch heute noch anhält, zusammen mit ihrer massiven Bereicherung.
Vor einem Jahr wurde die Region von einer Protestwelle erfasst, über die ein Artikel in der New York Times berichtete: “Von Bosnien bis Serbien und sogar in Albanien sind die Menschen seit Monaten zu Hunderttausenden auf die Straße gegangen, um ihre Unzufriedenheit zu äußern. Die spezifischen Beschwerden variieren, aber alle sind von dem Gefühl beseelt, dass ihre Regierungen zunehmend von korrupten Eliten mit autoritären Tendenzen regiert werden, die junge Demokratien mit schwacher Kontrolle der Exekutivgewalt ausgenutzt haben.”
Jetzt, ein Jahr später, sind erneut Proteste ausgebrochen. In den letzten Tagen kam es in Serbien zu wiederholten Demonstrationen – darunter ein Versuch, das Parlament zu stürmen – gegen den Umgang von Präsident Aleksandar Vucic mit der Coronavirus-Krise und die autokratische Herrschaft seiner Regierung.
Gleichzeitig streikten am 8. Juli 3.000 Angestellte des medizinischen Personals in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo, um Lohnzuschläge für ihre durch das Coronavirus verursachte Mehrarbeit zu fordern. Im vergangenen Herbst fand in Kroatien ein 36-tägiger Lehrer*innenstreik statt.
Die arbeitenden Menschen aller Nationalitäten, Ethnien und Religionen auf dem gesamten Balkan müssen in den Kampf gegen ihre kapitalistischen Bosse und Regierungen ziehen, was das Bewusstsein für die gegensätzlichen Klasseninteressen und die Notwendigkeit, gegen die Spaltung der einfachen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zu kämpfen, erhöhen wird.
Das Massaker von Srebrenica vor 30 Jahren entstand aus dem Bestreben rechtsgerichteter Führungskräfte, die Spaltung voranzutreiben, um sich und ihren reichen Verbündeten Einflussbereiche zu verschaffen.
Heute ist die Aufgabe, die Einheit des Volkes gegen die giftige reigiöse Spaltung und künftiges Blutvergießen zu stärken, mehr denn je mit dem Kampf gegen Ungleichheit und für einen angemessenen Lebensstandard verbunden.
Die serbische Arbeiter*innenklasse zeigte ihre potenzielle Stärke, als sie vor 20 Jahren zu Massenaktionen, einschließlich eines Generalstreiks, überging und Präsident Slobodan Milosevic aus dem Amt drängte.
Jetzt gilt es, alle Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen: das Scheitern der jugoslawischen Planwirtschaft aufgrund des Fehlens einer Arbeiter*innendemokratie; der anschließende Abstieg in ethnische und nationalistische blutige Konflikte aufgrund der Schwäche der Arbeiter*innenbewegungen in dieser Phase; und die Art und Weise, in der wütender Nationalismus von den Eliten genutzt wurde, um „Teile und herrsche“ zu spielen.
Die Schlussfolgerung wird sein, dass die Arbeiter*innenklasse gemeinsam ein Programm und Organisationen für eine sozialistische Alternative entwickeln muss – die einzige Möglichkeit, die kapitalistischen Kriege endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.