Krise und Klassenkampf in Europa

Resolution des 14. Weltkongresses des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI)

Ende Juli tagte der 14. Weltkongress des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) in Berlin. Vertreter*innen aus über zwanzig Ländern kamen zusammen, verabschiedeten verschiedene Resolutionen und wählten neue Leitungsgremien des CWI. Wir veröffentlichen heute die Resolution zu Europa. In den nächsten Tagen wird noch ein Papier zur Situation in Asien, das als Diskussionsgrundlage diente, auf solidaritaet.info veröffentlicht. Im September können die Texte auch als Broschüre unter info@solidaritaet.info bestellt werden.

  1. Die Situation in Europa ist durch eine Vielzahl von Krisen des kapitalistischen Systems gekennzeichnet, und zwar auf wirtschaftlicher, politischer, handelspolitischer, militärischer, diplomatischer und ökologischer Ebene. Die Verschärfung der kapitalistischen Krise und die antagonistische Politik der imperialistischen Mächte zerstören jegliche Hoffnung auf eine Rückkehr zu relativer Stabilität und Wohlstand in Europa. Der Kontinent wird durch Trumps Angriff auf die „Weltordnung“ und durch seine Handels- und Zollpolitik erschüttert und verändert. Gleichzeitig wird die Barbarei des Kapitalismus und Imperialismus in der Ukraine und im Gazastreifen sowie im weiteren Nahen Osten, einschließlich des erneuten israelisch-iranischen Konflikts, und durch die Komplizenschaft der europäischen Mächte in diesen blutigen Konflikten anschaulich manifestiert. Die herrschenden Klassen Europas befinden sich auf hoher See und versuchen verzweifelt, durch diese Stürme und die Herausforderung durch rechtspopulistische Kräfte auf der Wahlebene in vielen Ländern sowie durch Klassenpolarisierung und -kämpfe zu navigieren. Mehr als je zuvor sind die traditionellen Parteien der kapitalistischen Klasse  weithin diskreditiert und haben eine schrumpfende Wähler*innenbasis. In verschiedenen europäischen Ländern erweist es sich als sehr schwierig, Mehrheitsregierungen oder Koalitionen zu bilden bzw. dass diese Regierungen stabil sind, da sie unpopulär sind, sich die Interessengegensätze zwischen Teilen der Bourgeoisie verschärfen und sie nicht in der Lage sind, unter dem Druck der schweren kapitalistischen Krisen einen gemeinsamen Weg zu finden. Nach nur elf Monaten im Amt brach die rechte niederländische Koalitionsregierung, deren Bildung acht Monate gedauert hatte, im Juni zusammen. 
  2. Wachsende Teile der Arbeiter*innenklasse, der Jugend und der Mittelschichten blicken mit Entsetzen und Wut auf die endlosen Kriege des Imperialismus, den Militarismus, die hochgradig zerstörerischen Handelskriege, die Umwelt- und Klimakrise und die endlosen Angriffe auf Lebensstandards und demokratische Rechte. Dies wirkt sich tiefgreifend auf das Massenbewusstsein aus, erzeugt Entfremdung und Verbitterung und bereitet den Weg für mächtige Klassenexplosionen und Revolten gegen die herrschenden Eliten und das gesamte Profitsystem. In Europa, vor allem in den südeuropäischen Ländern, wo in den letzten Jahren in Ländern wie Griechenland große Mobilisierungen gegen die NATO und die Militarisierung stattgefunden haben, ist die Aussicht auf Antikriegsbewegungen gegeben. Gleichzeitig führt der Aufstieg der populistischen Rechten zu Spaltungen und Komplikationen in der Arbeiter*innenbewegung. Die sich verschärfende Krise des Kapitalismus in Europa stellt immer deutlicher die Frage nach der Führung der Arbeiter*innenklasse und der historischen Aufgabe, die kapitalistische Ordnung zu stürzen und die Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage umzugestalten. Die verschiedenen linken Parteien und Formationen haben sich wiederholt als unzureichend erwiesen. Nur eine massenhafte revolutionäre sozialistische Alternative, die in der Arbeiter*innenklasse in Europa und weltweit verwurzelt ist, kann einen Ausweg aus den endlosen Schrecken des maroden Kapitalismus und Imperialismus bieten. Der Aufbau dieser Kräfte ist die zentrale Aufgabe, die sich das CWI stellt und die sich aus unserer Analyse des Kapitalismus und seiner vielfältigen Krisen ergibt. 

Trumps Angriff auf Europa

  1. Trumps zweite Amtszeit begann mit einer Abrissbirne für die bereits knarrende sogenannte „regelbasierte Weltordnung“ und den globalen Handel. Der alte imperialistische „Verbündete“ hat einen noch nie dagewesenen wirtschaftlichen und politischen Angriff gegen die Interessen der europäischen Bourgeoisien entfesselt. Dies geht einher mit einem „Kulturkrieg“ gegen die „globalisierte liberale Elite“ der EU, angeführt von Trumps ideologischem Kampfhund, US-Vizepräsident JD Vance.
  2. Trump hatte gedroht, fünfzigprozentige Zölle auf EU-Importe zu erheben.  Ende Juli hat die EU-Kommission einer zusätzlichen Zollgebühr von 15 Prozent auf Exporte in die USA zugestimmt. Dies ist zwar weniger als Trumps ursprüngliche Drohung, aber es handelt sich immer noch um Zölle auf europäische Volkswirtschaften, die es vor einigen Monaten noch nicht gab, und sie werden sich generell negativ auf die Volkswirtschaften der EU auswirken.
  3. Dies ist eine Vertiefung und Beschleunigung von Prozessen, die bereits in der historischen Krise des Kapitalismus und in den wachsenden Spannungen und Antagonismen zwischen den imperialistischen Mächten und Blöcken angelegt sind, wie das CWI bereits früher festgestellt hat. Die Entwicklung von Handelskriegen und die Vorbereitung weiterer militärischer Konflikte sind auf das Streben der imperialistischen Mächte nach einer Neuaufteilung der Welt zurückzuführen. 
  4. Trump hat zum Entsetzen und zur Verzweiflung der herrschenden Klassen in Europa das so genannte „auf Regeln basierende internationale System“ (in Wirklichkeit eine informelle Arbeitsweise zwischen den wichtigsten imperialistischen Mächten) in Stücke gerissen. Sein Drängen auf ein schnelles Ende des Krieges in der Ukraine bedeutete einen Bruch mit den EU-/Nato-Verbündeten. Die EU steht vor Verhandlungen mit den USA über Handel und „Verteidigung und Sicherheit“, da sie versucht, einen transatlantischen Handelskrieg abzuwenden und gleichzeitig Washington in gewissem Umfang zur Verteidigung Europas und zum weiteren Engagement in der Ukraine zu verpflichten.
  5. Das seit langem bestehende Bestreben des französischen Imperialismus nach einer größeren Unabhängigkeit Europas vom US-Imperialismus hat seit der Wiederwahl Trumps an Unterstützung gewonnen. Dies wird zunehmend auf den militärischen Expansionismus Deutschlands und sein Streben nach einer dominanteren militärischen Rolle auf dem Kontinent stoßen. Gleichzeitig ist die EU gespalten zwischen Ländern, die die sogenannte „strategische Autonomie“ unterstützen, und solchen, die wie Italiens Premierministerin Giorgia Meloni, glauben, dass die „transatlantischen Beziehungen“ um jeden Preis verteidigt werden müssen (vor allem, weil die italienische herrschende Klasse nicht vom französischen und deutschen Kapitalismus zerquetscht werden möchte). 
  6. Nichtsdestotrotz haben Trumps Forderungen, dass die europäischen Mächte mehr zur Finanzierung der NATO beitragen sollen, und seine Drohung, die Militärhilfe für die Ukraine einzustellen und die Sicherheitsgarantien der USA auszusetzen, die imperialistischen Mächte in Europa dazu veranlasst, ihre Militarisierungspolitik zu beschleunigen (bereits in den letzten zehn Jahren haben sich die Militärausgaben in der EU verdoppelt). Die Staats- und Regierungschefs der NATO fordern ihre Mitgliedstaaten auf, fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für „Verteidigung“ auszugeben. Die EU und Großbritannien steigern ihre Militärausgaben in einem seit dem Kalten Krieg nicht mehr gekannten Umfang. Im vergangenen Jahr stiegen die europäischen Militärausgaben um 17 Prozent auf 693 Milliarden US-Dollar. Darüber hinaus legte die EU im März 2025 einen Aufrüstungsplan in Höhe von 800 Milliarden Euro für gemeinsame europäische „Verteidigungsprojekte” fest. Die deutsche Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, die stärkste Militärmacht in Europa aufzubauen, wobei die Militärausgaben bis 2024 um 28 Prozent steigen sollen. Polens Militärausgaben sind um 31 Prozent gestiegen. Frankreich hat sich verpflichtet, seine Militärausgaben bis 2030 auf 100 Milliarden Euro fast zu verdoppeln. Dies markiert das Ende der sogenannten „Friedensdividende“ nach dem Zusammenbruch des Stalinismus. Dennoch liegen die Verteidigungsausgaben derzeit prozentual immer noch unter dem Niveau des BIP-Anteils zu Zeiten des Kalten Krieges. In Großbritannien beispielsweise rühmte sich die Regierung in ihrer jüngsten Ausgabenbilanz damit, die Verteidigungsausgaben auf 2,6 Prozent des BIP zu erhöhen, während sie 1990 noch bei vier Prozent lagen (damals der niedrigste Stand seit 1960). Betrachtet man jedoch einzelne Länder, einschließlich derjenigen, die in den letzten Jahren der NATO beigetreten sind, so geben einige Staaten genauso viel oder real mehr für die Verteidigung aus als während des Kalten Kriegs. 
  7. Trotz der Bitten von Generälen und Verteidigungsministerien um finanzielle Unterstützung beliefen sich die kumulierten Ausgaben der europäischen Nato-Mitglieder in den letzten zehn Jahren auf 3,15 Billionen Dollar, was weitaus mehr ist als die Ausgaben Russlands. Und Europa hat derzeit 1,47 Millionen Männer und Frauen in Uniform (mehr aktive Soldat*innen als die USA). Aber es gibt nur wenige einsatzbereite Truppen, gemeinsame Luftverteidigungssysteme oder von den EU- und Nato-Staaten vereinbarte Panzerkontingente. Gegenwärtig gibt es nicht einmal ausreichende Waffenvorräte, um die Ukraine zu beliefern. Diese obszöne Verschwendung und mangelnde Koordination ist kein Zufall, sondern ein Merkmal der kapitalistischen Rüstungsindustrie und des Militärs, bei denen es in erster Linie um Profit und das nationale Interesse der jeweils herrschenden Klasse geht. Die EU ist ein Bündnis kapitalistischer Nationalstaaten, kein „föderaler Superstaat“. Die Interessen der EU-Mitgliedsstaaten können sich eine Zeit lang bis zu einem gewissen Grad in einigen Schlüsselfragen vereinigen, aber der Block ist organisch anfällig für nationale Spannungen, Antagonismen und Zusammenstöße. 
  8. Die Erhöhung der Militärausgaben geht einher mit fortgesetzten Kürzungen bei den öffentlichen Dienstleistungen und den Lebensbedingungen und bringt die herrschenden Klassen Europas auf Kollisionskurs mit der Arbeiter*innenklasse. In einigen Ländern, wie Deutschland, wird die Militarisierung eine radikalisierende Wirkung auf das Bewusstsein haben, insbesondere bei jungen Menschen. Die Angst vor dem Krieg kann es den kapitalistischen Regierungen auch ermöglichen, die Unterstützung von Teilen der Arbeiter*innenklasse für die Militarisierung zu gewinnen. Nichtsdestotrotz wird die Verschwendung von Reichtümern, die zur Linderung der Armut eingesetzt werden könnten, für Aufrüstungsprogramme in einem Ausmaß, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat, eine große Auswirkung auf das Bewusstsein haben, wenn auch nicht einheitlich. 
  9. Die Propaganda des britischen Premierministers Keir Starmer und anderer europäischer Staats- und Regierungschefs, dass eine Erhöhung der Rüstungsausgaben eine „Verteidigungsdividende“ in Form von „Arbeitsplätzen, Exporten und dauerhaften Produktivitätssteigerungen“ bringen wird, hält einer Überprüfung nicht stand. Größere Rüstungsausgaben mögen zwar möglicherweise einen begrenzten Aufschwung für die betroffenen Volkswirtschaften bedeuten, doch wird dies in der Regel dadurch kompensiert, dass die Regierungen zur Finanzierung der Ausgaben die Steuern erhöhen, Investitionen an anderer Stelle und die Sozialleistungen kürzen. Außerdem führen zusätzliche Militärausgaben nur dann zu einer Produktivitätssteigerung, wenn sie eine große Forschungs- und Entwicklungskomponente enthalten. Dies ist zum Beispiel bei den Plänen der britischen Regierung sicher nicht der Fall, und das Vereinigte Königreich nimmt derzeit den zweithöchsten militärischen Rang unter den NATO-Staaten ein. 
  10. Die Grenzen des „Kriegskeynesianismus“ werden am Beispiel Russlands deutlich. Im Jahr 2025 werden die Militärausgaben Russlands fast 172 Milliarden US-Dollar erreichen: das entspricht 7,7 Prozent des BIP und einem Anstieg von zwölf Prozent gegenüber 2024. Eine hohe Beschäftigung und höhere Löhne haben diesen Prozess begleitet. Dies kann jedoch nicht unbegrenzt andauern. Es gibt bereits Anzeichen für eine Überhitzung der Wirtschaft, die zu höherer Inflation und Arbeitskräftemangel führen könnte. Und obwohl Russlands BIP-Wachstum aufgrund der Kriegsnachfrage und der Importsubstitution relativ stark bleibt, ist das Wachstum nicht nachhaltig und könnte zu einer Stagflation führen (d. h. das Wirtschaftswachstum stagniert, während die Inflation hoch bleibt). 
  11. Das CWI wendet sich gegen die Rüstungsanstrengungen der kapitalistischen Regierungen und die Befürwortung der Ausweitung dieser Massenvernichtungsindustrien durch einige Vertreter*innen der Gewerkschaftsführungen. Wenn wir Forderungen gegen diese Ausweitung oder für den Stopp von Waffenverkäufen an Israel oder die Ukraine erheben, muss die Frage der Arbeitsplätze und der Arbeitsbedingungen geschickt aufgegriffen werden, um die Beschäftigten in der Rüstungsindustrie zu gewinnen, wobei ein „gerechter Übergang“ (also eine Umstellung der Produktion unter Erhalt der Arbeitsplätze, Anm. der Übersetzung) zu einer sozial nützlichen Produktion ohne Verlust von Löhnen, Arbeitsplätzen oder hart erkämpften Arbeitsplatzbedingungen gefordert wird. Daher fordern wir die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung als Voraussetzung für einen solchen Übergang.

