Bisher unveröffentliche Texte sind erschienen
Zwischen 2011 und 2015 sind mehrere Sammlungen mit Texten von Rosa Luxemburg erschienen. Zum Teil handelt es sich um Artikel, die vor über 100 Jahren in der sozialdemokratischen Presse veröffentlicht worden waren, um Zeitungsartikel und Polizeiberichte über Reden (häufig in Wahlkämpfen) von ihr. Mehrere Publikationen brachten polnische Texte von ihr zum ersten Mal in deutscher Übersetzung.
Von Wolfram Klein
Fast 1000 Seiten stark ist der sechste Band ihrer Gesammelten Werke, der 2014 im Dietz-Verlag erschien. In den 1970er Jahren war eine fünfbändige Werksausgabe in der DDR erschienen, die aber keineswegs vollständig war und jetzt ergänzt wurde.
Band 6 der „Gesammelten Werke“
Der erste Text ist ein kurzer Zeitungsbericht über ihre Intervention auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Zürich 1893, der letzte ein Zeitungsbericht über ihre Verteidigungsrede vor dem Landgericht in Weimar Ende 1906.
Einen Großteil des Bandes machen aber nicht oder nur mit Kürzel gezeichnete Artikel aus, deren Verfasserin Rosa Luxemburg sicher oder sehr wahrscheinlich war (nach ihrem eigenen Zeugnis in ihrem Briefwechsel, nach Angaben von ZeitgenossInnen etc.). Meistens behandeln die Artikel andere Länder. Ein Schwerpunkt ab 1898 ist Frankreich. Die Artikel behandeln die Dreyfus-Affäre: Es hatte in den 1890er Jahren in Frankreich einen Spionagefall gegeben. Da von den in Frage kommenden Generalstabsoffizieren nur einer Jude war, nämlich Alfred Dreyfus, war für die Reaktion und das Militärgericht klar, wer der Täter sein musste. Dreyfus wurde 1894 auf die Teufelsinsel in der französischen Kolonie Cayenne verbannt. Dieses Justizverbrechen und der Kampf für seine Rückgängigmachung führte zu einer tiefen innenpolitischen Krise und jahrelangen politischen Kämpfen. Das Thema führte auch zu Konflikten in der französischen Arbeiterbewegung, insbesondere nachdem Alexandre Millerand in die Regierung eintrat. Andere Artikel behandeln andere Fragen der französischen Arbeiterbewegung, Streiks, die Konflikte der verschiedenen Strömungen, ein Porträt des afrokaribischen sozialistischen Abgeordneten Legitimus aus Guadeloupe usw. Andere Länder, die in ihren Artikeln behandelt werden, sind zum Beispiel Belgien und Italien.
Natürlich spielen auch die innerparteilichen Konflikte in der deutschen Sozialdemokratie eine Rolle. So ist die 13-teilige Artikelserie „Erörterungen über die Taktik“, in der sie Ende 1898 als Chefredakteurin der Sächsischen Arbeiterzeitung in Dresden den damals gerade aufkommenden Bernsteinschen „Revisionismus“ diskutierte, hier vollständig wiedergegeben. (Eduard Bernstein behauptete, die Marxsche Theorie benötige eine Revision, die SPD müsse in eine Reformpartei verwandelt werden, was er schließlich auch erreichte, mit verheerenden Folgen für die Arbeiterklasse). Auch als sie Ende 1905 ein paar Wochen Redakteurin des SPD-Zentralorgans „Vorwärts“ war, befasste sie sich in der Rubrik „Aus der Partei“ häufig mit den innerparteilichen Kontroversen. Damals wurde vor dem Hintergrund der ersten russischen Revolution überall in der SPD der politische Massenstreik lebhaft diskutiert … überall, nur nicht im Zentralorgan der Partei. Die Folge war, dass nachdem der Parteitag in Jena im September den politischen Massenstreik mit einigem Wenn und Aber gebilligt hatte, die opportunistische Redaktionsmehrheit abserviert und endlich eine linke Redaktion einschließlich Rosa Luxemburg, die dem Willen der Mitgliedschaft besser entsprach, gebildet wurde.
