
Zur politischen Situation in Ostdeutschland
Die Geschichte der Wahlen und Abstimmungen im Osten seit 1990 ist eine Geschichte des Scheiterns von Parteien. Häufig macht die Wut über die Zustände die Kreuze auf den Wahlzetteln in Ostdeutschland. Grundlegend bedeutet dies für sozialistische Kräfte: Jeder Schritt in Richtung Anpassung führt in den eigenen Untergang und hilft, den Weg für Organisationen der extremen Rechte freizumachen.
Von Steve Hollasky, Dresden
Bis Mitte der 1990er Jahre nahm die CDU neben der SPD bei Wahlen eine dominierende Stellung in Ostdeutschland ein. In Sachsen und Thüringen eroberten die Christdemokraten zu Beginn der 1990er Jahre sogar die absolute Mehrheit. In Sachsen behielt sie diese bis knapp vor die Jahrtausendwende.
Die CDU erhielt einen hohen Anteil ihrer Stimme von Arbeiter*innen und Menschen mit sehr geringem Einkommen. Der Stimmenanteil der CDU in Gegenden mit einem hohen Anteil von Arbeiter*innen wie Dresden-Gorbitz war zu Beginn der 1990er Jahre enorm, und das, obwohl die CDU keine Politik für diese Menschen machte. Gemessen an den hohen Zustimmungswerten zur CDU traf man jedoch nur selten Menschen, die erklärten, diese Partei gewählt zu haben.
Die Wahl der CDU entsprang häufig der Überzeugung, die CDU sei die kompetente Kraft in Sachen Kapitalismus. Daraus erklären sich die großen Wahlerfolge der Christdemokrat*innen zu Beginn der 1990er Jahre im Osten. Die revolutionäre Bewegung gegen den Stalinismus war gescheitert. Die neue kapitalistische Wirklichkeit wollte man von denen gestalten lassen, denen man es zutraute. Hinzu gesellten sich zahlreiche Illusionen in den Kapitalismus. Von all dem profitierte zumindest zeitweise die CDU.
Dabei hätte die Ost-CDU lange vorher im Grunde für viele ihrer Unterstützer*innen unwählbar sein müssen: Der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf erklärte die hohe Arbeitslosigkeit im Osten gern mit dem großen Drang von Frauen, arbeiten gehen zu wollen. Die Wahrheit war eine andere: Industriell waren die 1990er Jahre ein Kahlschlag im Osten und Verarmung wurde zum Massenphänomen.
Ende der 1990er Jahre zeigte sich der Widerspruch zwischen der Politik der CDU und den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung auch in Ostdeutschland mit sinkenden Wahlerfolgen der Christdemokrat*innen. Damals schmolz deren Stimmenanteil immer weiter zusammen.
Die lange sich erhaltenden großen Zuspruchsraten der CDU dürften nicht zuletzt auch in der anhaltenden Wut über die Politik der SED bis 1989 zu suchen sein. Diese diskreditierte auf lange Sicht linke Politikangebote. Zudem wusste der aus dem Westen geholte sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf Unzufriedenheit abzufedern: Seine Frau ließ sich mit Beschwerdebriefen eindecken und fand in ihren Antworten wohlwollende Worte, die an der realen Situation nicht das Geringste änderten, aber für Nestwärme sorgten.
Der Einbruch der CDU-Stimmen in Sachsen fiel in auffälliger Weise mit den von Biedenkopf produzierten Skandalen zusammen: So ließ der Ministerpräsident Mitarbeiter*innen von Abgeordneten für das Büro seiner sich als „Landesmutter“ aufführenden Gattin arbeiten. Die in der Presse geäußerte Selbstverständlichkeit dieses Vorgehens und die enormen angefallenen Kosten ließen Biedenkopfs Stern sinken: Gerade die Lehren mit der SED hatte Machtmissbrauch und Korruption zu unverzeihlichem Verhalten werden lassen.
Stimmungsumschwung zur Jahrhundertwende
Das allein klärt den Fall der CDU nur unzureichend. Denn auch in Thüringen brachen die Zustimmungsraten für die Christdemokrat*innen zur Jahrhundertwende ein.