Europas stagnierende Wirtschaft

  1. Die Wirtschaft der Eurozone befindet sich in einer Phase der Stagnation, mit geringem BIP-Wachstum und Schrumpfung in einigen Mitgliedsstaaten. Einige europäische Länder befinden sich in einer katastrophalen Situation: Die durchschnittlichen Haushaltsausgaben in Griechenland liegen heute real 31 Prozent unter denen von 2009. 
  2. Für 2025 wird ein europäisches Wirtschaftswachstum von nur einem Prozent prognostiziert (2024 lag es bei 0,9 Prozent). Die Arbeitslosigkeit soll in der Eurozone auf 5,7 Prozent sinken, obwohl ein Großteil dieser Arbeitsplätze prekär und schlecht bezahlt ist und die meisten Löhne real weiter sinken. Im Gegensatz dazu wuchs das inflationsbereinigte BIP während des „Goldenen Zeitalters“ des europäischen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen 1950 und 1973 jährlich um 4,8 Prozent, und die Arbeitslosenquote lag im Durchschnitt bei 2,6 Prozent. Die aktuelle Inflation ist in den letzten Jahren gesunken und liegt in der Eurozone bei zwei Prozent (die Preise für Güter des täglichen Bedarfs, die während des Inflationsschubs in die Höhe getrieben wurden, sind nicht gesunken). 
  3. Europas Produktivitätswachstum lag bereits vor den Schocks in den Handelsbeziehungen und den internationalen Beziehungen, die durch Trumps Amtsantritt ausgelöst wurden, hinter dem Produktivitätswachstum anderer großer Volkswirtschaften wie den USA zurück. Europas Wirtschaft hat in den letzten Jahrzehnten von der Osterweiterung des EU-Blocks und der starken Nachfrage nach Exporten aus Asien und den USA profitiert. Doch mit dem Auslaufen des lang anhaltenden Booms in China und dem Ausbruch von Handelskriegen mit den USA bricht eine ernste Situation für Europa an. 
  4. Stagnierende Wirtschaft, sinkender Lebensstandard, zunehmende Verarmung breiterer Schichten der Arbeiter*innenklasse, Angriffe auf Wohlfahrt und soziale Sicherheit und massenhafte Arbeitsplatzverluste in Sektoren wie der Autoindustrie sind nur einige Beispiele für den unerbittlichen Krieg der europäischen Bosse gegen die Arbeiter*innenklasse. 
  5. Die nationale Frage bleibt in vielen Teilen Europas eine Bruchlinie für das kapitalistische System und kann in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation aufbrechen. Zusammenstöße im ZUsammenhang mit den Serb*innen im Norden Kosovas sind beispielsweise ein Symptom für die anhaltenden Spannungen zwischen Serbien und Kosova. 
  6. „Progressive“ oder „linke“ nationalistische Parteien wie Sinn Fein und die Schottische SNP haben bei den letzten Wahlen an Boden verloren. Auch die linken katalanischen nationalistischen Bewegungen haben sich gespalten. Dies ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass sie die Arbeit innerhalb der Grenzen des kapitalistischen Systems akzeptieren und die Arbeiter*innenklasse enttäuschen. Gleichzeitig ist es reaktionären, einwanderungsfeindlichen, populistischen Nationalist*innen in einigen Ländern gelungen, bis zu einem gewissen Grad in die politische Lücke zu stoßen. Die rechtspopulistische Reformpartei erreicht in Schottland rund zwanzig Prozent der Stimmen. Die Unterstützung für die rechtsnationalistische Partei Vlaams Belang in der belgischen Region Flandern ist leicht zurückgegangen, liegt aber immer noch bei etwa 23 Prozent.

EU und Eurozone

  1. Das Feuerwerk, mit dem die Erweiterung der EU und der Eurozone gefeiert wurde, ist längst vorbei. Bulgarien ist das letzte Land, das Anfang 2026 grünes Licht für den Beitritt zur Eurozone erhalten hat. Doch das Land ist eines der ärmsten in Europa und von politischen Spannungen geprägt. Die oppositionelle “pro-russische” Partei führt eine Kampagne gegen eine weitere EU-Integration. Die EU-Mitgliedschaft der Länder des westlichen Balkans ist nach wie vor in der Schwebe und befindet sich im Kandidat*innen-Stadium. Die Türkei wird seit 1999 hingehalten. Viele EU-Staaten scheuen sich davor, ärmere Länder aufzunehmen, in denen ethnische und nationale Spannungen herrschen, die früher oder später aufbrechen können. Andere EU-Staaten halten engere Beziehungen zu diesen Staaten für notwendig, um den Einfluss Russlands und Chinas auf dem Balkan zu brechen. Eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine zu einem unbestimmten Zeitpunkt wird von den europäischen Mächten in Aussicht gestellt. Dies würde jedoch erhebliche wirtschaftliche Subventionen Brüssels an Kiew nach sich ziehen, ganz abgesehen von den enormen militärischen und geopolitischen Auswirkungen. 
  2. Das Leben außerhalb der EU hat sich für die britische Wirtschaft nach dem Brexit nicht gerade rosiger gestaltet. Der Labour-Premierminister Starmer prahlte mit seinen „bahnbrechenden“ Handelsabkommen mit den USA, der EU und Indien. Die Trump-Regierung erhebt großzügig “nur” zehn Prozent höhere Zölle auf viele britische Exporte. Die Abkommen mit Indien und der EU werden das BIP des Vereinigten Königreichs bis 2040 nur um etwa 0,4 Prozent steigern. Um einen teilweisen Zugang zum EU-Binnenmarkt zu erhalten, musste das Vereinigte Königreich einen Teil der „Souveränität“ aufgeben, die es mit dem Brexit „gewonnen“ hatte, indem es sich nun an einige EU-Vorschriften hält. Die „offene, handelsorientierte“ Wirtschaft des Vereinigten Königreichs ist besonders anfällig für die Gegensätze zwischen seinen größten Handelspartnern, der EU, den USA und China, und für den Rückgang der Globalisierung. 
  3. Dieses traurige Bild trägt dazu bei, dass Rechtspopulist*innen in Europa, wie Orban in Ungarn und Meloni in Italien, von einem offenen Bruch mit der EU absehen, obwohl sie Brüssel immer noch sehr kritisch gegenüberstehen. Nichtsdestotrotz werden die grundlegenden Probleme des EU-Kapitalismus und die wachsende politische Polarisierung in einem EU-Land nach dem anderen zu unerträglichen Spannungen und Spaltungen innerhalb des Blocks führen und legen die Bedingungen für ein mögliches Zerbrechen zu einem gewissen Zeitpunkt in der Zukunft. 
  4. Die USA sind mit jährlichen Exporten im Wert von mehr als 500 Milliarden Dollar das bei weitem wichtigste Zielland für europäische Waren. Europäische Zentralbanker*innen warnen, dass die neuen Zölle sowohl die Inflation anheizen als auch den Welthandel grundlegend untergraben könnten. Die europäischen Staaten sehen sich daher mit größeren finanziellen Belastungen konfrontiert, während viele von ihnen mit wachsenden Defiziten und sinkenden Steuereinnahmen zu kämpfen haben, was zu politischen, klassenbezogenen und sozialen Umwälzungen führt. 
  5. Aber selbst wenn man Handelskriege und künftige Rezessionen außer Acht lässt, leidet die europäische Wirtschaft an chronischen, langfristigen Schwächen. Trotz seiner reichen Geschichte an wissenschaftlichen Durchbrüchen und Erfindungen ist Europa zu einer „Innovationswüste“ geworden. Kein einziges der 15 meistverkauften Elektrofahrzeuge stammt aus Europa. Laut dem Bericht der Europäischen Kommission über die Wettbewerbsfähigkeit der EU sind nur vier der fünfzig größten Technologieunternehmen der Welt aus Europa. Mario Draghi, der den Bericht vorstellte, warnte die EU: „Dies ist eine existenzielle Herausforderung“. 
  6. Der Rückgang der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zeigt sich deutlich im Rückstand von über dreißig Prozent des Pro-Kopf-BIP gegenüber den USA seit der Jahrhundertwende. Das Pro-Kopf-BIP in Deutschland ist nur 1500 Euro höher als in Mississippi, dem ärmsten Bundesstaat der USA. Nach Angaben des IWF geben US-Tech-Unternehmen mehr als doppelt so viel wie europäische Tech-Firmen für Forschung und Entwicklung aus. Während die Produktivität in der europäischen Technologiebranche seit 2005 stagniert, ist sie in den USA um vierzig Prozent gestiegen. Die Kluft ist auf dem Aktienmarkt deutlich zu erkennen: Die Bewertungen der US-Börsen haben sich seit 2005 mehr als verdreifacht, während sie in Europa nur um sechzig Prozent gestiegen sind. Die Ausgaben der europäischen Unternehmen und des öffentlichen Sektors für Forschung und Entwicklung liegen bei etwa zwei Prozent des BIP, was in etwa dem Stand von 2000 entspricht und weit hinter China und den USA liegt. Universitäten gelten als „Starthilfe“ für Innovation und Forschung, aber von den Spitzenuniversitäten, die von der Times Higher Education (London) untersucht wurden, ist nur eine EU-Einrichtung (in München) unter den ersten dreißig (und dann gleich auf Platz 30). 
  7. Nach Angaben der Europäischen Zentralbank ist die Zahl der Sektoren, in denen chinesische Firmen direkt mit Unternehmen aus der Eurozone konkurrieren, von etwa einem Viertel im Jahr 2002 auf heute zwei Fünftel angestiegen. Und chinesische Unternehmen sind in der Lage, europäische Unternehmen bei der Preisgestaltung aggressiv zu unterbieten, was zu einem erheblichen Rückgang des Anteils der EU am Welthandel beigetragen hat.

