China: Die Coronavirus-Krise erschüttert das Regime

Foto: China News Service/中国新闻网 (Creative Commons Attribution 3.0 Unported)

Wirtschaftliche und politische Folgen nicht absehbar

Es hält sich die Angst, dass die Zahl der Todesopfer des Corona-Virus weiter zunimmt, da es unmöglich ist, die Virusträger zu identifizieren bevor sich Symptome zeigen.

von Clare Doyle, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (19.2.2020)

In China selbst stieg die Zahl der Toten zunächst wegen der langen Reaktionszeit der Behörden unmittelbar nach dem Ausbruch der Krankheit. In den ersten sechs Wochen des Jahres 2020 starben 1800 Menschen und von weiteren 68.000 wusste man, dass sie infiziert waren. Was wie ein sprunghafter Anstieg der Zahlen der durch den so bezeichneten Virus Covid-19 Infizierten Mitte Februar aussah, ergab sich aus der Neudefinition, ab wann jemand als infiziert gilt. Die Todesrate in China scheint nun zu sinken, wie berichtet wird. Aber die Knappheit an grundsätzlichen Schutzmaterialien wie Masken verschärft das Problem.

In Hong Kong, wo der Ärger über das chinesische Regime sich bereits auf dem Siedepunkt befindet, kam es zu Massendemonstrationen und sogar Streiks von medizinischem Personal, welche forderten, die Grenzen zum Festland Chinas zu schließen.

Wirtschaft

Die Coronavirus-Krise – in China oder weltweit – ist noch lange nicht vorbei. Sie hat bereits mehr Opfer gefordert als die SARS-Epidemie von 2002/03, welche ebenfalls in China begann. Viele Veranstaltungen, Konferenzen und Sportereignisse werden verschoben. Wichtige Teile der chinesischen Wirtschaft kamen zum Stillstand, was einen Dominoeffekt auf Industrien in anderen Ländern und die Weltmarktpreise von Kupfer, Öl und Gas hat. Sorge um die Auswirkungen auf die Gesundheit des kapitalistischen Wirtschaftssystems insgesamt sind nicht von der Hand zu weisen, zumal sich dieses von der Krise vor zehn Jahren kaum erholt hat.

Die Chinesische Wirtschaft liegt in Bezug auf Größe und Einfluss hinter derer der USA auf Platz zwei, aber bereits vor dem gegenwärtigen Anziehen der Daumenschrauben in Bezug auf Handelsaktivitäten hatten sich die Zuwachsraten verlangsamt. Der Coronavirus-Notstand wird viele der staatlichen Ressourcen aufzehren und zu einer Plünderung der Reserven führen.

Die Art und Weise, wie auf eine Katastrophe reagiert wird – sei sie natürlichen Ursprungs oder menschengemacht – kann eine Regierung stärken oder stürzen. China ist ein flächenmäßig großes Land, mit der größten Bevölkerungszahl, welches aber durch einen millionenschweren Apparat jegliche Initiative erstickt und die Stimme des Volkes fürchtet. Eine kleine aber sehr reiche kapitalistische Elite herrscht im Namen des „Kommunismus“, handelt aber meist innerhalb der Regeln des Marktes. Aus Angst vor Verlust ihrer Machtposition toleriert diese Plutokratie keine Demokratie oder Kritik von unten, schon gar nicht demokratische Wahlen oder friedliche Proteste. Letztes Jahr kam es gerade in Wuhan zu tagelangen Straßenprotesten wegen einer Verbrennungsanlage, die zu nahe an einer Wohnsiedlung gebaut wurde – dies Proteste wurden durch staatliche Kräfte gewaltsam aufgelöst.

Verzögerung verschärft Krise

Schon vor Ende letzten Jahres warnte ein einsamer medizinischer Angestellter die Behörden in Peking vor einer drohenden tödlichen Epidemie. Seine Untersuchungsergebnisse wurden unterdrückt und Arztkolleg*nnen in Wuhan ebenfalls zum Schweigen gebracht. Es wurden weder Zeit noch Ressourcen aufgewendet, um die Ausbreitung des Virus bereits damals zu verhindern. Das war sieben Wochen bevor Wuhan – eine Stadt von der Größe Londons – und die ganze Provinz Hubei, mit seiner Bevölkerung von 58 Millionen, schließlich von der Außenwelt abgeschnitten wurde.