Immer weniger verfing die bloße Propaganda, nach der die sozialen Härten des Vereinigungsprozesses allein in „40 Jahren SED-Misswirtschaft“ zu suchen seien. Die Wut über die ausbleibende Angleichung zwischen den Lebensstandards in Ost und West, das Gefühl nach wie vor „Bürger*innen zweiter Klasse“ zu sein, ließ um die Jahrhundertwende herum gerade jene Parteien, die im Osten bislang die meisten Stimmen erhalten hatten, im Zuspruch der Wähler*innen einbrechen.
In Sachsen und Thüringen erwischte diese Entwicklung die bis dahin bequem allein regierende Union. In Brandenburg und Sachsen-Anhalt traf es die SPD. Dabei profitierte jeweils nur in sehr geringem Maße die jeweils andere Partei von dieser Stimmung. Weder wurden die CDU- in SPD-Stimmen verwandelt, noch war dieser Trend andersherum erkennbar.
In Sachsen-Anhalt gestaltete sich das Rennen um Platz eins der Parteienliste zwischen SPD und CDU wechselhaft. Schon 1998 lag die SPD vor der CDU, aber ohne einen wirklich großen Wahlsieg vorweisen zu können. Vier Jahre später, die Enttäuschung über die rot-grüne Bundesregierung war weithin spürbar, brach der Stimmanteil der SPD ein und sollte sich durch die Auswirkungen der Agenda 2010, des umfassendsten Abbaus sozialer Leistungen in der Geschichte der Bundesrepublik, nie wieder erholen. Im Jahr 2004 gab es gegen die Kürzungen der Sozialleistungen durch die SPD-geführte Bundesregierung im Osten Massenproteste, und gerade die sachsen-anhaltinische Landeshauptstadt Magdeburg war ein Hotspot dieser Massendemonstrationen.
Auch die Grünen sammelten damals nur wenige Punkte. Dafür begannen Wähler*innen verstärkt zu „experimentieren“. Die Wut war derart angewachsen, dass alle Parteien, die als Parteien von „denen da oben“ angesehen wurden, bei Wahlen Federn ließen. Zumindest gelang es ihnen nicht, zusätzliche Stimmen zu gewinnen und von der Schwäche anderer zu profitieren. Erstmals erzielten klar rechtsextreme Parteien wie die DVU in Sachsen-Anhalt Wahlerfolge.
Ausgerechnet die Deutsche Volksunion des rechtsextremen Verlegers Frey holte 1998 in Sachsen-Anhalt aus dem Stand 12,9 Prozent. Schon damals mobilisierte die DVU mit dem Geschwafel von „Überfremdung“ Stimmen, dabei war der Anteil von Migrant*innen in Sachsen-Anhalt verschwindend gering.
Interessant bei der Wahl 1998 war das sehr hohe Splitting von Stimmen zwischen DVU und PDS. Die Kombination Zweitstimme DVU und Erststimme PDS trat häufiger auf als jede andere Form des Stimmensplittings und war vor allem eine Absage an die „Etablierten“, an die „die da oben“. Wir werden sehen, dass die populistische und extreme Rechte gelernt hat, diese Tatsache strategisch zu nutzen, indem sie sich in ihrer Propaganda als Schreck des Establishments darstellt. Anders als jene Partei, die um die Jahrhundertwende zunächst am stärksten von dem um sich greifenden Misstrauen gegen CDU und SPD profitierte: Kaum, dass die Partei des demokratischen Sozialismus (PDS), eine der Vorläuferparteien der heutigen Linken Wahlzuspruch erlebte, schielte sie in Richtung der Regierungsbänke. Und tat damit das – so viel sei vorweggenommen -, was sie im Blick ihrer zeitweiligen Unterstützer*innen vollends diskreditieren musste.