Deutschlands wirtschaftliche Misere

  1. In den letzten Jahrzehnten war Deutschland das wirtschaftliche Kraftzentrum Europas, doch seit langem leidet das Land unter einer wirtschaftlichen Flaute. Zusammen mit Österreich befindet sich Deutschland im dritten Jahr der Rezession. Der deutsche Kapitalismus steht vor einer Reihe wirtschaftlicher Herausforderungen, darunter eine alternde Gesellschaft und ein Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften.
  2. Der deutsche Automobilsektor, in dem rund 800.000 Menschen beschäftigt sind, ist ein wichtiger Faktor für die Wirtschaft des Landes. Die derzeitige Krise des Sektors zeigt sich jedoch beispielsweise an der Zurückhaltung bei Investitionen in Elektrofahrzeuge, die es anderen Unternehmen wie chinesischen Firmen und Tesla ermöglicht, die Branche zu dominieren. In den letzten Monaten haben Automobilhersteller wie VW und Ford Tausende von Entlassungen angekündigt (hauptsächlich „freiwilliges Ausscheiden und Kürzungen bei den Ausbildungsplätzen“), ebenso wie der Stahlhersteller ThyssenKrupp. In den letzten Jahren haben VW und BMW neue Fahrzeugwerke in den USA eröffnet, um ungehinderten Zugang zum US-Markt zu haben und, zumindest unter Biden, von staatlichen Subventionen zu profitieren. Gleichzeitig erwägen fast vierzig Prozent der Industrieunternehmen in Deutschland eine Verlagerung in andere Regionen, in denen Arbeits- und Energiekosten billiger sind. Die deutschen Kapitalist*innen fordern „grundlegende Strukturreformen“ (d.h. massive Angriffe auf die Löhne und die Arbeitsplatzbedingungen der deutschen Arbeiter*innen). Die Krankheit der deutschen Wirtschaft hat Auswirkungen auf ganz Europa, da sie historisch gesehen die Lokomotive des europäischen Kapitalismus ist. Dies gilt vor allem für Mittel- und Osteuropa, wo die deutschen Automobil- und Maschinenbauer de facto ihre „Fabrikhallen“ errichtet haben. 
  3. Angesichts des stagnierenden Wachstums, der nachlassenden Wettbewerbsfähigkeit Europas, der Spannungen und Auseinandersetzungen mit Washington und des immer geringer werdenden Anteils des EU-Blocks am weltweiten BIP fordern rechte Kommentator*innen ein Ende der „großzügigen Sozialsysteme“ in Europa. Sie verweisen auf Länder wie Frankreich, das im Jahr 2025 mit einem Haushaltsdefizit von sieben Prozent konfrontiert sein wird – mehr als das Doppelte der zulässigen Obergrenze für die Eurozone – und beklagen, dass es seine Sozialausgaben nicht mehr aufrechterhalten kann (Frankreich gibt derzeit mehr als dreißig Prozent des BIP für Sozialausgaben aus, andere europäische Staaten liegen nicht weit dahinter). Die Alternative zu Kürzungen ist aus Sicht der rechten Falken, dass Frankreich und andere europäische Länder mit einer Krise wie in Griechenland konfrontiert werden, da ihre Kreditkosten steigen. Mit anderen Worten muss ein großer Angriff auf die historischen sozialen Errungenschaften der Arbeiter*innenklasse in diesen Ländern gestartet werden. Da die deutschen Arbeiter*innen im Durchschnitt mehr als zwanzig Prozent weniger Stunden arbeiten als ihre US-amerikanischen Kolleg*innen, wollen die europäischen Bosse an der Schraube der Ausbeutung drehen. Doch all diese Maßnahmen werden ihrerseits große Klassenkämpfe auslösen. 

Krieg in der Ukraine

  1. Der andauernde blutige Krieg in der Ukraine und das Bestreben der europäischen Regierungen, „kriegsbereit“ zu sein, weckt in der breiten Masse der Bevölkerung die Angst vor neuen verheerenden Konflikten, besonders in einigen in der Nähe Russlands liegenden Ländern. 
  2. Der Krieg, der größte Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, der auf beiden Seiten Zehntausende von Menschenleben gekostet hat, geht in sein drittes blutiges Jahr und ein Ende ist nicht in Sicht. Doch die Trump-Administration steht für einen scharfen Bruch mit Bidens imperialistischer Politik gegenüber der Ukraine. Trump erkennt an, dass der Krieg gegen Russland nicht gewonnen werden kann, und er will auch die imperialistischen Ressourcen der USA stärker auf China ausrichten. Trump hofft auch, dass Moskau durch Verhandlungen über ein Ende des Krieges mit Putin aus der Umlaufbahn Chinas herausgelockt werden kann. 
  3. Trump versprach, den Krieg schnell zu beenden, was sich aber viel schwieriger als erwartet gestaltete. Er hat die Ukraine mit Gewalt zu den ersten Gesprächen mit Russland seit April 2022 gezwungen und die Beziehungen zwischen den USA und Russland wiederhergestellt. Auf dem Weg dorthin schloss Trump ein Abkommen mit Selenskyj, das die Übergabe riesiger natürlicher Ressourcen an die USA vorsieht (die EU hat ebenfalls ein Abkommen mit der Ukraine geschlossen, das die Plünderung natürlicher Ressourcen vorsieht). 
  4. Putin macht jedoch stetige Gebietsgewinne und hatte es nicht eilig, in Verhandlungen zur Beendigung des Krieges einzutreten. Putin traf sich am 14. August zu Gesprächen mit Trump. Zur großen Bestürzung von Selenskyj und den europäischen Mächten sprach Trump von „Gebietsaustausch“ in der Ukraine als Teil eines endgültigen Friedensabkommens. Dies ist lediglich die Anerkennung der Lage auf dem Schlachtfeld nach drei Jahren Krieg durch die US-Regierung. Russland hat eine große Dominanz gegenüber der Ukraine in Bezug auf die Truppenstärke und den Einsatz von Drohnen. Einem ukrainischen Militärkommandeur zufolge ist die ukrainische Armee mit einer „Kultur der Angst“, wachsendem Widerstand gegen Einberufungen und einer Demoralisierung der Truppen konfrontiert. Nachdem die Regierung von Selenskyj zu Beginn des Krieges breite Unterstützung genoss, steht sie nun vor einer Krise. Er ersetzte den beliebten Stabschef Zaluzhnyi, der ihn in den Umfragen mittlerweile überholt hat, durch eine engere Verbündete, Julia Svyrydenko. Auch die öffentliche Unterstützung für den Krieg schwindet, denn über 56 Prozent der Ukrainer*innen befürworten eine Verhandlungslösung. Es gibt starken Widerstand gegen die Senkung des Wehrpflichtalters und gegen Zwangsrekrutierungen, und mehr als die Hälfte der Bevölkerung sympathisiert mit Wehrdienstverweigerern. Ein Busfahrer*innenstreik im April deutet auf wachsende öffentliche Wut hin. Die Regierung sah sich im Juli auch mit Massenprotesten konfrontiert, nachdem sie versucht hatte, Antikorruptionsbehörden abzuschaffen, die gegen Personen aus dem Umfeld von Selenskyj ermittelten.
  5. Für Selenskyj ist eine Beendigung des Krieges unter den derzeitigen Bedingungen nicht vertretbar, da dies bedeutet, dass Russland etwa 15 Prozent des ukrainischen Territoriums behält und Selenskyjs zunehmend unpopuläre Regierung wahrscheinlich abgesetzt wird. Obwohl das ukrainische Militär einige viel beachtete Angriffe gegen Russland durchgeführt hat, darunter Drohnenangriffe tief in Russland, bei denen Bombenflugzeuge zerstört wurden, verläuft der Krieg im Allgemeinen zugunsten Russlands. Je länger der Konflikt andauert und je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Ukraine Gebietsverluste erleidet, desto schlechter werden die Bedingungen für einen möglichen Waffenstillstand für Selenskyj. 
  6. Irgendwann muss diese Phase des Krieges in der Ukraine zu Ende gehen, auch wenn sie sich noch monatelang hinziehen kann und enorme Kosten an Menschenleben, Material und Ressourcen verursacht. Aber die Abwesenheit von Krieg wird dem kapitalistischen Europa keinen allgemeinen Frieden und keine Sicherheit bringen. Die Ukraine wird de facto geteilt sein, und die von der Nato unterstützten ukrainischen Streitkräfte und das russische Militär werden sich in einer höchst brisanten Situation gegenüberstehen. Viele der europäischen Mächte wollen, dass die Ukraine in dieser Phase in einem Zermürbungskrieg weiter kämpft, um Russland zu schwächen. Sie befürchten, dass sich eine von den USA unterstützte Verhandlungslösung als katastrophal für die Ukraine und die geostrategischen Interessen der europäischen Mächte erweisen und Trump den Vorwand liefern wird, den US-Imperialismus weiter von Europa zu entfernen, während er versucht, Russland von China abzuwerben. Europa wird sich dann viel stärker gegen ein Russland zur Wehr setzen müssen, das nach dem Zusammenbruch und der Demütigung in den Jahren nach dem Stalinismus wirtschaftlich und militärisch viel stärker wieder aufgetaucht ist. 
  7. Die europäischen Mächte haben sich jahrzehntelang in hohem Maße auf die militärische Supermacht USA verlassen; all das Gerede über europäische Truppeneinsätze in der Ukraine und Keir Starmers „Koalition der Willigen“ ist bisher ins Leere gelaufen. Abgesehen von der Tatsache, dass die europäischen Nato-Mitgliedsländer mit der Entsendung von Truppen in die Ukraine für Putin eine „rote Linie“ überschreiten würden, was Konsequenzen hätte, würden die europäischen Mächte kaum über die Mittel und Ressourcen verfügen, um eine derart umfangreiche und potenziell unbefristete Mission durchzuführen, und sie würden sich im eigenen Land einem wachsenden Widerstand gegenübersehen. Die überstürzte Militarisierung und die massiven Rüstungsausgaben der europäischen Regierungen sind ein verzweifelter Versuch, ihre Abhängigkeit von der militärischen und technischen Unterstützung der USA abzuschwächen und die Kürzungen der Sozialhaushalte zu rechtfertigen. 
  8. Auch wenn die westeuropäischen Mächte wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland aus Propagandagründen die Gefahr eines direkten russischen Angriffs herbeireden, um Militärausgaben zu rechtfertigen, zeigt der Ukraine-Krieg doch, dass Konflikte und Kriege entlang der russisch-osteuropäischen Grenzen ausbrechen können. Die „eingefrorenen Konflikte“ in der Region können wieder „heiß“ werden, und das Konfliktfeld weitet sich gefährlich aus. Angesichts der bevorstehenden Wahlen in der Republik Moldau warnt die EU-freundliche Regierung eindringlich vor einer russischen Einmischung und der Entsendung weiterer russischer Truppen in die abtrünnige, pro-Moskau Region Transnistrien. 
  9. Ein militärisch selbstbewusstes und kampferprobtes Russland unter Führung eines rechtschauvinistischen Regimes auf der einen Seite und die rasche Militarisierung der europäischen kapitalistischen Staaten auf der anderen Seite in einer Zeit allgemeiner kapitalistischer Krisen und politischer Polarisierung sind ein Rezept für weitere militärische Spannungen, Antagonismen und bewaffnete Konflikte. Nur die organisierte und mobilisierte Arbeiter*innenklasse mit einem internationalistischen, unabhängigen Klassenprogramm, das sich gegen die Kriegstreiberei der kapitalistischen Regime auf allen Seiten wendet, kann diesen Prozess letztlich durchbrechen. 
  10. Die echten Ängste wachsender Teile der Massen vor endlosen Konflikten und Kriegen und sogar vor dem Einsatz von Atomwaffen – seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine gehörte zu Putins Säbelrasseln auch die Androhung des Einsatzes von „taktischen Atomwaffen mit geringer Reichweite“ – können in Europa Massenbewegungen gegen Krieg, Aufrüstung und schleichende Versuche zur Wiedereinführung der Wehrpflicht auslösen. Natürlich wird die herrschende Klasse versuchen, Unterstützung für die Wiederaufrüstung zu gewinnen, indem sie die „nationale Einheit“ beschwört, um „das Land zu verteidigen“ usw., was für eine gewisse Zeit Teile der Bevölkerung ansprechen kann. 