Als der „Whistleblower“, Dr. Li Wenliang, selbst der Krankheit zum Opfer fiel und am 7. Februar starb, entlud sich der Ärger der Bevölkerung. Selbst das oberste Gericht des Landes kritisierte die Polizei Wuhans für die Bestrafung Dr. Lis und sieben weiterer Doktoren, welche online vor der Gefahr gewarnt hatten. Millionen von Posting auf Weibo wiederholten die Hashtags „Wir wollen Redefreiheit“ und „Wir fordern Redefreiheit“.

Ein bekannter Revolutionssong aus Les Misérables – „Do you hear the people sing?“ („Hörst Du das Volk singen?“) – ging viral, als die Menschen damit gegen die Inkompetenz der Behörden und Lis Tod protestierten. Führende Akademiker*innen Kommentator*innen schlossen sich einem Protest gegen die Nachrichtenunterdrückung und das lange Ausbleiben einer öffentlichen Stellungnahme des Staatspräsidenten an. Wie oft in autoritären Staaten mussten daraufhin Beamte von weiter unten auf der Karriereleiter ihren Hut nehmen.

Als der Staat schließlich in die Gänge kam, waren vielen Menschen von der Schnelligkeit und Effektivität beeindruckt, mit welcher Arbeitskräfte und Ressourcen mobilisiert wurden, um Krankenhäuser zu bauen. Obwohl dies auf der Basis einer bürokratischen Befehlskette und unter widrigsten Bedingungen der eingesetzten Arbeiter*innen geschah, bekommt man einen Eindruck, was unter einer sozialistischen, geplanten Wirtschaft, auf der Basis demokratischer Kontrolle und menschenwürdiger Arbeitsbedingungen, möglich wäre.

Viele bewegt allerdings die Frage, ob die Tatsache, dass die Regierung das Problem zunächst ignorierte und diejenigen, welche die Alarmglocken läuteten, bestrafte, gewichtige politische Konsequenzen haben wird?

Yu Lie, ein Chatham House Researcher, schrieb in der Financial Times:

„Die Tendenz, Krisen herunterzuspielen, ist in Bürokraten tief verankert. Und ironischerweise hat die kürzliche Ankündigung der Parteispitze, Akteure stärker zur Verantwortung zu ziehen und zu zaghaftes Handeln streng zu bestrafen, nur dazu beigetragen, dass zukünftig noch mehr unter den Teppich gekehrt werden wird.“. (6/2/20) Aber Peter Francopan warnt in der Sunday Times: „Vorerst wäre es vermessen, die Voraussage zu treffen, dass sich umfassende soziale und politische Wandlungen in China aus der Coronavirus-Krise ergeben würden“. (In der Tat, noch vergangene Woche kam es zu weiteren Festnahmen und Verschleppungen von Kritiker*innen und vor der Diktatur “Geflüchtete” sehen einer lebenslangen Gefängnisstrafe entgegen.)

Tschernobyl?

Es wurden Vergleiche herangezogen zwischen der Stümperhaftigkeit und den Vertuschungsversuchen, zu welchen es im Zuge des schrecklichen Desasters im Tschernobyl-Atomreaktor in der Ukraine am 26. April 1986 kam. Die Ukraine war Teil der sogenannten Union der Sowjetrepubliken, unter der Leitung einer massiven, aufgeblähten Bürokratie in Moskau.

Todesfälle und Langzeiterkrankungen gehen schätzungsweise in die Zehntausende. Einerseits wurde ein weitverbreiteter laxer Umgang mit Sicherheitsvorschriften aufgedeckt. Andererseits kam es aber durch den Staat zu einer riesigen Eindämmungs- und Dekontaminierungsoperation, welche den Einsatz von einer Viertelmillion Arbeiter*innen zur Folge hatte. Nach Michail Gorbatschow , dem damaligen Regierungschef der Sowjetunion, betrugen die Kosten der Rettungs- und Aufräumarbeiten umgerechnet etwa 35,7 Milliarden US-Dollar, was praktisch zur Pleite der UdSSR führte.

Zu behaupten, Tschernobyl sei die Initialzündung des Zusammenbruchs der bürokratisch geführten und im Staatsbesitz befindlichen Wirtschaft der Sowjetunion gewesen, greift sicherlich zu kurz. Sicherlich, wie heute in China, legte es aber schonungslos offen, was unter der Herrschaft einer unverantwortlichen und privilegierten Clique falsch läuft. Aber es gibt viele bedeutende Unterschiede. Gorbatschow stand einer Wirtschaft im Staatsbesitz vor, welche gerade knirschend zum Halt kam – jahrzehntelang ausgelaugt und erstickt durch fehlende Arbeiter*innenkontrolle und Missmanagement der Planwirtschaft.

