
Geplatzte Verfassungsrichter*innenwahl zeigt Instabilität des Systems
Dass im Juli die Verfassungsrichter*innenwahl von der Bundestags-Tagesordnung genommen wurde, ist ein historisch beispielloser Vorgang, weil die Herrschenden eigentlich das Image des Verfassungsgerichts als neutraler, über dem Parteienstreit stehender Institution nicht beschädigen wollen. Es zeigt nicht nur schlechte Regie durch Union-Fraktionschef Spahn, sondern auch die tiefe Krise der bürgerlichen Demokratie.
von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart
Die beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts haben zusammen 16 Mitglieder, die zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Normalerweise besteht zwischen den großen Parteien Konsens, dass sie jeweils das Vorschlagsrecht für verschiedene Kandidat*innen haben. Am 11. Juli hätten zwei von der SPD vorgeschlagene Kandidatinnen (Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold) und ein von der CDU vorgeschlagener Kandidat (Günter Spinner) zur Wahl gestanden. Aber diesmal gab es im Vorfeld der geplanten Wahl ein regelrechtes Kesseltreiben gegen Brosius-Gersorf, initiiert von rechten Internetportalen wie Nius (betrieben vom ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt), aber auch von der bürgerlichen „Qualititätszeitung“ „Frankfurter Allgemeine“. Teils wurden über ihre Ansichten Schauermärchen verbreitet, am Schluss waren Plagiatsvorwürfe ein willkommener „unpolitischer“ Vorwand, um ihr die Unterstützung zu verweigern. Über fünfzig Abgeordnete, also etwa ein Viertel der Unions-Fraktion, sollen Brosius-Gersdorf die Unterstützung verweigert haben. Dass ein beträchtlicher Teil der Unionsabgeordneten sie weiterhin als unwählbar betrachtete, nachdem diese Vorwürfe widerlegt waren, beweist, dass sie nur ein Vorwand waren. Schließlich zog sie ihre Kandidatur zurück.
Ausdruck der Krise der bürgerlichen Demokratie
Eine bürgerliche Demokratie ist ein Widerspruch. Auf der einen Seite hat die große Masse der Bevölkerung demokratische Rechte, einschließlich des Wahlrechts. Auf der anderen Seite funktioniert die bürgerliche Demokratie nur, solange diese Masse diese Rechte dazu gebraucht, um Politiker*innen zu wählen, die für die kleine Minderheit Politik zu machen, die die wirtschaftliche Macht hat. Das funktionierte noch relativ gut, als die historische Aufgabe bestand, den Kapitalismus von feudalen Überbleibseln zu reinigen, oder als im Nachkriegsaufschwung nach 1945 die Wirtschaft so stark wuchs, dass auch für die Masse der Bevölkerung reichlich Krümel vom Tisch der Reichen herabfielen. Aber diese Zeiten sind lange vorbei und auch die Menschen, die durch diese Zeiten geprägt wurden und glauben, sie würden eines Tages wieder kommen, werden weniger.
Je weniger etablierte Parteien mit ihrer Politik den Massen reale Verbesserungen bieten können, desto größere Erfolge können rechtspopulistische oder rechtsextreme Kräfte haben, indem sie sich einerseits als Anti-Establishment-Kräfte ausgeben, andererseits an dumpfe Vorurteile appellieren und auf dieser Grundlage mobilisieren. International entstanden teils neue Parteien, teils wurden traditionelle bürgerliche Parteien umgekrempelt. Die Übernahme der Republikaner*innen in den USA durch Trump und seine Anhänger*innen ist ein anschauliches Beispiel für letzteres.