Gaza-Proteste

  1. Das barbarische Vorgehen des israelischen Staates in Gaza und die Komplizenschaft westlicher Regierungen mit Netanjahus genozidaler Politik haben bereits zu großen und anhaltenden Demonstrationen und Protesten in verschiedenen europäischen Ländern geführt. Diese Bewegungen radikalisieren Teile der Jugend, vor allem jene mit arabischem, muslimischem und anderem Migrationshintergrund, sowie Teile der breiteren Arbeiter*innenklasse und Teile der Mittelschichten. Während die Normalisierung der genozidalen Politik und Handlungen unter der Herrschaft der europäischen kapitalistischen Regierungen stattfindet, wächst der Massenwiderstand in Europa wieder. Westliche Regierungen, die Israel unterstützen, waren gezwungen, halbherzige Kritik an Netanjahus Kriegsverbrechen zu äußern, obwohl der Konflikt mit dem Iran es ihnen erlauben könnte, ihre dürftige Kritik vorübergehend fallen zu lassen.

Rechtspopulismus

  1. Das Versagen der Führungen der offiziellen Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung in ganz Europa, ein kämpferisches, kampagnenfähiges antikapitalistisches Programm anzubieten, das den Bedürfnissen der Arbeiter*innenklasse und der Armen in Zeiten sinkenden Lebensstandards gerecht wird, sowie die derzeitige zahlenmäßige Schwäche der revolutionären sozialistischen Alternative schaffen ein politisches Vakuum, in das die rechtspopulistischen und rechtsextremen nationalistischen Kräfte teilweise eindringen, vor allem bei Wahlen. In einigen Ländern, wie Österreich, Belgien, Italien und den Niederlanden, hat sich dies bereits seit einiger Zeit entwickelt. In anderen europäischen Ländern ist dies eine neuere Entwicklung. Teile der herrschenden Klassen kultivieren rechtspopulistische Bewegungen neben Nationalismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, „Anti-Wokismus“, Bigotterie gegen LGBTQ+ und Trans-Rechte sowie alle Formen reaktionärer Ideen, um die Arbeiter*innenklasse zu spalten und zu versuchen, ihre Unterstützung zu sichern.
  2. Bei den Wahlen in Europa gibt es für die populistische Rechte seit Trumps zweitem Amtsantritt eine gemischte Bilanz. Die politische Polarisierung bedeutet nicht, dass der größte Teil der Arbeiter*innenklasse nach rechts gerückt ist. Da die Trump-Administration bei Wahlen in Europa offen gleichgesinnte rechtspopulistische Kandidat*innen unterstützt, provoziert sie auch eine Gegenreaktion gegen MAGA-artige Figuren, die in europäischen Ländern ins Amt gebracht werden. Die Sorge der Massen, dass in Kanada und Australien Trump-freundliche Regierungen an die Macht kommen könnten, trug dazu bei, dass die Amtsinhaber wiedergewählt wurden, wenn auch ohne Begeisterung. Die Rechtspopulist*innen mussten bei den Wahlen in Rumänien Anfang des Jahres Rückschläge hinnehmen, was jedoch durch die Einmischung der Gerichte ermöglicht wurde.  Die bürgerlichen Gerichte in Frankreich haben beschlossen, Marine Le Pen mit einem Urteil zu bestrafen, das sie daran hindert, für ein Amt zu kandidieren. Sie schlossen Marine Le Pen von der Kandidatur (für das Präsidentenamt – Anm. d. Übers.) aus. Da die Zentrumsparteien des Kapitalismus – insbesondere die ehemaligen Sozialdemokrat*innen und die traditionellen konservativen Parteien – über keine breite politische Unterstützung und Legitimität verfügen, greifen jene Teile der herrschenden Klasse, die sich aus Eigeninteresse gegen die populistische Rechte wenden, auf die Gerichte und andere Institutionen des bürgerlichen Staates zurück. Die gleichen juristischen Manöver und autoritären Methoden, die heute gegen die populistische und extreme Rechte eingesetzt werden, können morgen gegen ein Wiedererstarken der Linken bei Wahlen eingesetzt werden. 
  3. Wie das CWI schon früher festgestellt hat, gibt es eine deutliche Hinwendung pro-kapitalistischer Regierungen aller Couleur zu autoritäreren Herrschaftsmethoden. Fast alle bürgerlichen Parteien haben sich in der letzten Zeit nach rechts bewegt und dabei teilweise die Rhetorik und Forderungen der populistischen Rechten gegen Migrant*innen oder die Rechte von Frauen und LGBTQ+ übernommen. Macron hat auf Dekrete zurückgegriffen, um Angriffe auf die Renten durchzusetzen und an der Macht zu bleiben. Verschiedene Regierungen in Europa haben auf die Proteste gegen den Klimawandel und die Gaza-Demonstrationen mit einer Reihe neuer repressiver Gesetze und mit Verboten des Rechts auf Protest, freie Meinungsäußerung und anderer demokratischer Rechte reagiert. Der Kampf um die Verteidigung hart erkämpfter demokratischer Rechte wird in der kommenden Zeit ein zentrales Thema sein, da die Regierungen in Europa und weltweit zu autoritäreren Formen der Herrschaft übergehen. Trumps Einsatz der Nationalgarde und der Marines gegen Demonstrant*innen in Los Angeles kann in Europa von kapitalistischen Staaten nachgeahmt werden. Diese Prozesse sind Ausdruck einer Neuausrichtung des kapitalistischen Staates, die der Verschärfung der Klassenverhältnisse entspricht.
  4. Bei den Europawahlen 2024 gab es in vielen Teilen der EU große Zugewinne für die populistische und nationalistische Rechte. Dies war jedoch nicht einheitlich, da rechte, migrant*innenfeindliche Parteien in Schweden, Finnland und Dänemark hinter den Erwartungen vieler Kommentator*innen zurückblieben und linke Parteien an Unterstützung gewannen. Die rechtsextreme Vox-Partei in Spanien hat in den Umfragen seit den Parlamentswahlen 2023 zugelegt und liegt bei 14 Prozent, während die PSOE-geführte Regierung, die den Bedürfnissen der Arbeiter*innen nicht gerecht wird, in diesem Jahr ein Rekordtief erreichte. Die migrant*innenfeindliche, rechtsgerichtete AfD in Deutschland wurde bei den Bundestagswahlen zweitgrößte Partei, nachdem sie bei den Landtagswahlen im vergangenen Jahr zugelegt hatte. Auf nationaler Ebene führte dies dazu, dass die CDU und die Sozialdemokrat*innen eine schwache Regierung mit weniger als 45 Prozent der Stimmen bildeten. In einigen Bundesländern sind instabile Koalitionen gebildet worden, um die AfD aus der Regierung herauszuhalten. Doch das allein wird den Vormarsch der extremen Rechten nicht aufhalten. Der Aufstieg der rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien hat zu unterschiedlichen Strategien der bürgerlichen Parteien im Umgang mit ihnen geführt. Während in Deutschland die traditionellen Parteien vorerst vor allem versuchen, die AfD aus Angst vor Instabilität und Massenprotesten von der Macht fernzuhalten, haben in anderen Ländern einige der traditionellen Parteien versucht, die extreme Rechte zu integrieren. In Österreich bildeten die ÖVP (Konservative), die SPÖ (Sozialdemokraten) und die neoliberale Neos-Partei im März schließlich eine Koalition, nachdem die rechte, einwanderungsfeindliche FPÖ (Freiheitliche Partei) bei den Parlamentswahlen die meisten Stimmen erhalten hatte. Dies geschah jedoch erst, nachdem die FPÖ die Koalitionsverhandlungen verlassen hatte und es vorzog, in der Opposition zu bleiben und die „alten“ „Establishment“-Parteien anzugreifen – eine Strategie, die der FPÖ in den jüngsten Meinungsumfragen einen Anstieg ihrer Unterstützung beschert hat. Die einwanderungsfeindliche und rechtsextreme Chega schnitt bei den Parlamentswahlen im Mai in Portugal gut ab und wurde zur größten Oppositionspartei, indem sie auf die Themen Einwanderung (etwa ein Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung sind ausländische Beschäftigte) und die Wohnungs- und Gesundheitskrise des Landes setzte. Chega erzielte die größten Gewinne in sozial schwachen Gebieten und ehemaligen Industriegebieten und wird sowohl innerhalb als auch außerhalb des Parlaments zunehmend konfrontativ.
  5.  In Polen hat der von der Trump-Regierung unterstützte Rechtsnationalist Karol Nawrocki die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen mit einem knappen Vorsprung gewonnen. Als Präsident kann Nawrocki ein Veto gegen Gesetze einlegen oder sie gerichtlich überprüfen lassen und damit die Ziele der EU-freundlichen Koalitionsregierung von Donald Tusk blockieren. Angesichts der wirtschaftlichen und geostrategischen Bedeutung Polens für den EU-Block wird dies die Lage für Brüssel erschweren. Nawrocki versprach, den Antrag der Ukraine auf Beitritt zur NATO zu blockieren. Obwohl die polnische Wirtschaft „in Schwung“ ist, sind die Ungleichgewichte in Polen unter den größten in Europa. Die weit verbreitete Enttäuschung über die neoliberale Politik von Premierminister Donald Tusk seit seiner Wahl im Jahr 2023 führte zu einer zunehmenden politischen Polarisierung. 
  6. Ebenso hat die Fortsetzung der prokapitalistischen Politik der britischen Labour-Regierung, die im Mai 2023 mit einem breiten, aber knappen „Erdrutschsieg“ gewählt wurde, den Weg für die deutlichen Gewinne der rechtspopulistischen Reform-Partei bei den Kommunalwahlen in Teilen Englands im Mai 2025 geebnet. Ein in Panik geratener Keir Starmer reagierte darauf, indem er einen Großteil der migrant*innenfeindlichen Rhetorik von Reform-Chef Nigel Farage wiederholte. Dass Starmer die Angriffe des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs auf die Rechte von Transsexuellen begrüßt, ist ein Hinweis darauf, wie die traditionellen Parteien der kapitalistischen Herrschaft die Spaltung vorantreiben und Vorurteile bedienen.
  7. Dies folgt dem Muster ehemaliger sozialdemokratischer und traditioneller konservativer Parteien, die einen Teil der Rhetorik der migrant*innenfeindlichen Rechten und sogar einen Teil ihrer Politik übernehmen, um die Herausforderung der populistischen Rechten abzuwehren. In vielen europäischen Ländern, insbesondere in Frankreich, verlieren die kapitalistischen Parteien der „rechten Mitte“ und der „linken Mitte“ an Boden und sind heute Minderheitsparteien. Sie sind nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft oder als stärkste Partei Regierungen zu bilden. Sie werden von großen Teilen der Bevölkerung verachtet und abgelehnt. Die politische Landschaft ist zersplittert und unbeständig. 
  8. Wie andere rechtspopulistische Politiker*innen in ganz Europa gibt der Millionär Farage nun vor, ein Freund der Arbeiter*innen zu sein. Er fordert die Verstaatlichung der angeschlagenen Stahlindustrie und behauptet, einen seit langem andauernden Streik der Stadtreinigung im Labour-geführten Stadtrat von Birmingham zu unterstützen. Reform fordert auch eine Rücknahme der höchst unpopulären Sozialkürzungen der Regierung. Diese Forderung stößt in einigen Schichten der Arbeiter*innenklasse auf Widerhall, auch bei Gewerkschafter*innen.
  9. Rechtsextreme Bewegungen kombinieren „Anti-Establishment“-Slogans mit „Kulturkampf“-Rhetorik. Marine Le Pen prangerte die EU auf einer europäischen rechtsextremen Kundgebung im Juni als „merkantiles, wokes, ultrakapitalistisches Imperium“ an. Dies ist nicht das erste Mal, dass die populistischen Nationalist*innen und die extreme Rechte opportunistisch einiges von der Rhetorik und Politik der Arbeiter*innenbewegung übernommen haben.  
