Friedrich Engels und die Befreiung der Frau

„Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“

130 Jahre sind seit der Erstveröffentlichung des Buches „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ von Friedrich Engels vergangen. Für MarxistInnen war der Text lange ein bedeutender Beitrag zur Erklärung der Ursprünge der Unterdrückung der Frau. Kritisiert wurde das Werk von denen, die andere Erklärungen dafür bevorzugen, dass Frauen in der Gesellschaft als Menschen zweiter Klasse behandelt werden.

von Christine Thomas

Im Vorwort der ersten Ausgabe zu „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ erklärt Friedrich Engels bescheiden, seine Arbeit könne nur „einen geringen Ersatz bieten für das, was meinem verstorbenen Freunde [Karl Marx] zu tun nicht mehr vergönnt war“ (1). Im Zusammenhang mit seiner allgemeinen Analyse der Funktionsweise und der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus zeigte Karl Marx in seinen letzten Lebensjahren ein besonderes Interesse am Studium früherer Gesellschaften. Engels bezog sich auf unveröffentlichte Notizen von Marx. Zudem räumte er offen ein, wie viel sein Buch der sieben Jahre zuvor veröffentlichten, bahnbrechenden Arbeit „Die Urgesellschaft“ des amerikanischen Rechtsanwalts und Amateur-Anthropologen Lewis Henry Morgen zu verdanken hatte.

Der Ausgangspunkt für das Verständnis der historischen Entwicklung der Gesellschaft, argumentierte Engels, sei der Produktions- und Reproduktionsprozess. Veränderungen der Art und Weise, wie wir unseren Lebensunterhalt erwirtschaften, verändern durch ein komplexes Zusammenspiel wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kräfte die Produktionsweise und die sozialen Beziehungen. Soziale Institutionen, wie der Staat, die Familie – und die damit verbundene Unterdrückung der Frauen – sind historisch spezifische Phänomene und daher Veränderungen unterworfen. Vornehmlich gestützt auf Morgans Studien über die nordamerikanischen Irokesen und polynesische Gesellschaften, versuchte Engels zu zeigen, wie in der Vergangenheit egalitäre Gesellschaften existierten, in denen es weder Privateigentum, noch Staaten oder eine systematische Unterdrückung der Frauen gab und in denen die Familie nicht die elementarste soziale Institution war.

Im Licht von mehr als 100 Jahren archäologischer und anthropologischer Forschungen können wir heute sagen, dass die generelle Stoßrichtung der Engelsschen Argumentation ihre Gültigkeit behalten hat. Allerdings muss „Der Ursprung“ als Produkt seiner Zeit verstanden werden: Revolutionär und voller Sprengstoff in seinem Bestreben, die herrschende Ideologie, die die Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft für universell und naturgegeben erklärte, in Frage zu stellen. Gleichzeitig jedoch eine Arbeit, die dadurch behindert wird, dass sie sich auf die dünn gesäten, wissenschaftlichen Erkenntnisse stützt, die in den 1880er Jahren verfügbar waren.

Im Ergebnis beinhaltet „Der Ursprung“ zwangsläufig sachliche Fehler in Bezug auf Details früherer Gesellschaften und ihrer Entwicklung. Engels selbst erkannte an, dass sein Buch der Überarbeitung bedürfe, sobald neuere Erkenntnisse vorlägen.

Klassenlose Urgesellschaft

In enger Anlehnung an Morgan identifiziert Engels die gemeinschaftlichen, egalitären „Gentes“ (Gruppen oder Sippen) als soziale Grundeinheit der klassenlosen Gesellschaft. Moderne Anthropologen akzeptieren die historische Existenz der „Gentes“, auch wenn sie heute als „kinship group“ (also als Verwandte) oder als „kin corporate group“ (also als Bezugsgruppe) bezeichnet werden. Auch dürfte ein allgemeines Einvernehmen darüber bestehen, dass über bedeutende geschichtliche Zeitabschnitte hinweg klassenlose, soziale Gruppen existierten, die weder Privateigentum – im Sinne von privatem Eigentum an den Produktionsmitteln – noch staatliche Strukturen kannten.

Nicht mehr akzeptiert würde hingegen die von Engels beschriebene Entwicklungslinie bei der Entstehung der „Gentes“. Es gibt keine Beweise für die verschiedenen, von ihm skizzierten Entwicklungsstufen von der ungehemmten „Promiskuität“ über die „Blutsverwandtschaftsfamilie“ (keine sexuellen Beziehungen zwischen den Generationen) zur „Gruppenfamilie“ (Heiratsverbot zwischen den Nachkommen). Sie basieren auf reiner Spekulation. Wie Morgan vor ihm, glaubte Engels fälschlicherweise, dass die in den untersuchten Gesellschaften vorherrschenden, verwandtschaftlichen Bezeichnungen – also die Worte, mit denen Menschen ihre Beziehungen zueinander beschrieben, zum Beispiel „Schwester“, „Vater“, „Ehefrau“ Verwandtschaftsbeziehungen und Heiratsgewohnheiten aus ferner Vergangenheit widerspiegelten. Tatsächlich drückten die Begriffe zeitgenössische soziale und ökonomische Beziehungen aus.

Morgans und Engels‘ egalitäres Kollektiv der „Gentes“ bildete die grundlegende soziale Organisationsform der auf einfacher Landwirtschaft (Hack- und Gartenbau) (2) basierenden Gesellschaften. Bei diesen handelte es sich oft um matrilineare Gesellschaften (die Verwandtschaft wird über die mütterliche Linie vermittelt), in denen Frauen beachtliche Autorität besitzen konnten.