Die Revolution 1905/06
„Die Revolution in Russland“ 1905 nimmt den größten Raum in diesem Band ein. Neben der von Rosa Luxemburg gestalteten Rubrik dieses Namens, in der sie Agenturmeldungen zusammenstellte und bei Bedarf kommentierte, schrieb sie mehrere Hintergrundartikel, die verschiedene Aspekte der Revolution vertiefen.
Natürlich kommen in dem umfangreichen Buch viele weitere Themen vor, zum Beispiel wird das Thema „Marxismus und Religion“ aus verschiedenen Blickwinkeln diskutiert.
Wie erwähnt, sind auch eine ganze Reihe von Reden Rosa Luxemburgs in Form von Presse- bzw. Polizeiberichten dokumentiert. Auch wenn die Qualität der Berichte natürlich durchwachsen ist, kann man auch daraus das eine oder andere lernen. So gibt ein Polizeibericht über einen Vortrag 1902 wider: „Die Sozialgesetze seien für den Arbeiter, was die Jagdgesetze für das Wild sind. Es wird eine Schonzeit für das Wild festgesetzt, um hernach dasselbe in desto größeren Mengen für den Kochtopf der Kapitalisten vernichten zu können.“ (S. 353) Ach, wenn doch DIE LINKE heute nicht nur ihre Stiftung nach Rosa Luxemburg benennen würde, sondern in ihrer Agitation ähnlich drastisch die Begrenztheit von Sozialpolitik im Kapitalismus benennen würde.
Dem Vorwort ist zu entnehmen, dass wir auf noch zwei weitere Bände hoffen dürfen, einen Band mit Texten aus den Jahren 1907 bis zu ihrer Ermordung und einen Band mit übersetzten polnischen Texten.
Zum Glück müssen wir uns mit polnischen Texten nicht bis zu diesem Band 8 gedulden, weil in den letzten Jahren auch mehrere Bücher mit polnischen Texten erschienen sind.
Ein Gegenstück zu den Artikeln über die Revolution 1905 für die deutsche Parteipresse sind die Artikel zum selben Thema für die polnische Presse, die in dem 2015 im Dietz-Verlag erschienenen Band „Arbeiterrevolution 1905/06: Polnische Texte“ versammelt sind. Die meisten Artikel stammen in der Tat aus den im Titel genannten Revolutionsjahren, ein paar sind auch von 1904 bzw. 1908 (quasi Vorgeschichte und Auswertung). Ähnlich wie in den oben erwähnten Texten im Band 6 wird die ungeheure Dynamik der damaligen Arbeiterrevolution deutlich. Schwerpunkt sind naheliegenderweise die Ereignisse im damals zum russischen Zarenreich gehörenden Teil Polens. Diese spielen auch in ihren deutschen Texten zur Revolution in Russland eine große Rolle, schließlich war Russisch-Polen damals eine Hochburg der Revolution.
Dagegen spielt die Auseinandersetzung mit dem polnischen Nationalismus hier keine große Rolle – weil dieser damals, als russische und polnische ArbeiterInnen gemeinsam gegen ihre gemeinsamen Feinde kämpften, objektiv keine große Rolle spielte.
Gegen den polnischen Nationalismus
Dagegen ist das in anderen der hier besprochenen Texte ein wichtiges Thema.
Ihre oben erwähnte Rede auf dem Sozialistenkongress in Zürich 1893 ging um die Anerkennung des Delegiertenmandats für ihre polnische Partei SDKP, weitere Texte setzen sich mit der „sozialnationalistischen“ PPS bzw. der sozialdemokratischen „Sonderorganisation“ der polnischen Minderheit in Deutschland auseinander.
