Aufhebung der Höchstarbeitszeit bei gleichzeitiger Rekord-Kurzarbeit beschlossen
Was auf den ersten Blick als galoppierender Wahnsinn erscheint, sind in Wirklichkeit zwei Seiten einer Medaille. Bei Kurzarbeit wird der Nettolohn anteilig aus dem Budget der Bundesagentur für Arbeit gezahlt und nicht mehr von der Firma, bei der die Person angestellt ist. So werden die Lohnkosten inklusive des Unternehmensanteils zur Sozialversicherung aus der Staatskasse bezahlt. Die Umsatzeinbußen privater Unternehmen werden so durch staatliche Kostenübernahme ausgeglichen, während die Gewinne in privater Hand der Unternehmer*innen bleiben. Die Aussetzung des bisherigen Arbeitszeitgesetzes durch die Bundesregierung sorgt dafür, dass Beschäftigte privater, aber auch öffentlicher Unternehmen, in Zeiten eines hohen Arbeitsvolumens länger ausgebeutet werden können. Dafür muss bei einem längeren Arbeitstag kein neues Personal eingestellt werden. Bei beidem gewinnen nur die Unternehmen, während die Beschäftigten rechts und links geohrfeigt werden.
Von René Arnsburg, Berlin
Noch einmal zur Verdeutlichung: Ende März haben 470.000 Unternehmen Antrag auf Kurzarbeit gestellt. Selbst die Bundesregierung rechnet mit knapp 2,4 Millionen Kurzarbeitenden. Das wären doppelt so viele wie beim Höhepunkt der letzten Wirtschaftskrise 2009. Mit aktuellen Zahlen halten sich alle offiziellen Stellen jedoch sehr zurück – was nichts Gutes erahnen lässt.
Am 6. April 2020 platzte dann die Bombe. Die Regierung erlässt eine Verordnung bis Ende Juli, also über den Zeitraum aller bisher geplanten Maßnahmen hinaus, die die bisherigen Regelungen des Arbeitszeitgesetzes aussetzt. Im Handelsblatt vom selben Tag heißt es: “Längere Arbeitszeiten sollen unter anderem für Beschäftigte in der Herstellung, Verpackung und beim Einräumen von Waren des täglichen Bedarfs, Arzneimitteln und Medizinprodukten möglich sein. Die Verordnung nennt aber unter anderem auch die Landwirtschaft, die Energie- und Wasserversorgung, Apotheken und Sanitätshäuser, Geld- und Werttransporte oder das Daten- und Netzwerkmanagement. Diese Arbeitnehmer dürfen auch an Sonn- und Feiertagen beschäftigt werden.” Angeblich zur Krisenbekämpfung eingesetzt, lässt das viel Interpretationsspielraum, welche Berufsgruppen darunter fallen und welche nicht. Der Arbeitstag kann auf zwölf Stunden bei gleichzeitiger Verkürzung der Ruhezeit von elf auf neun Stunden verlängert werden. Dabei sieht sogar das bisherige Arbeitszeitgesetz schon Ausnahmeregelungen im öffentlichen Dienst und Krankenhäusern vor. Die neue Verordnung ist eine Ausweitung der Regelungen auf weitere Wirtschaftsbereiche und ein Test, ob in Deutschland österreichische Bedingungen mit regulären Zwölf-Stunden-Tag und Sechzig-Stunden-Woche eingeführt werden können.
Bayerische Verhältnisse – Beschäftigte am Rand des Zusammenbruchs
Auf solidarität.info wurde bereits über die Einführung der gleichen Regelung auf Landesebene im Freistaat Bayern berichtet (https://solidaritaet.info/2020/03/bayern-regierung-beschliesst-aufhebung-der-hoechstarbeitszeit/). Die Bundesregierung macht hier „die Bayerin“ und führt wie schon die zuerst in Bayern erlassene und getestete Kontaktbeschränkung bundesweit ein. Markus Söder dürfte sich wieder einmal als Mann der Stunde, oder auch des deutschen Kapitals, mit seiner Politik im Interesse der Profitbewahrung sehen.