  10. Wie das CWI bereits erklärt hat, sind die derzeitigen populistischen nationalistischen rechten Formationen nicht dasselbe wie die klassischen faschistischen Bewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa. Diese waren Massenbewegungen der wütenden und ruinierten Mittelschichten und des Lumpenproletariats, die von den herrschenden Klassen als Rammbock gegen die organisierte Arbeiter*innenbewegung eingesetzt wurden. Die faschistischen Regime in Italien, Deutschland und anderswo machten sich nach ihrer Machtübernahme daran, alle Elemente der Selbstorganisation der Arbeiter*innen, die Gewerkschaften und die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien zu zerschlagen, und kurz danach alle demokratischen Rechte. Dies ist in Europa derzeit nicht der Fall. Erstens, weil die soziale Basis für eine faschistische Massenbewegung nicht mehr in derselben Weise existiert wie in den 1920er und 1930er Jahren, da das Kleinbürgertum geschrumpft und die Arbeiter*innenklasse gewachsen ist. Dies schließt die Entstehung stärkerer faschistischer Kräfte in der Zukunft nicht aus, macht dies jedoch wesentlich schwieriger. Gleichzeitig gibt es innerhalb der Massen ein stärkeres demokratisches Bewusstsein, was ein Grund dafür ist, dass sich die populistische Rechte oft als Verfechterin der Demokratie und Gegnerin des „Establishments“ darstellt. Das bedeutet, dass das Wachstum einer echten faschistischen Bewegung eine massive Gegenreaktion hervorrufen wird, wie sie sich bereits in den Massenprotesten gegen die AfD in Deutschland Anfang dieses Jahres abzeichnete. Gleichzeitig ist und bleibt die kapitalistische Klasse zurückhaltend, wenn es darum geht, die politische Macht an Kräfte abzugeben, die sie weniger kontrollieren kann. Zweitens gibt es nicht mehr die gleiche „Bedrohung durch den Kommunismus”, mit der die europäischen herrschenden Klassen in den 20er und 30er Jahren konfrontiert waren. Die Existenz der Sowjetunion und der kommunistischen Massenparteien in vielen europäischen Ländern sowie die wiederholten Versuche der Arbeiter*innenklasse, in verschiedenen Ländern die Macht zu übernehmen – die aufgrund des Mangels an entwickelten Parteien vom Typ der Bolschewiki mit Wurzeln in der Arbeiter*innenklasse scheiterten –, bedeuteten, dass für den europäischen Kapitalismus damals viel mehr auf dem Spiel stand. 
  11. Wenn heute rechtspopulistische und nationalistische Persönlichkeiten an die Macht kommen, neigen sie dazu, ihre Rhetorik und Politik abzuschwächen, insbesondere was die Kritik an der EU und der NATO betrifft, wie im Fall von Meloni in Italien. Dies könnte sich jedoch ändern, wenn sie in die Krise geraten. Diese Parteien haben keine brauchbare Alternative zu den wichtigsten kapitalistischen Institutionen der EU und sind mit der Wirtschaft des Blocks verflochten. Meloni musste eine höhere Zahl von Einwanderer*innen akzeptieren, teilweise aufgrund der Forderungen der italienischen Bosse und des Arbeitsmarktes. Trotzdem wirken sie aus Sicht der traditionellen bürgerlichen Institutionen und Politik immer noch als „störend“. Die rechtsnationalistischen Regierungen in Ungarn und der Slowakei zum Beispiel liegen ständig im Streit mit Brüssel über die Innen- und Außenpolitik der EU. Innenpolitisch verfolgen die rechtspopulistischen Regierungsparteien eine reaktionäre und arbeiter*innenfeindliche Politik, solange sie diese vorantreiben können. Meloni organisierte erfolgreich einen Boykott des Referendums im Juni gegen eine schwache Opposition und linke Kampagne. Wäre das Referendum zustande gekommen, hätte es die Verabschiedung fortschrittlicher Gesetze zu den Rechten von Einwanderer*innen und zu Arbeitsrechten zur Folge gehabt. Die rechtspopulistischen Parteien in der Regierung versuchen in der Regel, die Medien mundtot zu machen und zu übernehmen, die politische Opposition zu unterdrücken und das Rechtssystem lahmzulegen.  
  12. Einige der rechtspopulistischen Parteien können im Zuge der Verschärfung der Krise des Kapitalismus in Europa und der Auseinandersetzungen der EU mit anderen imperialistischen Mächten noch weiter nach rechts rücken. Ein Austritt aus dem Euro und/oder der EU kann sowohl von rechten als auch von linken Regierungen in Zukunft nicht ausgeschlossen werden, da sie unter einem immensen wirtschaftlichen, klassenmäßigen und sozialen Druck stehen. Und rechtspopulistische Kräfte können unter dem Klassendruck auch interne Spaltungen und Abspaltungen erleben, insbesondere dort, wo sie eine arbeiter*innenfreundliche Politik vorgetäuscht haben. 
  13. Die Unterstützung für die Rechtspopulist*innen kann dramatisch schwanken, insbesondere wenn sie im Amt getestet werden. Bevor der islamfeindliche Geert Wilders die Koalitionsregierung in den Niederlanden zu Fall brachte – als er behauptete, sie würde seine extreme Anti-Einwanderungspolitik nicht umsetzen – wurde seine Partei in den Umfragen von dem oppositionellen grün-linken Bündnis überholt.
  14. Während Marxist*innen den Aufstieg der populistischen Rechten und ihre wachsende Wahlunterstützung in vielen europäischen Ländern beachten müssen und nicht versuchen dürfen, die Situation herunterzuspielen oder zu beschönigen, müssen wir eine ausgewogene Sichtweise haben. Hinter der Wahlunterstützung für die populistische Rechte stehen zwar zweifellos rassistische und migrant*innenfeindliche Gefühle, doch viele Menschen, die diese Parteien wählen, tun dies aus verzweifeltem Protest gegen die etablierten Parteien und den Verfall der sozialen Verhältnisse. Die populistischen und rechtsextremen Parteien genießen nicht die Unterstützung der großen Mehrheit der Arbeiter*innenklasse. Und die Zahl der Nichtwähler*innen nimmt in den meisten Ländern tendenziell zu (dies kann auch Personen einschließen, die nicht wahlberechtigt sind. Beispielsweise kann ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung in Wien nicht wählen, da sie keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen). Dies ist nicht einheitlich; bei der polarisierten Wahl in Deutschland im Februar stieg die Wahlbeteiligung von 76,3 Prozent auf 82,5 Prozent, und der Anteil der AfD verdoppelte sich auf 20,8 Prozent).  Wir müssen jedoch warnen, dass je länger die populistische Rechte in der Gesellschaft Fuß fassen kann, desto größer die Gefahr ist, dass rassistische und migrationsfeindliche Vorurteile in einer Schicht der Bevölkerung, einschließlich Teilen der Arbeiter*innenklasse, weiter verfestigt werden. Verständlicherweise kann die Unterstützung für ein gemeinsames Vorgehen gegen die extreme Rechte wachsen. Das CWI steht für ein gemeinsames Vorgehen der arbeitenden und armen Massen gegen Rassismus und all das Elend, das der Kapitalismus verursacht. Wir würden zwar nicht unter allen Umständen gegen ein Vorgehen gegen die extreme Rechte sein, an dem auch bürgerliche Kräfte beteiligt sind, aber wir warnen vor politischen Fronten und Koalitionen „aller Demokrat*innen” oder der Unterstützung des „kleineren Übels” als Methoden zur Schwächung der extremen Rechten. Solche Ansätze gehen nicht auf die wirtschaftlichen und sozialen Probleme ein und berücksichtigen auch nicht die berechtigte Wut auf kapitalistische Politiker*innen, die von der extremen Rechten ausgenutzt wird. Die Aufgabe der Arbeiter*innenbewegung besteht darin, einen unabhängigen Klassenstandpunkt und eine tragfähige sozialistische Alternative zu präsentieren, die die Unterstützung der populistischen Rechten sowohl in der Bevölkerung als auch bei Wahlen untergraben kann. 
  15. Obwohl die populistische, nationalistische Rechte oft faschistische Elemente enthält und keine klassische faschistische Massenbewegung ist, stellt sie dennoch eine echte Gefahr für Migrant*innen, Frauenrechte und Minderheiten und eine Herausforderung für die Einheit und den Zusammenhalt der Arbeiter*innenklasse dar. Die pogromartigen Angriffe gegen Migrant*innen in Ballymena in Nordirland im Juni sind eine Warnung für die Arbeiter*innenbewegung im gesamten Vereinigten Königreich und in Europa, auch wenn sie in relativ kleinem Rahmen stattfanden und die Besonderheiten einer Gesellschaft mit historischen sektiererischen Spaltungen berücksichtigt werden müssen. In Südirland haben die Populist*innen und die extreme Rechte in den letzten Jahren viele provokative Straßenveranstaltungen abgehalten, an denen teilweise Tausende teilgenommen haben. Obwohl Südirland Berichten zufolge eines der „reichsten Länder der Welt“ mit der „am besten ausgebildeten Bevölkerung“ ist, kann dies nicht über die großen Ungleichheiten in der Gesellschaft hinwegtäuschen. Viele Teile der Innenstädte und der ländlichen Gebiete fühlen sich vom Wirtschaftswachstum „abgehängt“. Wie auch anderswo auf dem Kontinent sind die aufeinander folgenden kapitalistischen Regierungen der Einwanderung nach Irland nicht mit angemessenen Ressourcen und Infrastruktur begegnet. Unter Ausnutzung der Wohnungskrise, der kaputten Infrastruktur und der hohen Lebenshaltungskosten hat die populistische Rechte ein Echo in den am meisten unterdrückten und entfremdeten Schichten der Gesellschaft gefunden.
  16. Ein Großteil der Führung der Gewerkschaftsbewegung in Europa, die oft mit den sozialdemokratischen Parteien verbunden ist, hat es versäumt oder war viel zu langsam, auf die rechtspopulistische Bedrohung zu reagieren. Um dies wirksam zu tun, müssten echte Arbeiter*innenparteien aufgebaut werden. Bestehende linke Formationen haben sich ebenfalls als weitgehend unzureichend erwiesen, da sie sich häufig auf eine kleinbürgerliche Unterstützung und wahltaktische Anliegen stützen und die Klassenpolitik häufig der Identitätspolitik unterordnen. Dies ermöglicht es der populistischen Rechten, die „liberale Linke“ so darzustellen, als sei sie mehr mit Identitätspolitik als mit den dringenden Bedürfnissen der Arbeiter*innenklasse beschäftigt. 
  17. In Irland haben die CWI-Anhänger*innen in den Gewerkschaften eine wichtige Rolle im Widerstand gegen die populistische Rechte gespielt. Die ersten von den Gewerkschaften unterstützten Proteste gegen die Rechtsextremist*innen in Dublin wurden von einem CWI-Genossen aus dem nationalen Vorstand der größten Gewerkschaft der Republik initiiert. Die Genoss*innen der größten nordirischen Gewerkschaft NIPSA haben bei den antirassistischen Gegenprotesten eine führende Rolle gespielt, indem sie disziplinierte Ordner*innendienste organisierten und Klassenslogans und -forderungen aufstellten. Sie waren maßgeblich an der Organisation von gewerkschaftlichen Gegendemonstrationen gegen die extreme Rechte im Juni dieses Jahres nach den Pogromen in Ballymena beteiligt. In Großbritannien spielten die CWI-Genoss*innen eine Schlüsselrolle bei vielen der Gegenproteste gegen die rechtsextremen Straßenprovokationen im Sommer 2024. Unsere Genoss*innen im Waltham Forest Trades Union Council im Osten Londons sorgten dafür, dass das Gremium bei der Mobilisierung von Tausenden von Menschen vor Ort, darunter viele muslimische Jugendliche, gegen eine drohende rechtsextreme Invasion in der Region, die nicht stattfand, eine führende Rolle spielte. Die Genossinnen und Genossen setzen sich in der Gewerkschaftsbewegung dafür ein, dass die Gewerkschaften systematisch einen Demonstrationsschutz durch Ordner*innendienste organisieren, und es gelang ihnen, dass diese Politik auf der nationalen Konferenz der vom rechten Flügel geführten Gewerkschaft der Einzelhandelsangestellten angenommen wurde.