Verpasste Chance: Die Linke
Es fällt schwer, das komplette Versagen der Linkspartei in den Jahren seit ihrer Gründung darzustellen. Um die verspielte Chance zu verstehen, lohnt es sich, einige Jahre weiter zurückzugehen: Die PDS erfuhr nach dem Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nur wenig Unterstützung. Sich zur PDS und ihrer damaligen Jugendorganisation „AG Junge GenossInnen“ zu bekennen, brauchte vor allem viel Mut, war die PDS doch aufgrund ihrer Vorbelastung als Nachfolgepartei der SED weithin verhasst. Das hieß jedoch nicht, dass die PDS nicht in der Lage gewesen wäre, gerade auch Arbeiter*innen für sich zu gewinnen. Der Einsatz der PDS beim Streik der Kalikumpel in Bischofferode, Anfang der 1990er Jahre, führte zu einem drastischen Anwachsen ihres Ansehens vor Ort. Der Betriebsratsvorsitzende Gerhard Jüttemann kandidierte später für die PDS und wurde in den Bundestag gewählt.
Die wachsende Verbitterung über die Politik der CDU, und die daraus folgende Armut und Perspektivlosigkeit, trieb der PDS immer mehr Stimmen zu, oftmals ohne, dass sie selbst allzu viel dafür tun musste. Die Stimme für die PDS war häufig genug eine Stimme gegen die CDU und schnell auch gegen die SPD, also gegen „die da oben“.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegung wundert es wenig, dass auch die SPD nicht von der Anti-CDU-Stimmung profitierte. Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in Ostdeutschland interessanterweise noch vor Gründung der Partei Die Linke – beziehungsweise dem gemeinsamen Wahlantritt von Linkspartei.PDS und WASG zur Bundestagswahl 2005 – und nur wenige Jahre nachdem die PDS 2002 nur vier Prozent erhielt und nur zwei direkt gewählt Abgeordnete in den Bundestag einzogen. In Sachsen erhielt die PDS 2004 23,6 Prozent; in Sachsen-Anhalt konnte sie 2006 knapp ein Viertel der Stimmen auf sich vereinen.
In den anderen ostdeutschen Bundesländern sah es nicht anders aus. Die damals greifbare Enttäuschung über die aus SPD und Bündnisgrünen zusammengesetzte Regierung, die nicht nur für die erste Kriegsbeteiligung Deutschlands nach 1945, sondern unter anderem mit der Einführung des Arbeitslosengelds II, des sogenannten „Hartz IV“, auch für den umfassendsten Sozialabbau nach 1949 verantwortlich zeichnete, schlug sich unter anderem hier nieder. „Hartz IV“ bedeutete im Vergleich zu den bis 2004 geltenden Hilfen für Arbeitslose eine deutliche Verschlechterung der Unterstützung.
Auffällig ist hierbei vor allem, dass es weder der PDS noch der Linken gelang, diesen enormen Zuspruch bei Wahlen in praktische Unterstützung und Beteiligung der Bevölkerung umzuwandeln. Verankerung in Betrieben gab es kaum und auch in Stadtteilen war sie – trotz im Vergleich zu heute stärkerer Parteistrukturen – begrenzt, was vorrangig mit der vollkommen einseitigen Ausrichtung auf Parlamentsarbeit in Verbindung gebracht werden muss. Selbst, wenn Die Linke einmal gute Initiativen ergriff, erfuhr kaum jemand außerhalb der Mauern der Kommunal- und Landesparlamente von diesen Anliegen. Die Linke und vor ihr die PDS formulierte Anträge brachte sie in die Debatte ein, sie wurden abgelehnt und zu den Akten gelegt.
Als weitaus zerstörerischer erwies sich hingegen die auf SPD und Grüne ausgerichtete Politik der Linken. In einem Gespräch mit der damaligen Parteivorsitzenden Katja Kipping bezeichnete sie diese Politik der Dresdner Ortsgruppe der SAV (Vorgängerorganisation der Sol) gegenüber als den Versuch, diese Parteien „in die Pflicht zu nehmen“. Dabei nahm selbstverständlich weniger Die Linke diese beiden Parteien, als mehr Bündnisgrüne und Sozialdemokrat*innen Die Linke in die Pflicht, eine pro-kapitalistische Politik umzusetzen. Häufig zeigten sich ganze Parteigliederungen unwillig, überhaupt Aktionen zu planen, ohne zuvor SPD und Bündnisgrünen um deren Bewertung und Teilnahme zu ersuchen. Wo Die Linke in die Regierung kam, stürzte sie in der Gunst der Wähler*innen teils dramatisch, vor allem aber dauerhaft ab.