Eleanor Burke Leacock (3) beschrieb, wie Frauen der Irokesen das Anlegen von Vorräten, von Gemüse, Fleisch und anderen Gütern, kontrollierten, Ehen arrangierten und „Sachems“ („Friedenshäuptlinge“ beziehungsweise „Stammessprecher“) nominierten und absetzten.

Einige LeserInnen von Engels‘ Buch zogen daraus den Schluss, dass dem Patriarchat (also der institutionalisierten Kontrolle der Männer über die Frauen) eine Zeit des „Matriarchats“, also der „Frauenherrschaft“ vorausging. Tatsache ist, dass es dafür keine Beweise gibt. Wo Engels von „Mutterrecht“ spricht, meint er offensichtlich matrilineare Verwandtschaftsbeziehungen und nicht Matriarchat (4) – im Sinne von Frauenherrschaft.

Engels nahm an, dass matrilineare Gesellschaften den patrilinearen Gesellschaften grundsätzlich immer vorausgingen, Leacock scheint hiermit übereinzustimmen, wenn sie feststellt, dass es zwar zahlreiche Beispiele dafür gibt, dass sich matrilineare Gesellschaften in patrilineare Gesellschaften verwandelt haben, nicht jedoch für eine umgekehrte Entwicklung. Es gibt allerdings weder in die eine, noch in die andere Richtung belastbare Beweise, so dass diese Frage vorerst ungeklärt bleibt.

Darüber hinaus betrieben die ersten bekannten Gesellschaften keineswegs Hack- beziehungsweise Gartenbau, sondern die technologisch weniger anspruchsvolle Lebensweise des Jagens/Fischens und Sammelns.

Anthropologen wie Leacock und Richard Lee 4 führten extensive Studien an Jäger- und Sammler-Gesellschaften (sogenannten Wild- und Feldbeutern) durch. Sie werteten die konkreten Erfahrungen mit Völkern, die ihre Lebensweise bis in die heutige Zeit bewahrt haben, aus und analysierten zudem historische Dokumente, einschließlich der Aufzeichnungen der Jesuiten bezüglich der indigenen kanadischen Montagnais-Naskapi auf der Labrador-Halbinsel.

Jede dieser Gesellschaften wies eindeutig eigene, spezifische Charakteristika auf, die durch die Unterschiede der umgebenden Geographie und Umwelt bestimmt wurden. Dennoch schließen diese Unterschiede die Möglichkeit, allgemeine Merkmale herauszuarbeiten, die allen Jäger- und Sammler-Gesellschaften eigen sind, nicht aus.

Jede Regel hat ihre Ausnahme. Daher ist es wichtig, zu erkennen, ob die untersuchte Jäger- und Sammler-Gruppe beispielsweise bereits Kontakte zu Gesellschaften mit anderen Produktionsmethoden hatte oder ob sie eventuell nach einer Periode der Produktion nach einem technologisch fortschrittlicheren System zur Lebensweise der Wild- und Feldbeuter zurückkehrte.

Auch ist es notwendig, sich bei der Auswertung von Quellen darüber bewusst zu sein, dass die ursprünglichen Berichterstatter beziehungsweise Forscher möglicherweise durch Vorurteile oder unbegründete Vermutungen beeinflusst wurden.

Auch unter Berücksichtigung der genannten Vorbehalte ist es möglich, einige allgemeine Feststellungen zu den organisatorischen Prinzipien der Jäger- und Sammler-Gesellschaften zu treffen.

Verschieden aber gleichberechtigt

Obwohl die Größe einer Gemeinschaft in Abhängigkeit zur Umwelt und zum verfügbaren Nahrungsangebot variieren konnte, lebten die Jäger und Sammler in kleinen sozialen Gruppen oder Verbänden, die auf Verwandtschaftsverhältnissen basierten. (30-40 Menschen stellten normalerweise die ideale Höchstgrenze dar).

Die Zusammensetzung einer Gruppe konnte recht lose, die Zugehörigkeit fließend sein und „Verwandtschaft“ wurde durchaus flexibel interpretiert und musste nicht zwangsläufig Blutsverwandte beschreiben. Die Gruppen lebten nomadisch und waren bei der Nahrungssuche mobil. Zu verschiedenen Anlässen gab es Treffen mit anderen Gruppen, die der Zusammenarbeit, der Geselligkeit et cetera dienten. Die Herstellung und die Verteilung der Güter erfolgte kollektiv und kooperativ, die Produktionsmittel waren sehr einfach.

Auch wenn es einige persönliche Besitztümer gab, waren die Produktionsmittel Eigentum der gesamten Gruppe. Die Akkumulation von Besitzständen war auf Grund der nomadischen Lebensweise kaum möglich. Obwohl zwischen verschiedenen Gruppen Geschenke ausgetauscht wurden, wurde überwiegend für den direkten Verbrauch produziert.

Alle Erwachsenen, die dazu körperlich in der Lage waren, waren gewöhnlich direkt an der Produktion und der Verteilung der Nahrungsmittel beteiligt. Die wichtigste Arbeitsteilung basierte auf dem Geschlecht. Im Allgemeinen waren die Männer für die Jagd verantwortlich, während sich die Frauen hauptsächlich mit dem Sammeln von Früchten, Nüssen, Beeren et cetera beschäftigten. Die Erträge beider Geschlechter wurden kollektiv durch die Gruppe verteilt.