Was haben die etablierten Politiker*innen nicht die Held*innen im Gesundheitswesen bejubelt und beklatscht, während diese bereits vor der Corona-Pandemie am Rand des mentalen und körperlichen Zusammenbruchs – und oft darüber hinaus – arbeiteten. Schuld am Personalmangel in den Krankenhäusern und anderen Einrichtungen sind diese Arbeitsverhältnisse gepaart mit eklatanter Unterfinanzierung zu Gunsten der Gewinnorientierung selbst der öffentlichen Daseinsvorsorge, unter anderem durch Fallpauschalen und fehlende und kürzlich wieder ausgesetzte Personaluntergrenzen.
Es ist ein großer Druck durch die Beschäftigten entstanden, diese gesellschaftlich unverzichtbaren Tätigkeiten endlich besser zu entlohnen. DIE LINKE und ver.di fordern mittlerweile einen monatlichen Zuschlag von 500 Euro für Pflegekräfte. Diesem Druck folgend haben einige Einrichtungen bereits Bonuszahlungen zugesagt. Mehr Geld ist dringend nötig, aber mit der Einführung des Zwölf-Stunden-Tags laufen die Beschäftigten Gefahr, diese Zahlungen mit einer Abschaffung ihrer Schichtzuschläge zu bezahlen.
Das Beispiel des Gesundheitswesens und der Altenpflege lässt sich auf andere Bereiche wie den Lebensmitteleinzelhandel ausweiten, wo Kolleg*innen nicht nur erhöhtem Arbeitsdruck, sondern ebenfalls einem vermehrten Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Die kürzlich verkaufte Handelskette real belohnt den Einsatz der Beschäftigten bei ungenügendem Gesundheitsschutz zum Beispiel mit einem Einkaufsgutschein in Höhe von hundert Euro – blanker Hohn. Als Kompromiss mit dem DGB und ver.di wurden Verkaufsstellen von Lebensmitteln und Lieferdienste aus der Verordnung ausgenommen, aber diese gilt dafür jetzt bis Ende Juli, als einen Monat länger, als im Entwurf vorgesehen. Dafür gibt es keine grundlegende Kritik der Vorsitzenden Hoffmann und Werneke daran. Der ver.di-Chef mahnt in einer Pressemitteilung die Unternehmen nur dazu, von der neuen Regelung besonnenen Gebrauch zu machen. Von denen also, die uns erst in die jetzige Krise gebracht haben!
Kurzarbeit ist ein staatlich organisiertes Umverteilungs- und Armutsprogramm
Während die einen länger arbeiten sollen, werden andere auf Kurzarbeit gesetzt. Sobald in einem Betrieb oder einer Abteilung ein Zehntel der Belegschaft auf Grund von Umsatzeinbußen durch Auftragseinbruch oder Corona-Maßnahmen zehn Prozent Entgelteinbußen verzeichnen würde, kann dieses Unternehmen für die betroffenen Bereiche Kurzarbeit bei der Bundesagentur für Arbeit anmelden. Der Nachweis obliegt dabei allein dem Management. Die Anforderungen für die Beantragung von Kurzarbeit wurden von der Bundesregierung im März noch herabgesetzt. Hierbei geht es nicht um den Gesundheitsschutz von Kolleg*innen, sondern einzig um die Rettung von privaten Profiten. Die Bundesagentur für Arbeit finanziert sich hauptsächlich durch die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Diese wird zur Hälfte von den Beschäftigten gezahlt, bei Kurzarbeit übernimmt der Staat den Arbeitgeberanteil. So zahlt die Arbeiter*innenklasse also während der Kurzarbeit die Löhne für diejenigen, die in Kurzarbeit landen.
Die Höhe des Kurzarbeitergelds von sechzig Prozent des Nettolohns (oder 67 Prozent bei Eltern) sorgt gerade dafür, dass Zehntausende ohne eigenes Verschulden so wenig Einkommen haben, dass sie sich fragen müssen, ob sie lieber die Miete zahlen oder etwas zu essen kaufen sollten. Von Arbeiter*innen im informellen Sektor oder ohne festes Vertragsverhältnis ganz zu schweigen, die nicht einmal Anspruch auf diese Regelung haben und ohne Arbeit gar kein Einkommen beziehen. Einige Unternehmen stocken daher das Kurzarbeitergeld bereits auf eine unterschiedliche Höhe auf. Doch selbst eine Zuzahlung bis auf einhundert Prozent des vorherigen Nettolohns bringt für die Unternehmer große Einsparungen mit sich. Jedoch gibt es Unternehmerverbände, wie den Handelsverband Deutschland (HDE), die sogar dies noch strikt ablehnen.