Wovor wir in der Vergangenheit immer wieder warnten, hat sich als zutreffend erwiesen: Wenn Die Linke die in sie bestehenden Hoffnungen enttäuschen sollte – und das tat sie, weil ihr die Zusammenarbeit mit SPD und Grünen wichtiger als sozialistische Politik war – dann droht sie zu scheitern. Nun steht sie genau vor dieser Situation, obwohl objektiv die Voraussetzungen für große Erfolge beim Aufbau einer sozialistischen Partei gegeben wären: Der Kapitalismus durchlebt die tiefste Krise seit 1945 und Potenzial für eine solche Partei besteht innerhalb der Bevölkerung. Erinnert sei nur an die Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung vom Mai 2022, in der 18 Prozent angaben, sie könnten sich vorstellen, Die Linke zu wählen. Gerade bei Menschen mit niedrigem Einkommen war die Partei sehr angesehen. Zugleich forderten die Befragten weniger Zerstrittenheit und viele auch mehr Sozialismus.
Beides konnte Die Linke aus ganz ähnlichen Gründen nicht bieten. Die Linke hatte sich über Jahre geweigert, grundlegende Themen wie eben Regierungsbeteiligung oder sozialistische Praxis in der Politik zu diskutieren und dort Streitpunkte zu klären. Das half all denen, die die Partei noch mehr in die tödliche Umarmung von Rot-Grün führen wollten und verhinderte, dass Die Linke klar zum Ausdruck bringen konnte, was sozialistische Politik ist.
Es gibt kaum Hinweise darauf, dass der Niedergang der Partei umgekehrt würde. Die über Zehntausend Neueintritte seit der Abspaltung von Sahra Wagenknecht und ihren Unterstützer*innen sind bisher kaum spürbar und die neuen Vorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken sprechen zwar viel von Neuanfang, sind aber nicht bereit, einen wirklichen politischen Kurswechsel durchzusetzen.
Protest- oder Lagerpartei? Die AfD
Die enorme Schwäche der Partei Die Linke, ihr unübersehbares Versagen, machte den Weg für die AfD frei. Das mag zunächst eigenartig wirken, ist die 2013 ins Leben gerufene „Alternative für Deutschland“ auf der politischen Spannbreite doch rechts von der CDU/CSU angesiedelt und ihr Aufstieg schon deshalb zweifelsohne nicht allein aus dem Versagen der Linkspartei erklärbar. Der enorme Zuspruch für die AfD zumindest – und nicht selten allein, wie noch zu zeigen sein wird – auf der Wahlebene hat ihre Ursache jedoch auch in Verhalten und Politik der Linken.
Der Drang der Linken an die Regierungsbänke, ja ihre Bereitschaft selbst mit der CDU koalieren zu wollen, diskreditierte sie in den Augen vieler ostdeutscher Wähler*innen und ließ sie zu einer „von denen da oben“ werden. Politiker*innen der Linken drückten die grünen und pseudo-roten SPD-Hände. Wie anders konnte das interpretiert werden als ein sich Gemeinmachen mit „denen da oben“, die „denen da unten“ ständig den Gürtel enger um die Hüften schnallten?
Auf einer von der Stadt Dresden veranstalteten Demonstration im Januar 2015, die sich eigentlich gegen „Pegida“ richten sollte, politisch aber so aussagefrei blieb, dass auch Anhänger*innen des rassistischen Bündnisses zahlreich erschienen, klagte einer der anwesenden „Patrioten“, der – was in diesem Fall glaubwürdig wirkte – früher PDS und Die Linke gewählt hatte, über die Bereitschaft dieser Partei sich allen anzupassen, wenn man nur in der Regierung sitzen dürfe. Nach seiner Auskunft treibe ihn das auf die Straße und zu Pegida.
Wenn es „die da oben“ sind, die ich ablehne, dann lehne ich auch jene ab, die mit „denen da oben“ gemeinsame Sache machen und bin sehr wohl bereit, diejenigen zu wählen, die ein Ärgernis für „die da oben“ sind. „Willst Du, dass die sich ärgern, dann musst Du die wählen“, fasste es eine offenkundige Wählerin der AfD im Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen einmal zusammen.