Der Aufstieg rechtspopulistischer oder noch weiter rechts stehender Kräfte erschwert für die etablierten bürgerlichen Parteien die Regierungsbildung. Dass der Kanzlerkandidat der Groko (das stand einmal für „Große Koalition“) im ersten Wahlgang nicht die erforderliche Mehrheit bekam, machte das anschaulich. Dass im Bundestag für Zweidrittel-Mehrheiten entweder die Zustimmung der AfD oder der Linken erforderlich ist, verschärft das Dilemma. Die Methode, die AfD als Partei zu ächten und gleichzeitig ihre Inhalte in vielen Fragen (vor allem bei der Migration) zu übernehmen, funktioniert offenbar nicht. Dadurch kann man keine Wähler*innen von der AfD zurückholen. Deren Anti-Establishment-Rhetorik hat als einziger Bestandteil ihrer Hetze Bezug zur Lebensrealität vieler Wähler*innen. Ähnlich zeigten 2024 Umfragen in den USA, dass Trump vor allem gewählt wurde, weil sein Abkotzen über die wirtschaftliche Lage unter Biden der Realität großer Teile der Wähler*innen entsprach. (1) Natürlich tritt er seit seinem Amtsantritt die wirklichen Interessen dieser Wähler*innen selbst mit Füßen (ebenso wie es die AfD macht, wo sie auf kommunaler Ebene Einfluss hat und auch auf höherer Ebene machen würde, wenn sie jemals die Gelegenheit bekäme).
Ein spezielles Problem stellt diese Konstellation für die CDU/CSU dar. In vielen politischen Fragen steht ihnen die AfD nahe. Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie und ähnliche Ideen waren und sind in der Union weit verbreitet. Es ist kein Zufall, dass viele AfD-Kader aus der Union kommen. Am meisten stört große Teile der Union bei der AfD, dass sie sich eben als „anti-establishment“ präsentiert und in außenpolitischen Fragen so Putin-nah ist, was der Mehrheit der herrschenden Klasse gegen den Strich geht. Teile der Union sind offenbar bereit, diese Kröten zu schlucken und mit der AfD verstärkt zusammenzuarbeiten. Für andere Teile ist das eine zu große Hürde … abgesehen davon, dass das zu weiteren Massenprotesten und zur Stärkung der Linken führen dürfte.
Diese Unklarheit wird die Union weiter schwächen: die einen Wähler*innen werden von Avancen an die AfD abgestoßen, die anderen davon, wenn Die Linke nicht mehr als aussätzig behandelt wird. Franz Josef Strauß war ein Erzreaktionär, aber intelligent. Er sagte 1987, „dass es rechts von der CDU/CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben darf“ (2). Und heute ist die AfD in Umfragen teils stärker als die CDU/CSU
In den 1980er Jahren wurden in Lateinamerika reihenweise Militärdiktaturen durch demokratische Regierungen ersetzt, dann folgte der Zusammenbruch der stalinistischen Diktaturen in Osteuropa und der Sowjetunion, der Sturz von Diktaturen in afrikanischen Ländern und anderswo Anfang der 1990er Jahre. Ein Zeitalter der unangefochtenen bürgerlich-liberalen Demokratie schien anzubrechen. Der bürgerliche Ideologe Fukuyama verkündete das „Ende der Geschichte“. In den letzten Jahren schwang das Pendel in die entgegengesetzte Richtung. Das zeigt sich nicht nur im Aufstieg rechtspopulistischer Parteien, sondern auch in der Repression gegen die Palästina-Solidarität in verschiedenen Ländern, aber auch der Sympathie für sich als antiimperialistisch gebende Militärputsche in mehreren afrikanischen Ländern. Noch stellen die deutschen Medien den demokratischen Westen dem autoritären China entgegen. Aber gleichzeitig beneiden sie den wirtschaftlichen Erfolg und die große Effizienz Chinas.
Für das kapitalistische System ist „Demokratie oder Diktatur“ keine prinzipielle Frage, sondern eine Frage der Zweckmäßigkeit. Für Arbeiter*innen sind demokratische Rechte keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern unverzichtbar, um ihre Interessen kollektiv zu vertreten. Deshalb ist es die Aufgabe von Sozialist*innen, diese demokratischen Rechte kompromisslos zu verteidigen, sowohl gegen drohende Frontalangriffe von Rechtspopulist*innen und Rechtsextremen als auch gegen ihre bereits stattfindende schleichende Aushöhlung durch etablierte bürgerliche Parteien. Das bedeutet nicht, die bürgerliche Demokratie als System zu verteidigen mitsamt ihrem kapitalistischen Privateigentum, dessen Profitmaximierung wachsende Teile des Planeten unbewohnbar macht. Es bedeutet vielmehr, den Kampf für die Verteidigung und den Ausbau unserer demokratischen Rechte mit dem Kampf für eine sozialistische Demokratie zu verbinden.