Kein Lohnverlust für niemanden!
Bei all dem Getöne über die Krise in der Wirtschaft darf nicht außer Acht gelassen werden, dass allein die drei großen Autokonzerne VW, Daimler und BMW über 180 Milliarden Euro an Gewinnrücklagen verfügen (http://stephankrull.info/2020/03/29/vw-daimler-und-bmw-180-milliarden-euro-gewinnruecklagen/). Diese drei Unternehmen schicken 200.000 Arbeiter*innen auf unsere Kosten in die Kurzarbeit, während sie insgesamt 7,5 Milliarden Euro Dividenden an die Aktionär*innen ausschütten wollen. Bei den 160 größten börsennotierten Unternehmen Deutschlands sind es satte 44 Milliarden.
Der bereits zuvor kriselnde Autohersteller Volkswagen ruft nach staatlicher Hilfe und zahlt gleichzeitig an 18.000 Management-Positionen im Schnitt 200.000 Euro Boni pro Kopf. Der DGB gab an, dass das reichste Prozent in Deutschland auf einem Vermögen von 3800 Milliarden Euro sitzt. Ganz objektiv besteht nicht die geringste Notwendigkeit, irgendjemanden mit Lohnverlust nach Hause zu schicken, auch wenn gerade nicht gearbeitet werden kann.
Gewerkschaften können und müssen kämpfen
Die Sol und kritische Gewerkschafts-Initiativen wie die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften lehnen den vorauseilenden Gehorsam der Führungen der DGB-Gewerkschaften ab, die das Konzept der Kurzarbeit bereits in der letzten Krise ausgearbeitet und mitgetragen haben. Statt konsequent die Interessen aller Beschäftigter zu vertreten und gegen Verschlechterungen zu kämpfen, wurde Co-Management in der Krise betrieben. In der Metall- und Elektroindustrie und im öffentlichen Dienst werden Tarifrunden nicht nur verschoben, sondern Krisen-Tarifverträge mit Lohnverlust ohne Kampf und im Hinterzimmer abgeschlossen. Der Arbeitskampf, die breite Diskussion und Entscheidung der Mitgliedschaft ist unter dem Vorwand der Infektionsbekämpfung nicht mehr vorgesehen.
Der Kritik an der Kurzarbeit wird vor allem entgegnet, dass sie der Beschäftigungssicherung dient. Wenn alle den Gürtel enger schnallen würden und die Füße still halten, sei die Krise schnell vorüber. Doch auch die letzte Krise wurde mit Rekordlaufzeiten bei Tarifverträgen, Mitgliederschwund im DGB und Ausweitung der prekären Beschäftigung bezahlt. Es ist nicht davon auszugehen, dass es diesmal anders wird und die Krise hat das Potential, diesmal deutlich größere Teile der gut organisierten Facharbeiter*innen vor allem in der Industrie zu treffen.
Dabei gab es damals wie auch jetzt trotz aller Widrigkeiten genügend Potential zur Gegenwehr. Dafür ist es jedoch nötig, konkrete Angebote für die Gegenwehr zu diskutieren und nicht von vornherein einen Rückzieher zu machen.
Gegen das Dilemma „Kurzarbeit genehmigen oder Entlassungen hinnehmen“, muss die Antwort lauten: Offenlegung der Geschäftsbücher. Wer entlässt, wird verstaatlicht und unter Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung gestellt. Das wird aber nur geschehen, wenn reale Kampfvorschläge für betroffene Betriebe gemacht werden und nicht von vornherein aufgegeben wird. Die Verstaatlichung ist gleichzeitig das einzige wirksame Mittel, um einem Lohnverlust der Kolleg*innen vorzubeugen.