Da Engels‘ Quellen hauptsächlich aus Gartenbau betreibenden Gesellschaften stammten, bezog er sich nicht auf die Rolle der Frau als Sammlerin, sondern konzentrierte sich stattdessen auf ihre Verantwortung für Kinderbetreuung und die Verwaltung des Haushaltes. Dennoch hatte Engels Recht, wenn er den „öffentlichen“ Charakter der Rolle der Frau in auf Verwandtschaftsgruppen basierenden Gesellschaften betonte.

Die Versorgung der Kinder war eine soziale Aufgabe, die zum Wohl der gesamten Gruppe erledigt wurde. Es gab keine künstliche Trennung zwischen der privaten Rolle der Frau in einem individuellen Haushalt und ihrer öffentlichen Rolle in Gesellschaft, wie es im Kapitalismus und anderen Klassengesellschaften der Fall ist.

In Jäger- und Sammler-Gesellschaften konnten die persönlichen Beziehungen zwischen Männern und Frauen sowohl verbindlich, als auch unverbindlich sein. Je nach dem, was praktischer erschien, konnten sich die Partner nach der „Hochzeit“ sowohl bei der Gruppe der Frau (matrilokal) als auch bei der Gruppe des Mannes (patrilokal) anschließen. Wegen der kooperativen Struktur der Gruppen führte der Abbruch einer Paarbeziehung nicht notwendiger Weise zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten für Frauen und Kinder.

Die wichtigste soziale Einheit war die kollektive Gruppe, nicht die Familie oder der Haushalt und diese basierte auf der gegenseitigen, wirtschaftlichen Abhängigkeit innerhalb der Gruppe und nicht auf der der einzelnen Frauen von ihren männlichen Partnern.

Leacock, Stehanie Coontz und Peta Henderson (5) und Christine Ward Gaitley (6) warnen vor der Gefahr, auf Grundlage der im Kapitalismus herrschenden, ungleichen sozialen Beziehungen Aussagen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft vor der Entstehung der Klassen zu treffen.

Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen bedeutet nicht unbedingt Ungleichheit. Der wirtschaftliche Beitrag der Frauen in Jäger- und Sammler-Gesellschaften lieferte in der Regel den Großteil der Nahrungsmittel für die Gruppe. Obwohl sich die Rollen von Männern und Frauen unterschieden, war keine der anderen über- oder untergeordnet, sondern gleichermaßen wertvoll und notwendig für die Gruppe.

Leacock zeigt, wie Frauen die Kontrolle über ihre eigenen Erzeugnisse ausübten und selbstständig über die Tätigkeiten in ihrem Verantwortungsbereich entschieden.

Auch wenn überwiegend Frauen die Kinderbetreuung übernahmen und ihre Rolle bei der Fortpflanzung ihre Fähigkeit zu jagen normalerweise einschränkte (dies wäre für Schwangere und Frauen mit Kleinkindern gefährlich gewesen), verlieh ihnen dies keinen niedrigeren, sozialen Status. Tatsächlich war die Arbeitsteilung oft recht flexibel. Frauen fingen und jagten kleinere Tiere und begleiteten Männer zur Jagd, wenn sie nicht schwanger waren oder stillten. Ebenso übernahmen Männer bereitwillig die Kinderbetreuung, wenn dies erforderlich war.

Daher kann die benachteiligte Stellung der Frauen in der heutigen Gesellschaft nicht – wie es einige radikale FeministInnen (und Nicht-FeministInnen) versucht haben –, einfach mit ihrer Rolle bei der Fortpflanzung erklärt werden, ohne dabei die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen zu berücksichtigen.

Theorien, die die männliche Vorherrschaft mit größerer Körperkraft oder Aggressivität erklären, haben sich ebenfalls als unhaltbar erwiesen. Obwohl Gewalt und vereinzelt auch kriegerische Auseinandersetzungen in frühen, klassenlosen Gesellschaften durchaus vorkamen, waren sie dennoch sehr selten. Auf Grund ihrer Studien bezeichnet Leacock Kooperation, Reziprozität 7, Solidarität, Großzügigkeit, Geduld und Respekt als die wichtigsten moralischen Werte der ursprünglichen, klassenlosen Gemeinschaften.

Anders als es der grobe biologische Determinismus des stereotypen Bildes des aggressiven männlichen Jägers vorspiegelt, war selbst die Jagd normalerweise eine Tätigkeit, die auf der Kooperation zwischen Männern – und manchmal auch Frauen – beruhte.

Jäger- und Sammler-Gesellschaften zeichneten sich durch das Fehlen sozialer Schichten, eine nicht hierarchische Wirtschaftsweise und durch gesellschaftliche Beziehungen, die keine soziale Differenzierung auf der Grundlage des Reichtums kannten, aus.

Gesellschaft ohne Staat

Entscheidungsfindungen und Konfliktlösungen wurden normalerweise durch informelle Diskussion und Konsensbildung erreicht. Wenn sich ein Konflikt als unlösbar erwies, führte dies mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass jemand die Gruppe verließ.

Die Meinung bestimmter Mitglieder der Gruppe mag ein größeres Gewicht gehabt haben als die anderer Gruppenmitglieder, aber diese Art der Autorität basierte auf persönlichen Eigenschaften oder dem Alter dieser Personen und ergab sich nicht aus den Eigentumsverhältnissen.

