Regierung in Schwierigkeiten
Nach den größten und weit verbreiteten Streiks und Demonstrationen der vergangenen Woche im aktuellen Kampf um die Rentenrechte in Frankreich kündigte Premierminister Édouard Philippe die Aussetzung des Regierungsvorschlags zur Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre an. Dies ist ein Rückzieher, der zweifellos das Prestige des Präsidenten des Landes, Emmanuel Macron, beschädigt, welcher versucht hat, sich aus dem Kampf herauszuhalten. Nach der Hälfte seiner Amtszeit liegt Macrons Zustimmungswert bei etwa einem Drittel der Bevölkerung, während die Unterstützung für die Streikenden zwei Drittel erreicht!
Von Clare Doyle, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale
Da sich immer mehr Schichten der arbeitenden Bevölkerung der Bewegung angeschlossen haben, sind die Führer*innen der kämpferischsten Gewerkschaftsverbände, der Confédération Générale du Travail (CGT), der Force Ouvrière (FO) und anderer kleinerer Gewerkschaftsorganisationen nicht bereit, einen Teilsieg zu akzeptieren. Die Regierung schlägt eine Ständige Konferenz vor, um zu diskutieren, wie die Finanzierung des Rentensystems bis 2027 – also auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung – ausgeglichen werden kann. Laurent Berger, der Vorsitzende des gemäßigten Gewerkschaftsbundes CFDT (Confédération Française Démocratique du Travail), sagte, man sei bereit, sich daran zu beteiligen – ein Prozess, der bis Ende April Ergebnisse vorlegen soll. „Es gibt keinen Haken“, sagt der Premierminister.
Aber das ist nicht das Gefühl der Hunderttausenden, die immer noch streiken und demonstrieren. Der kommende Mittwoch, Donnerstag und Freitag werden als weitere Streiktage genannt. Der Vorsitzende der CGT, Phillippe Martinez, fordert alle Arbeiter*innen und Jugendlichen auf, eine klare Botschaft zu senden, dass nichts weniger als die Rücknahme aller Angriffe auf das Rentensystem akzeptiert wird.
Diese Aktionspläne beinhalten eine Wiederholung der Demonstrationen vom vergangenen Samstag mit einer Massenbeteiligung in Städten und Gemeinden in ganz Frankreich. Sie beziehen eine große Anzahl von Demonstrant*innen ein, die an Streiktagen nicht an den Aktionen beteiligt sind, sowie Aktivist*innen der „Gelbwesten“, die immer noch gegen die Regierung von Macron um Verbesserungen kämpfen. Die Rentenrechte des Landes betreffen die arbeitenden Menschen in allen Lebensbereichen und der Versuch, sie zu beschneiden, vereint sie alle.
Renten
Die derzeitige, mächtige Bewegung in Frankreich hat einige der ungewöhnlichsten Streikenden einbezogen, von Balletttänzer*innen bis hin zu Anwält*innen. An einigen Orten haben die Elektrizitätsarbeiter*innen den Strom für die Regierung und andere Einrichtungen abgestellt und den Strom für die Versorgung der Haushalte der Arbeiter*innenklasse auf Niedrigsttarife umgeschaltet!
Das Rentensystem in Frankreich wird von den französischen Bossen und Pressekommentator*innen im Ausland als „großzügig“ angesehen. Aber es ist das Ergebnis von Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, des Kampfes der heldenhaften französischen Arbeiter*innenklasse. Es war Teil der Reformen, die durch die revolutionären Kämpfe während der Sitzstreiks von 1936 und 1944-1945 gewonnen wurden, und war in den siegreichen Kämpfen im öffentlichen Sektor von 1995 umkämpft.
Die Arbeiter*innen finanzieren die Rentenfonds bereits aus ihrem eigenen Einkommen: Warum sollten sie noch mehr bezahlen? Wenn es mit der Alterung der Bevölkerung ein Defizit geben wird, warum können die Bosse nicht aus ihren ständig wachsenden (und niedrig versteuerten) Gewinnen zahlen? Die Gelbwesten führen seit mehr als einem Jahr einen zähen Kampf um die Lebenshaltungskosten. Die Arbeiter*innen haben vereinzelte Streiks geführt, um auch nur karge Verbesserungen ihrer Bezahlung zu erreichen. Doch die führenden Unternehmen in Frankreich haben im vergangenen Jahr Rekorddividenden ausgeschüttet. Auf einem der Plakate auf einer Demonstration letzte Woche stand: „Frankreich – 6. Weltwirtschaftsmacht. Keine Renten(zahlung)! Keine (soziale) Hilfe! Wo ist das Geld???“.
Schwierigkeiten
Le Monde Diplomatique sagt über Macron: „Ein französischer Präsident hat selten so viele Debatten mit dem Volk geführt. Die Nachrichtensender haben ihn in Hemdsärmeln gezeigt, wie er sich angeblich mit der Menge beschäftigt, zuhört, diskutiert, interagiert und erklärt“. Dennoch wird er immer noch als distanziert und als „Präsident der Reichen“ angesehen.