Gewerkschaften und Arbeitskämpfe

  1. In den Jahren 2022 bis 2023/24 kam es in mehreren europäischen Ländern zu groß angelegten Streiks, Mobilisierungen und Kämpfen der Gewerkschaften wegen sinkender Reallöhne und der Krise bei den Lebenshaltungskosten. Einige Teile der Belegschaften erzielten Lohngewinne, bevor die Gewerkschaftsführung in vielen Fällen den Arbeitskampf beendete. Diese wichtigen Arbeitskämpfe machten eine neue Generation mit der Rolle der Gewerkschaften, kollektiven Maßnahmen und Instrumenten des Klassenkampfes, wie z. B. Massenstreikposten, vertraut. Durch diese Streiks ist eine Schicht neuer Gewerkschaftsaktivist*innen und -vertreter*innen aktiv geworden, obwohl es keinen großen Zustrom zu Gewerkschaftsaktivitäten gab und diese auch uneinheitlich sind und sich von Betrieb zu Betrieb unterscheiden. Einige der neuen Aktivist*innen sind ungeduldig und einige wenige haben sogar ultralinke Tendenzen, vor allem aus Frustration über die konservative Bürokratie der Gewerkschaften.  
  2. Obwohl die Anzahl der Streiks seit 2022 und 2023 im Allgemeinen zurückgegangen sind, gibt es in einer Reihe von europäischen Ländern bedeutende Arbeitskämpfe. Dabei kann es um unterschiedliche Themen gehen. Im Februar 2025 gingen in Griechenland mehr als eine Million Menschen in einem Generalstreik auf die Straße, um Gerechtigkeit für die Opfer des Zugunglücks von Tempe zu fordern und sich gegen Sparmaßnahmen und Privatisierungen, für Lohnerhöhungen und die Wiederherstellung von Tarifverhandlungen auszusprechen.
  3. In der EU liegt der durchschnittliche gewerkschaftliche Organisationsgrad bzw. die durchschnittliche Mitgliedschaft bei 23 Prozent der Erwerbstätigen. Zwischen den einzelnen Ländern gibt es erhebliche Unterschiede: In Schweden und Italien ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad höher (obwohl fast die Hälfte der 12,5 Millionen Mitglieder Rentner*innen sind) als im Vereinigten Königreich, Deutschland und Frankreich. Die Gründe für diese Unterschiede sind vielfältig, u. a. Traditionen am Arbeitsplatz und nationale Arbeitsgesetze, die Rolle der Gewerkschaften in der Sozial- und Gesundheitsfürsorge sowie der kämpferische Charakter der Gewerkschaftsführer*innen und der Rhythmus des Klassenkampfes. Die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften in der EU ist nach wie vor eher bei älteren Arbeiter*innen zu finden, auch wenn sie in vielen Fällen bei jüngeren Arbeiter*innen zunimmt. Im Vereinigten Königreich und in einigen anderen europäischen Ländern organisieren kleine und neuere Gewerkschaften einige der am stärksten ausgebeuteten Arbeitskräfte, darunter auch Migrant*innen in Sektoren wie dem Zustelldienst, die von den traditionellen Gewerkschaften übersehen wurden. In Spanien haben die Gewerkschaften CNT und CCOO durch die Organisierung des Prekariats neue Mitglieder gewonnen. Marxist*innen haben immer darauf hingewiesen, dass es nicht nur um die Gesamtzahl der Gewerkschaftsmitglieder geht, so wichtig diese auch ist, sondern andere Schlüsselfaktoren sind die Kampfbereitschaft der Gewerkschaften, die Autorität der Führung und die relative Stärke der Gewerkschaften in der Wirtschaft. Während des Generalstreiks im Mai 1968 war nur eine Minderheit der französischen Arbeiter*innen gewerkschaftlich organisiert, aber sie waren in der Lage, viel breitere Teile der Arbeiter*innenklasse zu mobilisieren.
  4. In dem Maße, wie sich die Krise des Kapitalismus in Europa vertieft, geraten die Gewerkschaftsführungen und -bürokratien immer stärker unter den Druck von Klassenkonflikten. Einige Gewerkschaftsführer*innen haben Zölle und andere protektionistische Maßnahmen im „nationalen Interesse“ begrüßt. In Großbritannien wurden die Gewerkschaftsführungen durch die Wut der Basis gezwungen, sich den Angriffen der Labour-Regierung auf Sozialleistungen und Behindertenrechte zu widersetzen. Zu einer landesweiten Demonstration zu diesen Themen wurde jedoch erst im Juni 2025 aufgerufen, also Monate nach Einführung der Labour-Angriffe. Selbst dann fand der Protest, an dem nur einige Tausend Menschen teilnahmen, unter dem Banner einer ausgegliederten Organisation und nicht des TUC (Gewerkschaftsdachverband, A.d.Ü.) statt. Offensichtlich wollten die Gewerkschaftsführer*innen die Labour-Regierung nicht allzu sehr in Verlegenheit bringen. In ähnlicher Weise werden die österreichischen Gewerkschaftsführer*innen trotz der Auswirkungen der dreijährigen Rezession auf die Familien der Arbeiter*innenklasse in altbewährter Weise versuchen, die Kämpfe jetzt, wo die Sozialdemokrat*innen Teil der neuen Koalitionsregierung sind, zurückzuhalten.
  5. Die klägliche Reaktion der meisten Gewerkschaftsführer*innen auf die Massaker im Gazastreifen, insbesondere derjenigen, deren Mitglieder in der Rüstungsindustrie und auf den Transportrouten zur IDF (Israel Defence Force, die israelische Armee – Anm. d. Übers.) tätig sind, ist ein weiteres Beispiel für den allgemeinen Charakter der Gewerkschaftsbürokratie. Es wurde weitgehend den militanten Gewerkschaftsmitgliedern in einer Handvoll Ländern wie Italien, Belgien und Frankreich überlassen, Maßnahmen zu ergreifen, um die Lieferungen an die IDF zu stoppen. Pro-palästinensische und Anti-Militarisierungs-Aktivist*innen nehmen die Dinge selbst in die Hand und führen direkte Aktionen in vielen Waffenfabriken und in den Häfen durch, von wo aus Waffen nach Israel geliefert werden (Marxist*innen unterstützen Kampagnen, die darauf abzielen, die Massaker an Palästinenser*innen zu stoppen, während sie geduldig erklären, dass es notwendig ist, einen Klassenappell an die Arbeiter*innenschaft zu richten usw.). In Großbritannien beschränken sich einige Gewerkschaftsführer*innen, die einen militanten Ansatz im Arbeitskampf gegen die Verschlechterung der Löhne und Arbeitsbedingungen verfolgen, auf gelegentliche Reden, in denen sie Netanjahus Vorgehen verurteilen, und bremsen alle praktischen Aktionen ihrer Mitglieder gegen den Gaza-Krieg. Wie Trotzki in den 1930er Jahren feststellte: „Es gibt ein gemeinsames Merkmal in der Entwicklung, oder besser gesagt in der Entartung der modernen Gewerkschaftsorganisationen in der ganzen Welt: Es ist ihre Annäherung an und ihr Zusammenwachsen mit der Staatsmacht“.
  6. Viele europäische Regierungen und Bosse sind entschlossen, ihre Angriffe auf den Lebensstandard zu verstärken, die Arbeitszeiten zu verlängern und die Arbeitsplätze und Dienstleistungen im öffentlichen Sektor stark zu kürzen. Die Gewerkschaftsführer*innen werden unter diesen Umständen auf eine harte Probe gestellt werden. Obwohl die Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz noch nicht in vollem Umfang absehbar sind, wird sie viele Sektoren und Arbeitsplätze zerstören und verlagern, was zum Verlust von Arbeitsplätzen führen wird, darunter auch einige Fachkräfte und qualifizierte Arbeitskräfte. KI wird zweifellos von den Bossen genutzt werden, um die Ausbeutung der Arbeiter*innen zu erhöhen.  
  7. Angesichts der Pläne der deutschen Kapitalist*innen, die Arbeitszeit zu verlängern, sehen wir einen Rückzieher der Gewerkschaftsführer*innen. Die IG-Metall-Vorsitzende hat einen Rückzug von der Kampagne für eine kürzere Wochenarbeitszeit signalisiert. Die Gewerkschaftsführer*innen bei VW haben längere Arbeitszeiten und einen freiwilligen Arbeitsplatzabbau von 35.000 Stellen mit dem Autokonzern vereinbart. Die Führung der wichtigsten Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes in Großbritannien, PCS, nimmt die Vorbereitung auf einen Arbeitskampf zurück, während die Labour-Regierung den Abbau von 10.000 Arbeitsplätzen für ihre Mitglieder plant.
  8. Im Grunde haben diese und andere Gewerkschaftsführungen kein Vertrauen in die Kampffähigkeit ihrer Mitglieder und sie akzeptieren grundsätzlich das Diktat der Marktwirtschaft. Wie bereits mehrfach gezeigt wurde, können die Gewerkschaftsführungen, selbst die des rechten Flügels, unter dem Druck der Massen sowohl im betrieblichen als auch im politischen Bereich zum Handeln gezwungen werden, während sie gleichzeitig versuchen, einen Weg zu finden, um Kämpfe zu vermeiden oder zu begrenzen. 
  9. Schon in den Anfangsjahren der Gewerkschaftsbewegung erkannten Marx und Engels an, dass sich Gewerkschaftsführer*innen der Politik der Klassenzusammenarbeit anpassen können und bestenfalls hoffen, mit den Unternehmen zu verhandeln, um günstigere Positionen innerhalb des kapitalistischen Systems zu erreichen. Marx und Engels wiesen aber auch darauf hin, dass die Gewerkschaften als wesentliche Organisationen der Arbeiter*innenklasse fungieren, die die Rechte der Arbeiter*innen verteidigen, und dass sie eine Arena für Debatten über Strategie und Taktik darstellen. Obwohl sie selbst keine revolutionären Organisationen sind, sind die Gewerkschaften eine potenzielle Schule für den revolutionären Kampf, wie Marx und Engels betonten, sowie für den alltäglichen Klassenkampf. 
  10. Zwar werden sich die Arbeiter*innen in der Regel an die traditionellen Gewerkschaftsstrukturen wenden, doch der starke Druck der Klassenkämpfe und die Veränderungen der Arbeitsstrukturen, wie die Zunahme prekärer Beschäftigung und der „Gig-Economy“, führen dazu, dass neue Gewerkschaftsformationen entstehen können, einschließlich Abspaltungen von etablierten Gewerkschaften. Kleinere Gewerkschaften, manchmal mit syndikalistischer Ausrichtung, sind in mehreren europäischen Ländern entstanden und organisieren oft die am stärksten ausgebeuteten eingewanderten Arbeitnehmer*innen. Und ältere Formationen können zu neuem Leben erwachen. Lokale Gewerkschaftsgrmien (Trades Councils) in Großbritannien, die früher manchmal kaum mehr als hohle Hüllen waren, haben in den letzten Jahren etwas an Größe und Einfluss gewonnen; bei künftigen Aufschwüngen von Klassenkämpfen können sie potenziell der Mittelpunkt lokaler Arbeiter*innenkämpfe und Selbstorganisation sein.
  11. Das CWI hat in mehreren europäischen Ländern wichtige Wurzeln und Positionen in den Gewerkschaften und ist dabei, diese Arbeit in anderen Ländern auszubauen. Wo es möglich ist, sollten wir uns bemühen, in den Gewerkschaften und Gewerkschaftsnetzwerken mitzuarbeiten und breitere linke Zusammenschlüsse zu initiieren, wie dem Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di in Deutschland und dem NSSN in Großbritannien. Es ist wichtig, dass wir ein konsistentes Programm des gewerkschaftlichen Widerstands gegen die Angriffe der Bosse vorlegen und dabei das gewerkschaftliche Bewusstsein, das Selbstbewusstsein, die Kampfbereitschaft usw. der Basis berücksichtigen. Das Versagen der Gewerkschaftsführer*innen in Deutschland, die Angriffe der Kapitalist*innen auf ihre Mitglieder zu stoppen, hat zu mehr Unterstützung für organisierten Widerstand in den Gewerkschaften geführt. Dieser Prozess wird sich auch in den Gewerkschaften anderer Länder entwickeln, da die Gewerkschaftsführer*innen durch die Intensivierung der Klassenkämpfe auf die Probe gestellt werden. Es handelt sich jedoch nicht um einen einheitlichen Prozess. Gegenwärtig ist die organisierte Opposition in vielen Fällen schwach oder nicht existent. In Frankreich, wo die politische Situation sehr polarisiert ist und ein tiefes Gefühl der Krise in der Gesellschaft herrscht, forderten die CWI-Genoss*innen einen dreitägigen Streik der Beschäftigten des öffentlichen und privaten Sektors, im Gegensatz zu dem unzureichenden eintägigen Streikaufruf der Gewerkschaftsbürokratie gegen Macrons Angriffe. Der Aufruf unserer französischen Genoss*innen stand auch im Gegensatz zu der ultralinken Forderung einiger linker Gruppen nach einem unbefristeten „Generalstreik“, und zwar auf eine plumpe Art und Weise, die dem aktuellen Bewusstseinsstand und der Bereitschaft der Arbeiter*innenklasse nicht Rechnung trägt.
  12. Marxist*innen müssen ihr Programm geduldig erläutern, um sich auf die bevorstehenden großen Kämpfe in den Betrieben und in der Klasse vorzubereiten. Und gewerkschaftsinterne Demokratie und Rechenschaftspflicht sind ebenfalls Schlüsselthemen, für die sich das CWI einsetzt. Jahrzehntelange geduldige Arbeit in der NIPSA in Nordirland, unter oft sehr schwierigen Bedingungen in einer sektiererisch gespaltenen Gesellschaft, hat in den letzten Jahren Früchte getragen. Der Slogan der jüngsten NIPSA-Konferenz – „Für die Einheit der Arbeiter*innen und eine sozialistische Wirtschaft.” – unterstrich unseren Einfluss in dieser wichtigen Gewerkschaft der katholischen und protestantischen Beschäftigten des öffentlichen Sektors.