2011 veröffentlichte die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen Heft 8 ihrer in Leipzig erscheinenden Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, das unter anderem ihre „erste theoretische Arbeit“ von 1895, „Das unabhängige Polen und die Arbeiterfrage“, enthält. Das Heft 10 von 2013 enthält zwei weitere polnische Texte, einen Parteitagsbericht über den Parteitag ihrer polnischen Partei (inzwischen in SDKPiL umbenannt) von 1902 und die Einleitung zu einer Agitationsbroschüre.
Vor allem ist aber 2012 ihr Hauptwerk zur nationalen Frage, „Nationalitätenfrage und Autonomie“ vollständig auf Deutsch erschienen. Aus Platzgründen ist es hier nicht möglich, ausführlich auf ihre Position in dieser Frage und ihre Differenzen mit Lenin einzugehen. Da diese Differenzen aber vom ansonsten durchaus verdienstvollen Übersetzer und Herausgeber maßlos übertrieben werden, sind zumindest ein paar Worte notwendig. Es gab keine Differenzen zwischen ihnen, dass auf der einen Seite der Kampf gegen nationale Unterdrückung notwendig ist, dass auf der anderen Seite die Arbeiterbewegung für den gemeinsamen Kampf der polnischen und russischen ArbeiterInnen für ihre gemeinsamen Interessen eintreten muss. Lenin hatte auch keine Einwände, wenn Rosa Luxemburg und ihre polnische Partei SDKPiL als „Gegengift“ gegen die nationale Unterdrückung nicht für die Unabhängigkeit Polens, sondern für Autonomie innerhalb eines vom Zarismus befreiten Russlands eintrat. Er bestand aber darauf, dass russische RevolutionärInnen für das Recht der PolInnen auf Unabhängigkeit eintreten müssen, unabhängig davon, ob die PolInnen demokratisch dafür oder dagegen entscheiden, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Rosa Luxemburg dagegen bestand darauf, dass eine nationale Unabhängigkeit Polens für immer unmöglich geworden sei und es keine relevanten gesellschaftlichen Kräfte gebe, die für sie einträten, weshalb auch die russische Arbeiterbewegung sie ablehnen müsse. Offenkundig hat sie hier die Kompliziertheit der historischen Entwicklung unterschätzt.
„Nach dem Pogrom“
Als letztes wäre noch die Textsammlung „Nach dem Pogrom. Texte über Antisemitismus 1910/11“ (Potsdam 2014) zu erwähnen. Anlass war damals eine Welle antisemitischer Hetze in der polnischen bürgerlichen Presse, heute würde man es vielleicht „medialen Shitstorm“ nennen. Hintergrund war das zurückgeworfene Bewusstsein und die Flut reaktionärer Ideen nach der Niederlage der Revolution 1905/06. Wie es in der Revolution selbst mit dem Antisemitismus aussah, dafür gibt sie in einem der Artikel ein anschauliches Beispiel: „Auf den Straßen Warschaus wurde in einer großen Menge von Arbeitern im Lärm des einfachen, arbeitenden Volks ein feiner Herr ausgemacht, der anfing, etwas von ,Juden‘ anzudeuten. Der Kuckuck weiß, woher er kam und was er wollte. Aber er deutete etwas von ,Juden‘ an. Plötzlich wurde es ganz eng um ihn, kaum atmen konnte er noch. Im nächsten Augenblick spürte er auf seinen Rippen die ungehobelten, starken Arbeiterfäuste und lag sofort am Boden, zusammen mit dem Atem verging ihm die Rede von den ,Juden‘, derart schnell wurde er rüde zusammengeknautscht, sodass er weder dazu kam, sich auf lange Jahre ,öffentlicher Arbeit‘ zu berufen, noch zu erklären, um welche Juden es ihm überhaupt gehe. In jenem Augenblick wurde auf dem Warschauer Straßenpflaster mit Arbeiterfäusten die polnische Kultur gerettet.“
Natürlich ist es aus Platzgründen nicht möglich, in diesem Artikel sechs Publikationen mit über 1500 Seiten wiederzugeben. Wenn diese Zeilen LeserInnen Lust machen, Rosa Luxemburg im Original zu lesen, haben sie ihren Zweck erfüllt.