Der Kampf um die Renten, der nun seit mehr als fünf Wochen erfolgreich geführt wird, hat Macron und seine Regierung in die Defensive gedrängt. Politische Parteien aller Couleur haben begonnen, sich auf die Kommunalwahlen im kommenden März zu konzentrieren. Es ist allgemein bekannt, dass der Premierminister, Édouard Philippe, beabsichtigt, zu seinem alten Amt als Bürgermeister von Le Havre zurückzukehren. Dies würde eine große Umbesetzung im Team des Premierministers bedeuten, da einige der regierenden En-Marche-Beamten mit ihm gehen.
Die Protestwelle gegen das derzeitige Regime hat sich nicht zu einem Generalstreik wie im Mai 1968 entwickelt und wird es wahrscheinlich diesmal nicht tun. Aber das CWI (Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale; internationale sozialistische Organsiation, deren Sektion in Deutschland die Sol ist; Anm. d. R.) in Frankreich, Gauche Révolutionnaire, hat unermüdlich zur Verallgemeinerung des Streiks aufgerufen. Sie setzen sich dafür ein, dass Entscheidungen durch Diskussionen auf Massenversammlungen in den Betrieben getroffen werden, für die Wahl von Kampfkomitees und die Vernetzung von Beschäftigtenvertreter*innen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Sie formulieren ein sozialistisches Programm und die Notwendigkeit einer Arbeiter*innenregierung.
GR hat auch am konsequentesten gefordert, dass Emmanuel Macron gehen muss. Auf einer der Demonstrationen zeigte ein pensionierter Bahnarbeiter die Verhärtung der Stimmung im Laufe der Wochen. Er sagte einem Reporter, er verliere die Geduld. Er hatte jetzt das Gefühl: „Köpfe müssen rollen!“. Obwohl das Frankreich ist, meinte er es offensichtlich nicht im wörtlichen Sinne, sondern im Sinne der Entfernung der Verursacher*innen der gegenwärtigen Krise von ihrer Verantwortung!
Perspektive
Das „Zugeständnis“ beim Rentenalter wird eher die Lust der Demonstrant*innen auf einen vollständigen Sieg erhöhen. Dennoch kann von den Gewerkschaftsführer*innen ein vorübergehender Waffenstillstand ausgerufen werden. Durch eine massive Kraftprobe wurde deutlich gemacht, dass „Reformen“ wie die Abschaffung des Vorruhestands bei anstrengenden Tätigkeiten oder erhöhte Rentenbeiträge von Angestellten nicht akzeptiert werden. Aber es wird schwierig für die Transportarbeiter*innen des SNCF-Schienennetzes, der RATP und RER der Pariser U-Bahn und der Busse. Die meisten von ihnen sind am längsten im Streik und haben wenig oder gar keinen Lohn erhalten. Ein Streikfonds, der weit über 3 Millionen Euro von 50.000 Beitragszahlern gesammelt hat, zeigt, wie sehr der Kampf unterstützt wird, kann aber nicht die Löhne aller Streikenden über einen längeren Zeitraum hinweg abdecken.
Die Führer*innen der streikenden Arbeiter*innen auf nationaler und lokaler Ebene sind zuversichtlich, dass, selbst wenn die Aktion irgendwann zurückgefahren werden muss, dies nicht bedeutet, dass der Kampf vorbei ist. Mit einer klaren Strategie und einem Programm für den Kampf kann die mächtige Kraft der französischen Arbeiter*innenklasse mit neuer Entschlossenheit für einen Kampf bis zum Ende mobilisiert werden.
Die Regierung von Philippe/Macron sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass der Kampf vorbei sei. Das Rentenreformgesetz muss verschiedene Diskussionsebenen durchlaufen, bevor es dem Parlament vorgelegt wird. Selbst wenn in der verallgemeinerten Streikbewegung eine Pause eingelegt wird, können fast sofort Scharmützel und Teilstreiks ausbrechen. Auf der anderen Seite könnte Macron beschließen, von besonderen Notstandsbefugnissen Gebrauch zu machen, wie er es 2018 mit den Angriffen auf die Arbeiter*innenrechte getan hat, und den Plan zur „Rationalisierung“ der Renten per Dekret durchsetzen. Selbst eine solche Maßnahme würde keine langfristige Entspannung des historischen Kampfes zwischen den Klassen in Frankreich bedeuten.
An diesem Donnerstag, dem 16. Januar, wird tatsächlich die gegenwärtige Streikwelle mit einem Aufruf an alle möglichen Teilnehmer*innen einen neuen Höhepunkt erreichen. Die Arbeiter*innen in den Häfen sind entschlossen, den gesamten Verkehr zu blockieren und die großen Unternehmen hart zu treffen. Die Eisenbahner*innen haben bereits dafür gestimmt, den Streik fortzusetzen, und in den Schulen werden die erwarteten neuen Angriffe der Regierung auf eine wachsende Mobilisierung von Schüler*innen und Studierenden sowie der bereits am Kampf beteiligten Lehrer*innen stoßen. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Kampf weitergehen wird und massive neue Konfrontationen auf der Tagesordnung stehen werden.
Dieser Artikel erschien zuerst auf www.socialistworld.net am 14. Januar 2020