Soziale Kämpfe

  1. Neben einer wahrscheinlichen Zunahme von Streiks und anderen Arbeitskampfmaßnahmen in den nächsten Monaten in ganz Europa sehen wir auch eine Zunahme der sozialen Massenkämpfe zu einer Vielzahl von Themen. Die Massenproteste in der Türkei gegen Erdogans Herrschaft Anfang des Jahres zogen Millionen von Arbeiter*innen und Jugendlichen an und schlossen Streiks ein. In Serbien breiteten sich die Studierendenproteste wegen der Todesfälle durch den Zusammenbruch der Infrastruktur im ganzen Land aus und weiteten sich auf soziale Probleme aus, an denen auch Teile der Arbeiter*innenklasse beteiligt waren.  
  2. Diese sozialen Proteste veranschaulichen, wie schnell sie zu einem Kanal für allgemeine Klassenbedürfnisse werden können. Die massiven Proteste in Griechenland während des Generalstreiks im Februar richteten sich gegen eine Zugkatastrophe, die mit Privatisierungen und dem Verfall der Infrastruktur zusammenhängt. Aber ohne eine entschlossene klassen- und sozialistische Führung, die die Massen mit einem klaren Programm für die Zukunft zusammenführt, neigen sie dazu, sich aufzulösen, und die herrschenden Eliten finden ihr Gleichgewicht wieder. 
  3. Dennoch können solche sozialen Bewegungen und das Erwachen der Jugend und von Teilen der Mittelschicht und der Arbeiter*innenklasse in Bezug auf andere Themen, wie den Aufstieg der extremen Rechten und die sich im Kapitalismus entfaltende Umweltkatastrophe, zur Entwicklung linker politischer Formationen beitragen. Die unverfrorene Förderung rassistischer, sexistischer, transphober und homophober Ideologie und Gewalt durch die populistische Rechte führt beispielsweise dazu, dass viele Jugendliche politisch erwachen und sich organisieren.