Sie konnten andere überzeugen und überreden, hatten aber keine Macht, ihnen ihre Ansichten aufzudrängen oder sie zu einer bestimmten Verhaltens- oder Handlungsweise zu zwingen.

Die Neolithische Revolution

Der Zusammenbruch der gemeinschaftlichen „Gentes“ und der Prozess der Entstehung des Privateigentums, der Klassen, der Familie als sozialer Institution, der Frauenunterdrückung und des Staates hatte für Engels seine Wurzeln in der Entwicklung der Produktivkräfte.

Im ersten Kapitel des „Ursprung“ skizziert er unter Verwendung der heute offensichtlich nicht mehr verwendbaren, aber im 19. Jahrhundert gebräuchlichen Begriffe – „Wildheit“, „Barbarei“, „Zivilisation“ – ein Entwicklungsschema.

Heutige Anthropologen würden eher die Bezeichnungen „Jäger- und Sammler/ Wild- und Feldbeuter“, „kleinbäuerliche“ und „städtische“ Gesellschaft wählen.

Einige der Beweise, die Engels für die Art, wie sich Gesellschaften verändert haben, anführt, werden heute durch wissenschaftliche Befunde, die seit Engels’ Buch geschrieben wurde, erhoben wurden, in Frage gestellt.

Dennoch gibt es eine überwältigende Zustimmung für die Auffassung, dass vor 8-10.000 Jahren eine revolutionäre Veränderung in der Produktionsweise stattfand. Diese Entwicklung wird im Allgemeinen als die „Neolithische Revolution“ bezeichnet, ein Begriff, der durch den Archäologen V. Gorden Childe geprägt wurde. Sie hatte das Potenzial, eine Entwicklung hin zur Herausbildung sozialer Schichten, ungleicher Machtverteilung und Reichtums- Geschlechts- und Klassenunterschieden zu entfesseln.

Diese radikale Veränderung wurzelte in der neu erworbenen Fähigkeit der Gemeinschaften, Pflanzen und Tiere zu domestizieren. Engels glaubte irrtümlich, dass die Entwicklung von Weidewirtschaft beziehungsweise Viehzucht dem Anbau und der Ernte von Feldfrüchten vorausging. Tatsächlich belegen historische Aufzeichnungen, dass beide Wirtschaftsweisen in (für frühgeschichtliche Verhältnisse) engem zeitlichen Zusammenhang auftraten, vermutlich ursprünglich im sogenannten „Fruchtbaren Halbmond 8“. Einfache Landwirtschaft (Hack- und Gartenbau) entwickelte sich unabhängig in mindestens fünf, möglicherweise mehr, Gegenden der Welt und bereitete sich durch Abwanderung von Bauern, die Weitergabe des Wissens über neue Techniken oder durch Eroberungen immer weiter aus, so dass sie Europa vom westlichen Asien her um 3.500-6.000 vor unserer Zeitrechnung erreichte.

Hierbei handelte es sich nicht um eine gradlinige Entwicklung. Einige Gesellschaften begannen erst mit der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelherstellung, nachdem sie mit Kolonialmächten in Berührung gekommen waren, andere widersetzten sich auch diesem Einfluss und behielten ihre Lebensweise als Jäger und Sammler bis in jüngste Zeit bei.

Dialektische Entwicklung

Engels ist oft dafür kritisiert worden, dass er im „Ursprung“ die Vorstellung einer gradlinigen Gesellschaftsentwicklung vertritt, was im Widerspruch zu seinen und Marx‘ allgemeineren Werken zu historischen Entwicklungen stünde. Diese Kritik scheint eher auf den fehlenden Informationen, die Engels über verschiedene Gesellschaften zur Verfügung standen auf der einen, und den Fehlern seiner „Interpreten „und „Gefolgsleute“ auf der anderen zu beruhen, als darauf, dass Engels tatsächlich dieser Auffassung war. Die Gründe dafür, dass historische Volksgruppen vom Jagen und Sammeln zu einfacher Landwirtschaft übergingen, unterschieden sich wahrscheinlich von Region zu Region.

Umweltfaktoren, wie der Rückgang wild vorkommender Nahrungsmittel oder eine Zunahme domestizierbarer Pflanzen könnten eine Rolle gespielt haben.

Einige Jäger und Sammler-Gemeinschaften, die in Gegenden mit ergiebigen natürlichen Ressourcen lebten (zum Beispiel der nord-westlichen Pazifikküste Nordamerikas) waren in der Lage, ein relativ sesshaftes Leben zu führen, aber die meisten lebten nomadisch und zogen umher, um das natürliche Nahrungsangebot optimal zu nutzen.

Dies begann sich mit der Einführung einfacher landwirtschaftlicher Techniken (Brandrodung, Hacke und Grabstock) zu ändern.

Der Boden musste nun vorbereitet und Feldfrüchte mussten gesät und geerntet werden. Dies erforderte mehr ständige Aufmerksamkeit der Produzenten.

Mit der Zeit wurden einige Verwandtschaftsgruppen immer sesshafter, bildeten kleine, dauerhafte Siedlungen und gaben die nomadische Lebensweise schließlich auf. Zusammen mit steigender Produktivität legte der sesshafte Lebensstil die Grundlage für eine höhere Fruchtbarkeit der Frauen und einen Bevölkerungszuwachs.