Im heutigen China ist auf Statistiken kein Verlass und bei den Entscheidungen des diktatorischen Staates kommt es immer wieder zu Kehrtwenden in Bezug auf den Bankensektor und Handels- und Wirtschaftsfragen. Aber es ist nicht mehr das China mit verstaatlichter Wirtschaft, welches es jahrzehntelang nach der Machtergreifung von Mao Tse Tung war. Privatisierung wurden im großen Stil umgesetzt. Die Regierungsmacht wird durch superreiche Oligarchen ausgeübt. Deren Hauptsorge ist die Sicherung ihrer Macht, ohne dass es von unten zu Explosionen kommt.

Durch  den Ärger über die Handhabung des Coronavirus-Skandals brach sich auch eine schwelende Unzufriedenheit über die diktatorische Elitenherrschaft und die sogenannte Kommunistische Partei Bahn, hinter der sie sich versteckt. In den letzten Jahren kam es sowohl offiziell als auch inoffiziell zu zahllosen „Vorfällen“ von Arbeiter*innen- und gesellschaftlichen Protesten, darunter auch Streiks. Desgleichen kam es zu Eruptionen der Wut über fehlende Demokratie bei lokalen oder regionalen Behörden.

In diesem Sinne, obwohl die chinesische Gesellschaft heute einen anderen Klassencharakter hat, als die Gesellschaft der UdSSR zur Zeit Tschernobyls, könnte der Ausbruch des Coronavirus und der Umgang mit diesem zu einem Wendepunkt in der Politik Chinas führen. Die Regierung Xi Jinpins ist bereits zutiefst in Verruf geraten. Proteste könnten sich von den Seiten der Online-Medien auf die Straßen von Chinas Metropolen ausbreiten und ebenso zur Hebung des Selbstbewusstseins der Arbeiter*innen führen, die sich in den riesigen Fabriken dieses ökonomischen Giganten tummeln.

Ein gravierender wirtschaftlicher Abschwung, gepaart mit weiterer Inkompetenz beim Umgang mit der tödlichen Epidemie in den kommenden Wochen, könnte der Anfang vom Ende des gegenwärtigen Regierungschefs und manchem aus dessen engstem Kreis sein. Ob sich ein verallgemeinerter Kampf um demokratische Rechte und eine Zunahme von Streikaktivitäten entwickelt, bleibt abzuwarten.

Knüpft den historischen Knoten neu

Die Stadt Wuhan liegt im Herzen Chinas an den Ufern des großen Flusses Yangtse. Sie hat eine stolze Geschichte. Hier wurden die ersten Schüsse zum Sturz des Chinesischen Kaiserreiches 1911 abgefeuert. Vor ihrem Hintergrund spielten sich heldenhafte Massenstreiks und Aufstände von Arbeiter*innen und Bäuer*innen während der Revolution von 1926-27 ab, welche von Stalin an Chiang Kai-shek ausgeliefert worden waren. Die Stadtbevölkerung feierte massenhaft den Sturz der Herrschaft der großen Landbesitzer und des Kapitalismus unter Mao nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Hier kämpften auch Arbeiter*innen für das, was sie als Arbeiter*innendemokratie verstanden, in den Tagen der Kulturrevolution während der 1960er Jahre.

Heute suchen die Menschen Wuhans nach Wegen, die inkompetenten und selbstsüchtigen Herrscher in Peking herauszufordern. Sie, wie auch alle anderen Arbeiter*innen und Jugendlichen, brauchen unabhängige Gewerkschaften und Parteien, die den bürokratischen Kapitalismus mit Forderungen nach demokratischen Rechten – Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Koalitionsfreiheit (Gewerkschaften und politische Parteien) – und freien Wahlen auf lokaler und nationaler Ebene herausfordern – auf dem Weg zu einem wahren, demokratischen Sozialismus.

Ein Kampf dieser Art ist unbedingt notwendig – um die Regierung auf allen Ebenen von Bürokraten und Mitläufern zu befreien und Repräsentant*innen zu wählen, die sofort abberufen werden können, wenn sie demokratische Beschlüsse nicht umsetzen, und die denselben Lohn erhalten, wie die Arbeiter*innen, die sie vertreten. Der Kampf um die Wiederherstellung öffentlichen Eigentums, diesmal demokratisch verwaltet und gemanagt durch die Beschäftigten,  muss entschlossen geführt werden.