Es wird zwangsläufig eine Situation eintreten, in der vor allem kleine Unternehmen ihre Belegschaft nicht bei voller Bezahlung nach Hause schicken können. Neben der Verstaatlichung von Unternehmen, die Entlassungen vornehmen, muss letztendlich der Staat dafür sorgen, dass Beschäftigte nicht mit leeren Händen vor der Tür stehen. Eine soziale Mindestsicherung oder Lohnfortzahlung muss jedoch damit verbunden sein, dass diese nicht durch Beiträge vom Rest der Arbeiter*innenklasse finanziert werden, sondern durch das vorhandene Vermögen der Besitzenden.
Arbeit gerecht verteilen – Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich jetzt!
Bereits vor dem Beginn der Krise war die Arbeit in der Gesellschaft ungleich verteilt. Einer im Schnitt über 40-stündigen Arbeitswoche standen Millionen Erwerbslose und Unterbeschäftigte gegenüber. Das Ganze wird jetzt auf die Spitze getrieben und das Extrem der um ihre Existenz bangenden Erwerbslosen und Kurzarbeiter*innen wird durch jene kontrastiert, die bis zum Umfallen arbeiten müssen. Im Interesse aller sollte die Arbeit genauso wie der Reichtum in der Gesellschaft gleichmäßig verteilt sein.
Es sollte nicht davon ausgegangen werden, dass jeder Feinwerkmechaniker ohne Weiteres zum Kindergärtner oder Krankenpfleger umgeschult werden will, genauso wie nicht jede Altenpflegerin unbedingt am Fließband in der Produktion arbeiten möchte.
Bei entsprechenden Maßnahmen jedoch, wie der angemessenen Entlohnung von Pflegeberufen und Rückholprämien, ließen sich zehntausende im Gesundheitsbereich reaktivieren. Dies hätte zur Folge, dass die Arbeitsbedingungen verbessert würden. Es könnte in kürzeren Schichten gearbeitet werden, was zu mehr Erholung und einer Verringerung der Kontakte durch eine Person mit möglicherweise infizierten Menschen führen würde.
Die Produktion und der Transport könnte – und müsste – insbesondere jetzt auf gesellschaftlich notwendige Güter umgestellt werden. Mehr Personal könnte auch hier zur besseren Umsetzung von Gesundheits- und Arbeitsschutz genutzt werden. Um den Bedarf an notwendigen Gütern überhaupt festzustellen, ist die Erfassung in den Betrieben vor Ort durch die Belegschaften und die Umstellung der Produktion unter deren Kontrolle notwendig.
Da kürzere Arbeitszeit das Leben nicht günstiger macht, ist ein Lohnausgleich nötig und möglich, wenn die Gewinne und der private Reichtum dafür genutzt werden.
In der Krise liegt für Viele der Personalausgleich nicht auf der Hand. Wo die Produktionskapazität aber heruntergefahren wird und nicht weiter auf andere Güter umgestellt werden kann, muss die Arbeitszeit weiter auf ein gesellschaftlich sinnvolles Maß reduziert werden kann. Seit vielen Jahrzehnten ist die 30-Stunden-Woche in der Gewerkschaftsbewegung präsent, aber sie ist keine Forderung, an die man sich sklavisch halten muss. Eine Verkürzung der Arbeitszeit auf diese Zahl kann auch ein erster Schritt zur Entlastung der am meisten geschröpften Kolleg*innen sein, um dann noch weiter zu gehen. Und der Kampf dafür ist ein Einstieg in den Kampf darum, wer in der Gesellschaft überhaupt entscheidet.
Es kann in Krisensituationen notwendig sein, bestimmte Regeln zu ändern und die Arbeitszeit heraufzusetzen, um die Versorgung sicher zu stellen. Das sollte jedoch nicht geschehen, ohne dass alle anderen Möglichkeiten der Personalaufstockung und Ausfinanzierung erschöpft sind. In der Verordnung der Bundesregierung ist eine Formulierung enthalten, die das aussagen soll. Diejenigen, die jedoch nachweisen sollen, dass sie einen Zwölf-Stunden-Tag nicht vermeiden können, sind auch diejenigen, die jetzt Hunderttausende Beschäftigte ungewollt vor die Tür setzen.
Alle Maßnahmen, die die Arbeiter*innenklasse betreffen, sollten auch von ihr diskutiert und demokratisch entschieden werden und nicht in einem bürokratischen Prozess von pro-kapitalistischen Politiker*innen.