Die Größe einer Jäger- und Sammler-Gruppe war normalerweise dadurch begrenzt, dass auf die Besonderheiten des Nomadenlebens und die Verfügbarkeit des Nahrungsangebots Rücksicht genommen werden musste. Für Frauen war es nicht erstrebenswert, bei den Wanderungen mehr als ein Kind herumzutragen. Daher versuchten sie, die zeitliche Geburtenfolge (auf circa vier Jahre) auszudehnen, in dem sie den fruchtbarkeitsmindernden Effekt des Stillens ausnutzten, Abstinent lebten oder falls erforderlich, auch Abtreibungen und Infantizide (9) vornahmen. In sesshaften Gesellschaften verloren diese Einschränkungen an Bedeutung und Frauen bekamen regelmäßiger Kinder (im Durchschnitt alle zwei Jahre). Die Bevölkerung begann langsam zu wachsen.

In Gesellschaften, die einfache Landwirtschaft betrieben, wirtschafteten die einzelnen Haushalte- oder Hausgenossenschaften oft – wenn auch keineswegs immer – selbstständig, das Land befand sich jedoch im kollektiven Besitz der Verwandtschaftsgruppe.

Die Nahrungsmittelverteilung erfolgte gemeinschaftlich und ökonomische und soziale Beziehungen waren im Allgemeinen auf Basis von Verwandtschaftsbeziehungen organisiert, die im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung dazu tendierten, immer stärker formalisiert zu werden.

Die gesellschaftlich akzeptierten Normen bezüglich des Zugangs zu Ressourcen – auf welcher Basis die Produktion organisiert wurde, wie die Arbeitsteilung aussah, wie die Erzeugnisse verteilt und innerhalb der eigenen, beziehungsweise mit anderen Gruppen ausgetauscht wurden, wer wen heiraten konnte et cetera – wurden mit der Zeit mehr und mehr reguliert und strukturiert. Sie waren jedoch noch immer auf der Grundlage von Verwandtschaft und auf den allgemeinen Wertvorstellungen der Kooperation und des Austausches, sowie der gegenseitigen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten, auf die sich die Gruppe verständigt hatte, organisiert.

Die Entstehung der Klassengesellschaften

Wie Engels erklärte, trugen die neuen wirtschaftlichen und sozialen Kräfte, die aus den veränderten Produktionsmethoden entstanden, bereits die Saat für potenzielle Konflikte in und zwischen den Verwandtschaftsgruppen in sich. Sie untergruben die egalitären, kollektiven Organisationsprinzipien, auf denen die Gruppen basierten.

Dennoch handelte es sich nicht um einen unvermeidlichen oder gradlinigen Prozess und jede Gesellschaft hatte ihre eigene Dynamik.

In einigen schritten die inneren Prozesse fort, bis sich Klassenunterschiede herausgebildet hatten. In anderen wurden sie in Zwischenstadien der Entwicklung aufgehalten, manche brachen zusammen, bevor der Prozess abgeschlossen war.

Viele Gesellschaften entwickelten die Klassengesellschaft nicht aus sich selbst heraus. Sie wurde ihnen von außen durch Kolonialmächte aufgezwungen. Zudem handelt es sich um Prozesse, die sich in den meisten Fällen über Tausende von Jahren nach und nach entfalteten.

In Jäger- und Sammler- Gesellschaften war die Produktion überwiegend für den direkten Verbrauch der Gruppenangehörigen bestimmt.

Mit der Entwicklung der Landwirtschaft und den sie begleitenden technischen Verbesserungen, wie der Töpferei und der Metallverarbeitung – und später durch intensivere Produktionsmethoden mit Hilfe des Pfluges und der Bewässerung –, wurde es mit der Zeit möglich, die Erträge über das zur Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse der Gruppe hinaus Erforderliche zu steigern.

Es wurde möglich, Vorräte überschüssigen Getreides und anderer Nahrungsmittel anzulegen, auf die man in Notzeiten, die durch Missernten, die von Stürmen, Dürren, Schädlingsbefall und so weiter verursacht wurden, zurückgreifen konnte.

Eine wachsende Überproduktion ermöglichte es zudem, einige Individuen oder Gruppen, wie zum Beispiel Handwerker, Händler, Krieger oder Priester von der Verpflichtung zur Teilnahme an der Nahrungsproduktion freizustellen.

In einigen Gesellschaften übernahm ein besonderes Mitglied der Gruppe, das besonderes Prestige gewonnen hatte (Dorfältester, „Anführer“ et cetera) die Verantwortung für die Sammlung und die Verteilung des Überschusses. Dies geschah oft bei zeremoniellen Festen.

Anfänglich verlieh dieses Amt, das für die Gruppe als Ganzes und zu ihrem Nutzen ausgeübt wurde, der Person, die es den Traditionen von Gegenseitigkeit und Großzügigkeit entsprechend ausübte und von der gewöhnlich erwartet wurde, mehr zu geben, als selbst zu nehmen, keine besondere Privilegien oder Kontrollmöglichkeiten.

Trotzdem war die Grundlage für die Entstehung von Differenzen und Wettbewerb zwischen den Nachkommen (Abstammungsgruppen beziehungsweise Familienverbänden) und Hausgemeinschaften gelegt, da mehr Produktivität mehr Prestige verlieh.

In einigen Fällen wurde das Amt des Anführers oder „Ältesten“ einer Abstammungsgruppe vererbbar und es tauchten Häuptlinge auf, die in Gesellschaften mit ausgeprägteren sozialen Differenzierungen einen privilegierten Zugriff auf die Ressourcen gewannen, auch wenn sie noch keine absolute Kontrolle ausübten.

