Wir wollen mehr Demokratie als im Kapitalismus!

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Wie stehen Sozialist*innen zur Gewaltenteilung?

Im Sommer war die Auseinandersetzung über die – dann vertagte – Wahl von drei Verfassungsrichter*innen und besonders die vorgeschlagene Frauke Brosius-Gersdorf Anlass für Diskussionen über die Rolle des Verfassungsgericht und über die Gewaltenteilung generell. Aber was ist eigentlich die marxistische Haltung dazu?

von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart

Die Theorie der Gewaltenteilung wurde vor allem im 18. Jahrhundert von Denkern wie John Locke und Montesquieu entwickelt. Das war das Zeitalter der Aufklärung. Diese Aufklärung schwebte aber nicht über den Wolken, sondern war die Ideologie des aufsteigenden Bürger*innentums in der Auseinandersetzung mit dem niedergehenden Feudaladel.

Die Gewaltenteilung war im Kern eine Machtteilung zwischen diesen beiden Klassen. Die Bürger sollten Parlamente wählen, die dann Gesetze verabschieden, insbesondere den Staatshaushalt beschließen, und die Regierung kontrollieren. Das war die Gesetzgebung oder Legislative. Die Regierung oder Exekutive selbst wurde von einem König oder sonst einem Monarchen als Ober-Adligen ernannt, war also der Machtbereich des Adels. Bei allen beiden Gewalten war die große Masse der Bevölkerung ausgeschlossen. Das Wahlrecht war fast immer an hohe Vermögen oder Einkommen gekoppelt (Zensuswahlrecht). In manchen Ländern führte das dazu, dass reiche Frauen (zum Beispiel reiche alleinstehende Erbinnen) wählen durften, aber die allermeisten Frauen (und oft alle Frauen) hatten keinerlei demokratische Rechte. Daneben gab es das Gerichtswesen, die Judikative, als dritte Gewalt. Sie ließ sich nicht direkt der niedergehenden alten und aufsteigenden neuen Klasse zuordnen, aber da Richter eine lange und kostspielige Ausbildung absolvieren mussten, war auch diese Gewalt für die Masse der Bevölkerung unerreichbar.

Und heute?

Heute feiern die bürgerlichen Parteien, Medien, Gemeinschaftskundelehrer*innen etc. die Gewaltenteilung. Die wechselseitige Kontrolle der Gewalten soll diese in ihrer Macht einschränken. Tatsächlich besteht der Staat nicht nur aus einer Regierung und einem Parlament. Die Regierungen bilden nur die Spitze eines umfangreichen hierarchischen Beamt*innenapparats. Das heißt, in den Verwaltungen werden die Vorgesetzten nicht demokratisch von den Mitarbeiter*innen gewählt, sondern sie werden von oben ernannt. Die Folge ist, dass an die Spitze nur Leute aufsteigen, die durch ihre Ausbildung und ihre Denkweise die Gewähr bieten, dass sie die Interessen der winzigen wirtschaftlich herrschenden kapitalistischen Minderheit vertreten, nicht die Interessen der großen arbeitenden Massen der Bevölkerung. Alle historischen Erfahrungen zeigen, dass dieser Staatsapparat jede linke Regierung, die versuchen würde, eine grundlegend andere Politik zu betreiben, am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Und wenn Regierungen die arbeitende Bevölkerung mobilisieren und versuchen, die Sabotage des Staatsapparats durch Selbstorganisation von unten zu unterlaufen (vielleicht sogar Teile des Staatsapparats die Seiten wechseln), dann schrecken die Herrschenden auch nicht vor Militärputschen zurück wie in Chile 1973.

Und für Richter*innen gilt weiterhin, dass die Kosten einer juristischen Ausbildung für eine soziale „Auslese“ sorgen. Außerdem werden Richter*innen nicht gewählt, sondern ernannt. Und wenn sich doch Richter*innen nach ihrer Ernennung als für den Staatsapparat ideologisch unzuverlässig erweisen sollten, gibt es trotz der richterlichen „Unabhängigkeit“ ein umfangreiches Disziplinarrecht, um sie auf Linie zu bringen oder im Extremfall wieder aus dem Dienst zu entfernen.