Was soll Die Linke tun?
Aber was heißt das konkret im Bundestag, wenn für Verfassungsrichter*innenwahlen und bestimmte andere Abstimmungen eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist?
Hier gilt analog das Prinzip, das die Sol und ihre Vorgängerorganisation seit vielen Jahren in der Regierungsfrage vertreten haben: keine Koalition mit kapitalistischen Parteien, keine Tolerierungsabkommen, sondern Einzelfallunterstützung, das heißt jede einzelne Maßnahme darauf abklopfen, ob sie für die arbeitende Bevölkerung die bessere Alternative darstellt. Auch wenn wir eine Politik des kleineren Übels ablehnen, kann es konkrete Fälle geben, in denen es legitim ist, sich für ein kleineres Übel zu entscheiden, wenn es tatsächlich keine dritte Möglichkeit (zum Beispiel Druck durch außerparlamentarische Mobilisierung) gibt.
Konkret hätte sich Die Linke auf keinen Fall auf ein Paket einlassen sollen, indem sie alle drei von SPD und CDU vorgeschlagenen Kandidat*innen unterstützt, also auch den Unionskandidaten, für den auch die AfD stimmen wollte. Und sie hätte sich auch Brosius-Gersdorf genau anschauen müssen, die immer wieder erklärte, keine Linke, sondern aus der politischen Mitte zu sein und laut Medienberichten auch für eine Rente mit 70 oder Privatschulen eintritt.
Die Linke sollte auf keinen Fall die Koalitionsparteien anbetteln, dass sie doch mit ihr reden und sie damit auch als eine demokratische Partei anerkennen sollen. Stattdessen sollte sie selbstbewusst erklären, dass sie die einzige zuverlässige demokratische Partei ist. Sie sollte das Argument zurückweisen, wenn sie nicht zustimmt, dann würde die Groko sich eine Zweidrittel-Mehrheit bei der AfD holen. Damit macht sie sich erpressbar, auch realen Verschlechterungen zuzustimmen (wie es Bundesländer mit linker Regierungsbeteiligung im Bundesrat bereits wiederholt gemacht haben). Die Folge wäre eine Diskreditierung der Linken, die als Teil des Establishments gesehen würde, während die AfD sich weiter als angebliche Anti-Establishment-Kraft profilieren und aufbauen könnte.
Stattdessen sollte sie der Groko vorwerfen, dass sie lieber mit der AfD Zweidrittel-Mehrheiten gegen die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung organisiert als mit den Linken für diese Interessen; und sie sollte der AfD vorwerfen, dass sie dazu bereitsteht, was ihren Charakter entlarvt. Natürlich sollte sie sich dabei nicht darauf verlassen, dass die bürgerlichen Medien diese Haltung korrekt darstellen, sondern selbst damit an die Öffentlichkeit gehen, über Social Media ebenso wie bei Flugblattverteilungen, Haustürgesprächen oder innerhalb der Gewerkschaften.
(1) Nach einer Umfrage war für 93 Prozent der Trump-Wähler*innen „die Wirtschaft“ sehr wichtig, gefolgt von Einwanderung (82 Prozent) und Gewalverbrechen (76 Prozent), aber z.B. Abtreibungen, seit Jahrzehnten ein zentrales Kampagnethema christlicher Fundamentalist*innen nur für 35 Prozent (https://www.pewresearch.org/politics/2024/09/09/issues-and-the-2024-election/)
(2) https://www.swr.de/swrkultur/wissen/archivradio/franz-josef-strauss-1987-rechts-von-der-csu-102.html