Rangfolgen, Hierarchien und ungleicher Zugang zu Ressourcen entwickelten sich neben und im Widerspruch zu den bestehenden horizontalen und kollektivistischen Organisationsprinzipien der Gruppen.

In Gesellschaften, in denen der dominante Nachkomme, eine Gruppe oder der Häuptling versuchte, von der Verpflichtung zur Reziprozität abzuweichen, war der Weg für die Entstehung von Klassenunterschieden geebnet, die es einer oder mehreren sozialen Gruppen erlaubten, sich einen Teil der Erzeugnisse und / oder der Arbeit anderer anzueignen, ohne die verwandtschaftliche Verpflichtung zur Gegenleistung zu erfüllen.

Die Festigung staatlicher Strukturen

Je mehr sich Ungleichheit und Klassendifferenzierung herausbildeten, desto größer wurde die Notwendigkeit, spezielle Institutionen und Gewaltmittel zu schaffen, um die zunehmend komplexen Gesellschaften zu verwalten, die Produzenten zu zwingen, die Produktion zu erhöhen, und Abgaben beziehungsweise Steuern und Arbeitskraft aus ihnen herauszupressen.

Diese wurden wiederum benutzt, um die privilegierte Position der herrschenden Gruppe zu schützen, zu legitimieren und dauerhaft aufrecht zu erhalten.

Natürlich gibt es Berichte von Widerstand und Rebellion gegen etablierte beziehungsweise entstehende Formen von Klassenherrschaft, aber die herrschenden Eliten stützten sich oft auf Verwandtschaftsbeziehungen, die weiter existierten, obwohl die Klassenverhältnisse die Gesellschaft bereits dominierten.

Die Ideologie der verwandtschaftlichen Kooperation spielte eine entscheidende Rolle bei der Rechtfertigung von sozialen Schichten und Ausbeutung und dabei, deren Akzeptanz innerhalb der breiteren sozialen Gruppe sicherzustellen.

Die erfolgreichsten Familien und ihre Führer wurden gewöhnlich als den Ahnen und Göttern der Gruppe besonders nahestehend betrachtet. Dieses Umfeld erklärte ihre Fähigkeit, die Produktion zu steigern, besonders fruchtbar zu sein und so weiter und rechtfertigte so den Fortbestand ihrer Herrschaft als erforderlich für das Wohlergehen der gesamten Gruppe.

Die Rolle der Priester und Priesterkasten war eng mit der ideologischen Legitimation der ökonomischen und politischen Macht der herrschenden Schicht verknüpft. In einigen Fällen (zum Beispiel Mesopotamien) sind die herrschenden Gruppen selbst aus der Priesterkaste hervorgegangen.

Dort, wo sich dieser Prozess am weitesten entwickelte, wurde die Ideologie als Staatsreligion institutionalisiert. Die Entwicklung der Klassenbeziehungen variierte erheblich von Gesellschaft zu Gesellschaft und sie konnte ein veränderlicher Prozess sein, bei dem es zu Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen der Elite kam.

Im „Ursprung“ skizziert Engels die Prozesse, die bei der Herausbildung der Sklaverei im klassischen Griechenland und in Rom eine Rolle spielten. Die ersten bekannten Klassengesellschaften basierten allerdings auf dem, was Marx als „asiatische Produktionsweise“ bezeichnet. Die Bezeichnung ist irreführend, da sich solche Gesellschaften auch außerhalb Asiens entwickelten. Obgleich Sklaverei auch in diesen Gesellschaften existiert haben mag, war sie nicht die herrschende Produktionsweise. Grund und Boden befanden sich nicht in Privateigentum, wie dies in Feudalgesellschaften der Fall ist, sondern wurden als „Eigentum“ des Staates betrachtet. Dieser Staat beutete die Kleinbauern und andere, untergeordnete Gruppen aus, indem er im Interesse der herrschenden Eliten Abgaben oder Steuern eintrieb und kollektive Arbeitseinsätze bei groß angelegten, öffentlichen Projekten wie Straßenbau, Bewässerung und dem Bau von Tempeln und Begräbnisstätten einforderte.

Die ersten dieser Stadtstaaten entstanden wahrscheinlich um 3.700 vor unserer Zeitrechnung in Mesopotamien. Die wirtschaftliche Umverteilung, Religion, Handwerk, Schrift, Handel und so weiter wurden dort durch und um die Tempel herum organisiert. Der Staat stellte den Kleinbauern die Produktionsmittel zur Verfügung und eignete sich den Überschuss an.

Der Niedergang der Stellung der Frau in der Gesellschaft im Vergleich zu der des Mannes war untrennbar mit den wirtschaftlichen und sozialen Prozessen verbunden, die auch zur Entstehung sozialer Schichten, Klassenungleichheit und staatlicher Strukturen führten.

Es handelt sich daher nicht, wie einige „Interpreten“ von Engels anzudeuten scheinen, um ein plötzliches Ereignis, sondern um das Ergebnis einer langen, widersprüchlichen Entwicklung, die sich über Tausende von Jahren entfaltete. Im Laufe dieser Entwicklung existierten in verschiedenen Gesellschaften auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen ganz unterschiedliche Grade der Unterordnung.