Darin drückt sich vieles zugleich aus: Die Hoffnung darauf, dass irgendeine Partei die soziale Situation verbessern könnte, haben viele Betroffene von sozialen Einschnitten scheinbar längst aufgegeben. Und ebendiese Menschen unterscheiden einerseits die AfD und andererseits „die anderen“. Wobei zu „den anderen“ auch Die Linke zählt.
Insofern drückt die Wahl der AfD vielfach Wut auf „die anderen“ und vielleicht auch etwas Hoffnung aus. Dass die AfD in manchem – meist ländlichen – Wahlkreisen in den fünf ostdeutschen Ländern bei der letzten Bundestagswahl 2021 mehr als fünfzig Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte, dass ihr Stimmanteil im Osten bei insgesamt bei 18 bis 24 Prozent, verglichen mit bundesweit 10,3, lag und sie von ihren 16 Direktmandaten kein einziges im Westen erobern konnte, sagt viel über diese ostdeutsche Mischung aus Hoffnung, Wut und Alternativlosigkeit. Eine Mischung, die zweifelsohne längst im Westen angekommen, aber im Osten deutlich stärker ist.
Die Hoffnung vieler Ostdeutscher, die AfD möge es „denen da oben“ zeigen und eine spezifisch ostdeutsche Stimme sein, wird durch die Personalauswahl der Rechtspopulist*innen längst konterkariert. Björn Höcke, der Landesvorsitzende von Thüringen, ebenso wie Alexander Gauland, der lange Zeit an der Spitze der brandenburgischen AfD stand, sind „Westimporte“ und in der Führungsriege der AfD – auch der im Osten – muss man die gern in rechtspopulistischen Reden beschworenen „kleinen Leute“ mit der Lupe suchen.
Zugleich ist der immer wieder zu beobachtende Schulterschluss von „Querdenkenden“, den dauerdemonstrierenden „Pegida“, rechten Bürgerwehren und allerlei Gruppen und Gruppierungen einigermaßen erschreckend. Dennoch darf das immer weiter geknüpfte AfD-Netzwerk nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Unterstützung für die Rechtspopulist*innen oftmals im bloßen Ankreuzen auf dem Wahlzettel erschöpft. Reine AfD-Mobilisierungen bleiben auch in Dresden meistens eher klein. Will die AfD Erfolge im Bewegen von Menschen haben, ist sie häufig auf Gruppierungen der extremen Rechten angewiesen. Nicht zuletzt daraus erklärt sich die stetige Netzwerkarbeit der Partei. Trotzdem darf man die Augen nicht vor dem schlichten Fakt verschließen, dass sich mehr und mehr auch ein festes AfD-Lager herausbildet, das die Partei zunehmend aus Überzeugung wählt und schwerer von ihr wegzubrechen sein wird.
Aber das wird für einen Großteil der AfD-Wähler*innen nicht unmöglich sein, denn sie wählen die AfD nicht aus einer ideologischen Überzeugung, wenn bei einem Teil sicher auch migrationsfeindliche Einstellungen ausgeprägt sind. Durch Erfahrungen mit Klassenkämpfen, die gemeinsam mit migrantischen Kolleg*innen geführt werden, und durch ein überzeugendes, kämpferisches Angebot in Form einer sozialistischen Arbeiter*innenpartei werden auch solche AfD-Wähler*innen zurückgewonnen werden können.
Beeindruckend bleibt der Umstand, dass es der AfD gelingt, eine Wahlunterstützung im Osten zu erreichen, die bei teilweise mehr als einem Drittel der Wahlberechtigten liegt, obwohl die AfD keinerlei Lösung für die sozialen Probleme im Osten anzubieten hat. Dennoch geht sie vielen als „Protestpartei Ost“ durch. Die scheinbare Gesetzmäßigkeit, nach der die Zustimmung für eine Partei rechts von der CDU umgekehrt proportional zu ihren extremer werdenden Aussagen sinkt, hat die AfD einstweilen gebrochen. Je extremer, desto besser, so scheint es. Auch das ein Beleg dafür, dass es die Situation im Osten der AfD erlaubt, allein mit wüstem Gewetter Wähler*innenstimmen einzusammeln.