Neue linke Formationen und der Kampf um Massenarbeiter*innenparteien

  1. Die Wahlerfolge linker Parteien und Gruppierungen in Europa waren in der letzten Zeit uneinheitlich. Nach einer Periode sinkender Unterstützung konnte Die Linke in Deutschland bei der letzten Bundestagswahl große Zugewinne verzeichnen. Dies war vor allem eine Reaktion auf den Aufstieg der rechtsextremen AfD und auf eine neue, radikal klingende Führung der Linkspartei zurückzuführen. Die Linkspartei hat auch einen großen Zustrom neuer Mitglieder, vor allem junger Leute, und konnte ihre Mitgliederzahl innerhalb weniger Monate auf über 110.000 mehr als verdoppeln. Wie gut dies beibehalten und ausgebaut werden kann, wird letztlich von der Frage des Programms und der Ausrichtung auf die Arbeiter*innenklasse sowie von der Herangehensweise beim Eingehen von Koalitionen mit prokapitalistischen Parteien auf lokaler und regionaler Ebene abhängen. Im Gegensatz zu vielen anderen neuen linken Kräften auf internationaler Ebene hat die Linkspartei ein grundlegend sozialistisches Parteiprogramm, ihre derzeitigen Führer*innen sprechen von der Notwendigkeit des Kampfes, verwenden eine Pro-Arbeiter*innenklasse-Rhetorik und erwähnen den Sozialismus. Aber gleichzeitig sitzt die Linkspartei in zwei Bundesländern und einer Reihe von Städten in Regierungskoalitionen, wo sie den Kapitalismus verwaltet. Dieser Widerspruch ist nicht neu; er war der Grund für den langen Niedergang der Linkspartei, bis die Bedrohung durch die AfD die Partei wiederbelebte. Der Rückgang der Unterstützung wird sich wiederholen, wenn die Linkspartei ihren Kurs nicht ändert. In der ersten Runde der polnischen Präsidentschaftswahlen Anfang des Jahres trat mit Razem zum ersten Mal eine linke Partei bei einer solchen Wahl an und erhielt fast 953.000 Stimmen, vor allem von jüngeren Wähler*innen. Dieses Ergebnis deutete auf die Opposition gegen die Kandidat*innen der extremen Rechten und der neoliberalen „Mitte“ und auf die potenzielle Attraktivität einer sozialistischen Linken hin; ein positives Ergebnis, auf das es nun aufzubauen gilt.
  2. Andererseits hat der Linksblock (BE) in Portugal bei den Parlamentswahlen im Mai sein bisher schlechtestes Ergebnis erzielt. Er verlor vier seiner fünf Sitze im Parlament (2019 hatte der Linksblock 19 Sitze). Die Rechtsextremen lösten die sozialdemokratische PS als wichtigste Opposition zur konservativen Regierung ab. Der Linksblock sucht nun bei den kommenden Kommunalwahlen nach „Konvergenzen auf der Linken“, angefangen bei der PS, einer Partei, die seit Jahrzehnten eindeutig prokapitalistisch ist. Dabei handelt es sich nicht um eine „Einheitsfront“ gegen die extreme Rechte, sondern in Wirklichkeit um einen Ansatz des „kleineren Übels“, der kein klares Kampfprogramm sowohl gegen die extreme Rechte als auch gegen den Kapitalismus selbst enthält. Eine ähnliche “kleinere Übel”-Regierung gibt es in Österreich, die die sozialdemokratische SPÖ mit ihrem „linken“ Vorsitzenden Andreas Babler beinhaltet. Obwohl er mit einem reformistischen Programm für den Vorsitz kandidierte, steht Babler nun als Vizekanzler an der Spitze einer Politik, die gegen die Arbeiter*innenklasse und gegen Migrant*innen gerichtet ist. Die pro-SPÖ-Gewerkschaftsführer*innen spielen ihrerseits eine katastrophale Rolle, indem sie die Kürzungen der Regierung als Verbesserungen verkaufen, anstatt den Widerstand der Arbeiter*innenklasse zu organisieren. All dies geschieht unter dem Vorwand, die rechtsextreme FPÖ aus der Regierung fernzuhalten. Dieser Ansatz kann jedoch die FPÖ stärken, insbesondere wenn sie nicht an der Macht ist, es aber keine starke sozialistische Opposition gegen die Regierung gibt.
  3. Objektiv gesehen schreien die tiefe Krise des Kapitalismus, die Kriegstreiberei und die Normalisierung von Völkermord, Umweltzerstörung und der Aufstieg der populistischen Rechten nach dem Aufbau von Massenparteien der Arbeiter*innenklasse mit sozialistischen Programmen. Doch dieser Prozess hat sich nicht als einfach erwiesen. Das Versagen der verschiedenen linken Formationen, wie z. B. Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien, konsequent gegen den Kapitalismus und für ein sozialistisches Programm zu kämpfen, hat den Prozess zur Schaffung neuer Arbeiter*innenparteien erschwert.
  4. Am spektakulärsten zeigte sich dies im Fall von Syriza in Griechenland, die es versäumte, während ihrer Amtszeit ein radikales sozialistisches Programm voranzutreiben, um den Bedürfnissen der Arbeiter*innenklasse gerecht zu werden, und dann die Austeritätspolitik sofort akzeptierte, nachdem sie im Referendum 2015 mit 61 Prozent zu 39 Prozent abgelehnt worden war.
  5. Der Ansatz des CWI der doppelten Aufgabe – Aufbau unserer revolutionären Kräfte des Marxismus neben dem Wiederaufbau der Arbeiter*innenbewegung und neuer Parteien der Arbeiter*innenklasse mit einer Massenbasis – ist nach wie vor wesentlich. Aber zu jedem Zeitpunkt müssen wir die Aussichten für die Entwicklung neuer Parteien, die verfügbaren und zu diesem Schritt bereiten Kräfte sowie unsere Ressourcen und Prioritäten berücksichtigen. Über Jahre hinweg wurde in Großbritannien ständig darüber gesprochen, ob Jeremy Corbyn und einige andere unabhängige linke Abgeordnete im Begriff sind, eine neue Partei anzukündigen, aber der Prozess war quälend langsam und undurchsichtig.  Zum Teil spiegelte dies Corbyns mangelndes Selbstvertrauen nach seinem Ausschluss aus der Labour-Partei und der Säuberung des Großteils der letzten Überreste der „weichen“ Linken in der Labour-Partei wider, aber auch das Zögern oder den Unwillen, eine wirklich offene, demokratische und kämpferische Partei zu gründen. In der Zwischenzeit konnte die kleinbürgerliche Grüne Partei Wähler*innenstimmen gewinnen, indem sie sich nach links orientierte. Unter diesen Umständen war TUSC eine wichtige Plattform, um klare Schritte zum Aufbau einer echten Arbeiter*innenpartei mit sozialistischer Politik zu unternehmen. Im Juli brachten Mitglieder und Verbündete des CWI auf einer Konferenz der Gewerkschaft Unite erfolgreich einen Antrag ein, der die Gewerkschaft näher zu einem Austritt aus der Labour Party bringt. Im selben Monat organisierte das CWI-Mitglied Dave Nellist ein Online-Treffen mit dem Titel „Gewerkschafter*innen für eine neue Partei”, an dem über eintausend Personen teilnahmen. Diese Dynamik gipfelte am 24. Juli, als Corbyn und die Abgeordnete Zara Sultana die Gründung einer neuen „Partei” bekannt gaben. Innerhalb weniger Wochen meldeten sich über 700.000 Menschen an, was eine bedeutende Unterstützung für eine neue sozialistische Opposition der Arbeiter*innenklasse demonstriert.
  6. Das CWI muss alles in seiner Macht Stehende tun, um den Prozess der Gründung neuer Massenparteien zu unterstützen, und dafür eintreten, dass jede neue Partei demokratisch und offen für alle Tendenzen sein muss, sich an der Arbeiter*innenklasse orientiert und eine klare Klassenpolitik vertritt. In Großbritannien engagieren sich die Mitglieder des CWIs für Corbyns neue Initiative in diesem Sinne und setzen sich für eine Partei mit einer demokratischen föderalen Struktur und einer Ausrichtung auf die Arbeiter*innenklasse ein. In dieser Phase hat diese Art von Arbeit in den meisten unserer Sektionen weitgehend propagandistischen Charakter, bis sich wirkliche Kräfte herausbilden. Der Prozess zur Gründung neuer Massenparteien kann sich noch einige Zeit lang hinziehen und kompliziert sein.  In einigen Sektionen sind unsere Genoss*innen in der Lage, an „Etappen“ auf dem Weg zu neuen Massenparteien teilzunehmen, wie zum Beispiel die Arbeit der französischen Genoss*innen in Mélenchons La France Insoumise. 
  7. Wir müssen eine lineare oder mechanische Perspektive für die Entwicklung breiterer Arbeiter*innenparteien vermeiden. In einigen Fällen können bestehende Parteien beträchtlich wachsen, sowohl in der Mitgliedschaft als auch in der Wählerschaft. Ehemalige maoistische Parteien in Belgien und den Niederlanden haben in den letzten Jahren zugelegt,  obwohl dies im Falle der niederländischen Sozialistischen Partei mit einem dramatischen Verlust an Stimmen einherging – sie fiel von fast 16,6 Prozent der Stimmen im Jahr 2006 auf 3,15 Prozent im Jahr 2023, nachdem sie in lokale Koalitionsregierungen eingetreten war. Die Arbeiter*innenpartei der Türkei (TIP) hat zuletzt ebenfalls zugelegt, ebenso wie die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ). Das Wachstum der KPÖ auf Wahlebene basiert darauf, dass sie sich als unbestechliche Partei präsentiert, in Verbindung mit konsequenter lokaler Arbeit um Fragen wie Wohnen und der Tatsache, dass ihre politischen Funktionär*innen nur einen durchschnittlichen Arbeiter*innenlohn beziehen. Wie die belgische PvdA/PTB kombinieren sie dies mit einem „sozialarbeiterischen” Ansatz, bei dem sie oft Menschen auf individueller Ebene helfen, anstatt einen kollektiven Kampf zu organisieren. Wie lange die KPÖ solche Gewinne halten kann, ist eine andere Frage, wie der Aufstieg und anschließende Niedergang der niederländischen SP zeigt. Ein Übergangsprogramm und eine Arbeitsmethode, die die täglichen Kämpfe der Arbeiter*innen sowie wirtschaftliche, soziale und politische Forderungen mit dem Kampf für einen grundlegenden sozialistischen Wandel verbinden, sind entscheidend für einen erfolgreichen Aufbau. 
  8. Während die Entwicklung breiter Arbeiter*innenparteien im Allgemeinen ein Stadium des Massenbewusstseins eines erwachenden Proletariats darstellt, ist es auch möglich, dass in einigen Ländern revolutionäre Parteien, das CWI, in der kommenden Periode unabhängig voneinander erhebliche Kräfte aufbauen können. Dies würde dann die entscheidende Frage nach der Ausrichtung dieser revolutionären Kräfte auf breitere pro-Arbeiter*innen- und linke Parteien und die Einheitsfronttaktik usw. aufwerfen.
  9. Während wir uns mit den komplizierten Aufgaben der politischen Vertretung auseinandersetzen, müssen wir direkt an Jugendliche und Arbeiter*innen appellieren, sich unseren revolutionären sozialistischen Kräften anzuschließen, mit Kühnheit, Initiative und Elan.  Insbesondere kann das CWI die Jugend in den Massenbewegungen, an den Arbeitsplätzen und in den Gemeinden der Arbeiter*innenklasse durch einen mutigen Kampagnenansatz und mit Ideen erreichen, die einen Ausweg aus den Schrecken des Kapitalismus aufzeigen. Die Genossinnen und Genossen in England und Wales initiieren Schul- und Hochschulstreiks am „Tag X“ – dem Tag, an dem Trump Großbritannien besuchen wird -, die ein großes Echo finden könnten. An vielen Universitäten in ganz Europa finden ideologische Debatten und Aktivismus zu vielen Themen statt, von Gaza über den Klimawandel bis hin zu Kürzungen im Bildungsbereich. Viele Aktivist*innen der jüngsten Bewegungen haben die Unzulänglichkeit der kleinbürgerlichen Konzepte und Führungen erkannt und suchen nach anderen Erklärungen und Antworten auf Fragen zu Sexismus, Rassismus, Klimawandel, Krieg und sozialer Ungerechtigkeit. Ein klares marxistisches Profil und die Bereitschaft, mit anderen Kräften der Linken zu debattieren und zu streiten, werden unsere Kader schärfen – und wir können darüber auch neue Aktivist*innen, darunter auch junge Menschen, gewinnen.
  10. Der Charakter der gegenwärtigen kapitalistischen Krise in Europa, die untrennbar mit der weltweiten kapitalistischen Krise verbunden ist, sowie die Geschwindigkeit der Ereignisse und die Wendungen der Situation erfordern eine gewisse Zurückhaltung in Bezug auf verschiedene Aspekte der Perspektiven, während wir die wichtigsten Trends und die Richtung der Entwicklungen erkennen müssen. Aber wir können mit Sicherheit sagen, dass wir in eine besonders konvulsive und zerstörerische Phase des anhaltenden Todeskampfes des Kapitalismus eingetreten sind, mit tiefgreifenden Folgen in allen Bereichen. Dies rüttelt das Bewusstsein auf und führt dazu, dass Millionen das kapitalistische System in Frage stellen. Viele werden offen für eine sozialistische Alternative sein, insbesondere mit einer internationalistischen Perspektive und einem internationalistischen Programm. Die zentrale Aufgabe des CWI in Europa besteht darin, unsere Kräfte unter der Arbeiter*innenklasse und der Jugend dort aufzubauen, wo wir Sektionen und Gruppen haben, und darauf hinzuarbeiten, die Kräfte des Marxismus in weitere Länder der Region zu tragen.