Engels liefert keine vollständige Erklärung, warum Männer – und nicht Frauen – das dominante Geschlecht wurden, aber die verfügbaren wissenschaftlichen Beweise deuten darauf hin, dass die bereits in den Verwandtschaftsgruppen existierende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung dazu führte, dass überwiegend Männer die gesellschaftlichen Positionen innehatten, die am deutlichsten mit der Anhäufung, Lagerung und Verteilung des Überschusses in Verbindung gebracht wurde.

Auch wenn nachgewiesen ist, dass – insbesondere in afrikanischen Gesellschaften – auch Frauen Häuptlinge, Händler und Schamanen werden konnten, waren es überwiegend Männer, die diese Positionen einnahmen. Auch die Krieger, die für die Verteidigung und die Anhäufung des Überproduktes zuständig waren, waren überwiegend männlich.

In den Gesellschaften, in denen die landwirtschaftlichen Techniken schwerer und intensiver wurden, fiel Männern die Verantwortung für das Pflügen und die Bewässerung zu.

Die Arbeitsteilung führte unter den Bedingungen der egalitären, urkommunistischen wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen nicht zu hierarchischen Geschlechterverhältnissen. Sie bildete jedoch die Grundlage für die durch Männer dominierte Kontrolle über das wachsende Mehrprodukt und schuf so später die Basis für das wachsende Prestige und die zunehmende Macht der beziehungsweise einiger Männer in der Gesellschaft.

Institutionalisierte Geschlechterungleichheit

Gleichzeitig steigerten die veränderten Produktionsmethoden die Bedeutung der individuellen Hausgemeinschaften und Haushalte in ihrer Eigenschaft als wirtschaftliche Einheiten neben und in Konkurrenz zu der Verwandtschaftsgruppe.

In den ersten Klassengesellschaften bediente sich der Staat bei der Aneignung eines Teils der Erzeugnisse der Hausgemeinschaften des Haushaltsvorstandes, dem es oblag, den Tribut zu übergeben. Hierdurch wurde die Kontrolle der Männer über die Erzeugnisse der Frauen des Haushaltes gestärkt. Als Konsequenz hieraus wurden Frauen wirtschaftlich immer abhängiger von einem einzigen männlichen Haushaltsvorstand und verloren ihre relative Selbständigkeit in der Gesellschaft. Gleichzeitig wurde ihre Arbeit, die bisher in einer gesellschaftlichen Funktion für die Verwandtschaftsgruppe geleistet wurde, nach und nach zu einer privaten Tätigkeit im individuellen Haushalt.

Auch Frauen, die zu der/den ökonomisch dominanten Gruppe/n gehörten, verloren normalerweise ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit und gerieten unter die Kontrolle der Männer. Im Vergleich zu den untergeordneten Klassen, deren Arbeitskraft ausgebeutet wurde, um das Mehrprodukt zu erwirtschaften, behielten sie jedoch einen gewissen gesellschaftlichen Einfluss.

In frühen Verwandtschaftsgruppen diente „Exogamie“ (also die Heirat außerhalb der Gruppe), anders als von Engels angenommen, nicht unbedingt zum Ausschluss einer Eheschließung zwischen Verwandten (Inzest), sondern vorwiegend dem Aufbau von Kooperationsbündnissen zwischen verschiedenen Gruppen.

Auch „tauschten“ Männer Frauen nicht als Waren aus, wie Vertreter des anthropologischen Strukturalismus (10) und einige FeministInnen behaupten. Vielmehr war die Verwandtschaftsgruppe als Ganzes, einschließlich der Frauen, in solche Entscheidungen eingebunden (11).

Während Klassenungleichheit zunahm, übernahmen Eheschließungen innerhalb der herrschenden Eliten immer mehr eine politische Funktion mit dem Ziel, Reichtum, Macht und Prestige zu steigern und zu sichern.

Da die wirtschaftlich dominanten Gruppen danach trachteten, den Reichtum und die ökonomische Kontrolle in den herrschenden Familien und Hausgemeinschaften zu bewahren, erlangte die Erbschaft eine wachsende Bedeutung und stärkte und unterstützte die Verbreitung von Patrilokalität (12) und Patrilinearität.

Gleichzeitig wurde die Kontrolle über die Fortpflanzung und die Sexualität der Frauen verstärkt, bis außereheliche Beziehungen von Frauen schließlich mit drakonischen Strafen belegt wurden.

Mit der Zeit wurde die monogame, patriarchale Familie, auf die Engels Bezug nimmt, die wichtigste Form der Familieneinheit. In ihr übt ein männliches Individuum die totale Kontrolle über alle Mitglieder seines Haushaltes aus. Dies schließt das Recht, physische Gewalt auszuüben, ein. Allerdings entstand diese Form der Familie erst in einem späteren Stadium der Entwicklung der Klassengesellschaft, als Engels vermutete.

Mit der Verfestigung der Klassenherrschaft wurden diese ungleichen Geschlechterverhältnisse nach und nach immer mehr institutionalisiert und in Gesetze gegossen, verstärkt und verewigt durch staatliche Ideologie und Religion.

Echte Befreiung

Trotz seiner Ungenauigkeiten bleibt Engels „Ursprung“ ein kraftvolles Buch, das die Entstehung der Frauenunterdrückung als Teil eines historischen Prozesses erklärt und zeigt, dass männliche Dominanz und die systematische Unterdrückung der Frau keine naturgegebenen Zustände sind.

Es zeigte, dass sich die gesellschaftliche Stellung der Frau in der Vergangenheit gewandelt hat (genau wie sich wirtschaftliche und soziale Bedingungen gewandelt haben). Und es zeigte, dass auch zukünftige Veränderungen die Basis für eine Veränderung des Lebens der Frauen und für ein Ende ihrer Unterdrückung schaffen können.