Keine Alternative: BSW
Mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht tritt nun eine neue Partei auf, die in Ostdeutschland auf Anhieb zweistellige Werte bei den Europa- und Landtagswahlen erzielen konnte. Das Versprechen, der AfD in größerem Maße Stimmen wegzunehmen, konnte das BSW bisher jedoch nicht erfüllen – trotz aller migrationsfeindlichen Rhetorik von Sahra Wagenknecht. Hier scheint sich zu bestätigen, dass Wähler*innen sich eher für das Original als die Kopie entscheiden. Entscheidend für den höheren Zuspruch im Osten ist wahrscheinlich der Nimbus einer Anti-Establishment-Kraft und die Haltung gegen eine Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland. Hinzu kommt, dass das BSW soziale Missstände thematisiert und mit einer scharfen Kritik an der Regierungspolitik verbindet. Dass es dabei nicht mal den Anspruch hat, konsequent Arbeiter*inneninteressen zu vertreten, sondern die Interessen von Unternehmen und Lohnabhängigen versöhnen will, ist ein Widerspruch, der die Wähler*innen im Osten einstweilen nicht abschrecken dürfte. Viel bedeutender sind zwei andere Dinge: Das BSW war bisher für Kürzungen nicht mitverantwortlich. Das war sicher ein Faktor für die Wahlerfolge bei den ostdeutschen Landtagswahlen im September 2024. Eine Eintrittswelle ist aber auch im Osten – zumal vonseiten der Arbeiter*innenklasse – kaum zu erwarten und ist auch von der Parteiführung nicht gewollt, die ein zentralistisches Konzept der Stellvertreter*innenpolitik verfolgt. Ob bzw. wie schnell die Koalitionsbeteiligung, in Thüringen sogar mit der CDU, zu einer Diskreditierung des BSW führen wird, wird sich zeigen. Es spricht jedoch viel dafür, dass das BSW diese Entwicklung schneller durchlaufen wird, als es PDS/Die Linke tat. Alles, was etabliert ist oder danach zu riechen scheint, hat es im Osten schwer.
Klassenkämpferische Alternative
Entscheidend für eine politische Alternative der Arbeiter*innenklasse gerade – aber längst nicht allein – im Osten muss der Verzicht auf Verbindungen zum Establishment sein! Zudem muss sich eine solche Kraft dringend jeden Skandal verbieten: Korruption und Lügen werden im Osten abgestraft. Mitunter nicht sofort, aber dafür mit deutlicher Konsequenz. Das Vertrauen zurückzugewinnen, ist im Osten nur sehr schwer möglich.
Daher muss umso mehr für alle Organisationen, die die Arbeiter*innenklasse zum Kampf führen wollen, gelten: die jederzeitige Rechenschaftspflicht, das Bekenntnis der Vertreter*innen zum Durchschnittslohn der Arbeiter*innen und die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit.
Wer im Osten punkten will, der muss vor allem der ungeheuren Wut Ausdruck verleihen und sie endlich gegen jene richten, die wirklich Schuld an der Situation im Osten sind. Und das heißt, sie nicht auf jene zu lenken, die ebenfalls unter diesen Bedingungen zu leiden haben: die Migrant*innen. Nach all den Jahren wird es eine Schlüsselaufgabe einer politischen Kraft der Arbeiter*innenklasse werden, diese mit hier geborenen Arbeiter*innen gemeinsam zu organisieren.
Genau hier braucht es ein wirklich linkes, sozialistisches und kämpferisches Angebot. Ein Angebot, das vor allem nicht mehr sagt: „Wir bringen das für Euch in Ordnung“, sondern eines, was sagt „Lasst uns zusammen kämpfen, für eine echte Alternative zu einem System, das Elend, Krieg und Umweltzerstörung bedeutet“. Diese Alternative gibt es im Kapitalismus nicht, sie kann nur in einer sozialistischen Demokratie liegen.
Steve Hollasky ist Lehrer und Mitglied der GEW. Er ist Mitbegründer des Bündnis gegen Kürzungen in Dresden und Mitglied im Sol-Bundesvorstand.