Das Verfassungsgericht

Die Kapitalist*innenklasse hat ein Interesse an klaren Spielregeln, die den Rahmen abstecken, in dem sie ihre Profite macht. Dazu dient ihr das Verfassungsgericht als oberste Instanz

Zugleich haben es die Herrschenden geschafft, das Verfassungsgericht mit einem besonderen Nimbus zu umgeben. Bei einer Meinungsumfrage zum Institutionenvertrauen zeigten letztes Jahr 78 Prozent Vertrauen zum Verfassungsgericht, aber nur zum Beispiel 15 Prozent zu politischen Parteien. (1) Sie versuchen, das Prestige des Verfassungsgerichts zu nutzen, um das Prestige ihres Systems insgesamt zu festigen.

Tatsächlich sind Gesetze und Gerichtsurteile nicht Ausdruck einer “objektiven” Gerechtigkeit, sondern spiegeln direkt oder indirekt die Interessen der herrschenden Klasse und das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen wider.

In den letzten Jahrzehnten hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach Urteile gefällt, die demokratische Rechte, zum Beispiel das Demonstrationsrecht, geschützt haben. Das zeigt, dass sich dort weitsichtigere Teile der herrschenden Klasse durchsetzen können, die erkennen, dass Ventile, um Druck abzulassen, und Korrektive für die Herrschenden selbst nützlich sind.

Es gab aber immer wieder auch Urteile, in denen reaktionäre Vorurteile oder Interessen der herrschenden Klasse durchgeboxt wurden. 1975 kippte das Bundeserfassungsgericht die Fristenregelung bei Schwangerschaftsabbrüchen. 1999 sah das Verfassungsgericht keinen Widerspruch zwischen der Beteiligung Deutschlands am Angriffskrieg gegen Jugoslawien und dem Verbot der Vorbereitung von Angriffskriegen in Artikel 26 des Grundgesetzes. Vor drei Jahren kippte der Oberste Gerichtshof der USA sein eigenes Urteil von 1973 wieder, das das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche garantierte. Im April entschied das britische Oberste Gericht, dass Trans-Frauen keine Frauen im Sinne des Gleichstellungsgesetzes seien.

Linke sollten deshalb in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf die Mobilisierung der Arbeiter*innen und nicht auf ein Eingreifen von Verfassungsgerichten orientieren. Das Verfassungsgericht ist auch ein Teil des kapitalistischen Staates, der die kapitalistische Profitmaximierung schützt, die wiederum das Überleben der Menschheit zunehmend bedroht

Mehr Demokratie

Sozialist*innen haben immer mehr Demokratie gefordert. Das Erfurter Programm der sich damals als marxistisch verstehenden Sozialdemokratie von 1891 forderte unter anderem „Wahl der Behörden durch das Volk“ (in Punkt 2) und „Rechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter“ (in Punkt 7) (2). In der Russischen Revolution von 1917 wurde der kapitalistische Staat durch eine Rätedemokratie ersetzt – einen Staat, der auf allen Ebenen unter der Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung stand, mit Wählbarkeit und jederzeitiger Abwählbarkeit. Dies war die radikalste Demokratie, die es bisher gab. Sie wurde damals unter den Entbehrungen eines langjährigen Bürger*innenkriegs und den Bedingungen von Isolation und Rückständigkeit durch eine monströse bürokratische Diktatur verdrängt. Aber das war die Folge einer Konstellation historischer Umstände, keine naturnotwendige Entwicklung.

Ziel von Sozialist*innen sollte nicht die Glorifizierung der bürgerlichen Gewaltenteilung sein, in der ein Parlament, eine nicht gewählte Staatsbürokratie und nicht gewählte Richter*innen sich gegenseitig kontrollieren, sondern die Wählbarkeit, demokratische Kontrolle und jederzeitige Abwählbarkeit aller Staatsfunktionen durch die Bevölkerung.


(1) https://www.stern.de/politik/deutschland/aerzten-und-polizei—wem-die-deutschen-wirklich-vertrauen-35326454.html

(2) https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1891/erfurt.htm