Engels schreibt, „dass die Befreiung der Frau zur ersten Vorbedingung hat die Wiedereinführung des ganzen weiblichen Geschlechts in die öffentliche Industrie“ (13).

Über die letzten Jahrzehnte hinweg haben wir gesehen, wie strukturelle Veränderungen im Kapitalismus in vielen Ländern der Welt zu einem signifikanten Anstieg der Beteiligung der Frauen am Arbeitsleben geführt haben. Während dies zweifellos einen positiven Effekt auf die Vorstellungen und Erwartungen der Frauen selbst hatte und auch die sozialen Einstellungen im weiteren Sinne beeinflusste, bleibt die soziale und persönliche Unabhängigkeit der Frau durch die Bedürfnisse des kapitalistischen Systems beschränkt.

Engels führt weiter aus, dass diese Wiedereinführung in die öffentliche Produktionssphäre wiederum „die Beseitigung der Eigenschaft der Einzelfamilie als wirtschaftlicher Einheit der Gesellschaft“ erfordert.

Die Institution Familie und die Rolle der Frau in ihr haben offenkundig signifikante Veränderungen erfahren, seit Engels „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ geschrieben hat. Dennoch hat sie ihre wirtschaftliche und ideologische Bedeutung für den unter einer systematischen Krise leidenden und von Widersprüchen zerrissenen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts behalten: Sie ermöglicht es, Frauen am Arbeitsplatz als billige Arbeitskräfte auszubeuten, während sie gleichzeitig zu Hause ihre traditionelle Rolle als unbezahlte Pflegepersonen weiterspielen.

Die kapitalistische Ideologie hat sich in Bezug auf die Rolle der Frau und ihre Stellung in der Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert verändert. Aber die Ideen und Werte dieses auf Warenproduktion zur Profitmaximierung und der ungleichen Verteilung von Reichtum und Macht basierenden Systems stützen sich auf die Rückstände überholter Vorstellungen von männlicher Autorität und Überlegenheit, die ihre Wurzeln in früheren Klassengesellschaften haben. Sie verbinden sich mit ihnen und schreiben sie fort.

Als Konsequenz daraus sind Frauen weiterhin Gewalt, sexuellem Missbrauch und der Einschränkung ihr Sexualität und Fortpflanzung unterworfen, während sie sich mit Sexismus, Diskriminierung und Geschlechterstereotypen konfrontiert sehen und feststellen müssen, dass in Bezug auf das Geschlecht weiterhin mit zweierlei Maß gemessen wird.

Für Engels war die Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum die Voraussetzung für die Lösung der Probleme, mit denen Frauen in der Gesellschaft konfrontiert sind: „Mit dem Übergang der Produktionsmittel in Gemeineigentum hört die Einzelfamilie auf, wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft zu sein. Die Privathaushaltung verwandelt sich in eine gesellschaftliche Industrie. Die Pflege und Erziehung der Kinder wird öffentliche Angelegenheit; die Gesellschaft sorgt für alle Kinder gleichmäßig (…)“ (14).

In einer sozialistischen Gesellschaft werden die persönlichen Beziehungen von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zwängen befreit, die sie bis heute einschränken. Hierdurch wird die Grundlage für eine wirkliche Befreiung gelegt. 130 Jahre nachdem sie geschrieben wurden, haben Engels Worte zur Beendigung der Unterdrückung der Frau nichts von ihrer Kraft verloren.

Christine Thomas ist Mitglied der italienischen sozialistischen Organisation „Controcorrente“ und gehört dem internationalen Vorstand des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI) an. Sie lebt in Bologna. Ihr Artikel erschien zuerst im September 2014 in der „Socialism Today“ Nr. 181, dem Magazin der Socialist Party in England und Wales.

Quellen und Fußnoten

1 Friedrich Engels – „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ in: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 27.

2 Der Hack- beziehungsweise Gartenbau ist die ursprüngliche Form der Landwirtschaft. Die Feldwirtschaft mit Hilfe von Pflügen (Pflugbau) und Bewässerungssystemen entstand später. Die Übergänge sind auf Grund unterschiedlicher geographischer Bedingungen allerdings fließend.

3 Leacock: Myths of Male Dominance, Monthly Review Press

4 Leacock and Lee: Politics and History in Band Societies, Cambridge University Press, 1982; Lee, The !Kung San, Cambridge, 1979

5 Coontz and Henderson: Women‘s Work, Men‘s Property, Verso, 1986

6 Gaitley: Kinship to Kingship, Gender Hierarchy and State Formation, University of Texas Press, 1987

7 „Gegenseitigkeit“ im Sinne von Tausch und Austausch, oft von Geschenken und Gefälligkeiten

8 Ein sichelförmiges Gebiet, das die hügeligen Randbereiche des südwestasiatischen Gebirgsbogens zwischen Palästina und dem Nordwestiran einschließlich des Zweistromlandes (Euphrat und Tigris) umfasst

9 Kindstötungen, vornehmlich das „Aussetzen“ von Neugeborenen

10 Weiteres dazu vor allem bei Levi-Strauss

11 Weiteres dazu bei Leacock, Gaitley, Coontz and Henderson

12 Bei einer Heirat zieht die Frau in den Haushalt des Mannes.

13 Friedrich Engels – „Der Ursprung… “ in: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 76.

14 ebenda S. 77

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