Der Alptraum des Patriotismus

Orbán baut seine Macht in Ungarn aus

„Der Patriotismus“ sei „die letzte Zuflucht des Halunken“, schrieb der britische Schriftsteller Samuel Johnson im 18. Jahrhundert. Schaut man auf die Vorgänge, die sich im Windschatten der Coronakrise in Ungarn abspielen, ist man versucht diesem Zitat zu glauben.

Quasi per Knopfdruck ließ dort das seit 2010 regierende Staatsoberhaupt Viktor Orbán demokratische Rechte vom Netz gehen. Angeblich wären diese Schritte nötig, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, so die offizielle Begründung. Doch im Grunde setzt Orbán nur den Weg fort, den er bei Amtsantritt eingeschlagenen hat.

Von Steve Hollasky, Dresden

Bereits Ende März hatte das Parlament in Budapest einer Vorlage der Regierung zugestimmt, nach der es Orbán künftig möglich sein wird per Dekret zu regieren. Damit ist nun nicht einmal mehr eine Konsultation der Legislative nötig, um den am 11. März verhängten Ausnahmezustand zu verlängern. Auch ohne jede Zustimmung der gewählten Abgeordneten kann Orbán nun die Gültigkeit von Gesetzen aufheben und jede ihm zur Eindämmung des Virus sinnvoll erscheinende Maßnahme per Dekret verkünden.

Das verabschiedete Gesetz enthält den Passus einer „parlamentarischen Pause“. Vergehen gegen die Quarantänebestimmungen können mit bis zu acht Jahren Gefängnis bestraft werden und das Verbreiten von „Falschnachrichten“ durch Presseorgane kann Journalist*innen bis zu fünf Jahre hinter Gitter bringen. Selbst die Verschiebung von Kommunalwahlen ist für Orbán nun ohne Weiteres möglich.

Orbáns Justizministerin Judit Varga verteidigte das Gesetz in einer Stellungnahme gegenüber dem Wiener ARD-Studio mit den Wort, das Parlament sei „in der Lage die Befugnisse jederzeit zurückzunehmen“, das sei „einzigartig in Europa“. Nur hält Orbáns „Fidesz“-Partei gut Zweidrittel der Parlamentssitze und das obwohl sie bei der letzten Wahl nur gut 48 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte. Diese Diskrepanz ist das Ergebnis einer früheren „Reform“ Viktor Orbáns. Ganz in Kriegsrhetorik hatte er die Vorlage während der Parlamentsdebatte als unverzichtbar im Kampf gegen die Virusverbreitung dargestellt. Seine Regierung erhalte so „die Macht und die Ressourcen“, um die „Selbstverteidigung Ungarns zu organisieren“.

Beißgehemmte Opposition

Schon Tage vor er entscheidenden Sitzung hatte der trotz seiner komfortablen Mehrheit versucht die Oppositionsparteien für sein Gesetzesvorhaben zu gewinnen und patriotische Gefühle zu wecken. Eine Aufgabe käme auf Ungarn zu, „die niemand alleine lösen kann“, erklärte Orbán in den Medien eines Landes. Immer wieder betonte der Träger des von der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung vergebenen Franz-Josef-Strauß-Preises, dass in der aktuellen Lage „alle“ ihren „Teil beitragen“ müssten. Was er damit genau meinte, wurde spätestens dann klar, als er erklärte man brauche statt „politischen Zwists und Debatten“ Zusammenhalt. Hierum bitte er „die Abgeordneten – egal welcher Partei“.

Mit anderen Worten, wer nicht für den Gesetzesentwurf der Regierung stimmen wolle, der weigere sich den Kampf gegen das Coronavirus aufzunehmen.

Immerhin forderte Bertalán Tóth dennoch eine Frist in den Gesetzesentwurf einzubauen. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen MSZP führt die Parlamentsvertretung der zweitgrößten Oppositionspartei seit 2018. Auf 90 Tage wollte er die Laufzeit der außerordentlichen Befugnisse Orbáns im Rahmen des Notstands begrenzen. In der Realität würde Orbán damit mehr als genug Zeit haben, nicht nur um den Virus zu bekämpfen, sondern auch um die letzten Reste demokratischer Strukturen in Ungarn weiter zu unterhöhlen.

Und selbst bei dieser Forderung dachte Tóth den Kompromiss gleich mit. Sollte das Parlament 90 Tage nach Verabschiedung des Gesetzes nicht zusammentreten können, dann dürfe Orbán die Verlängerung seiner Befugnisse selbst verkünden.

Doch selbst das war nach Meinung der Regierung zu viel Opposition. In den sozialen Netzwerken und durch Sprecher*innen der Regierung wird der Opposition nun vorgeworfen, sie sei nicht patriotisch, stünde gar auf der Seite des Virus.

Das Problem hierbei: Die Opposition gegen Orbáns „Fidesz“-Partei wirkt alles andere als anziehend auf die lohnabhängig Beschäftigten in Ungarn. Rechts von „Fidesz“ steht mit „Jobbik“ eine rassistische und nationalistische Partei, in der auch antisemtisch eingestellte Politiker*innen eine Heimat gefunden haben. Vor gut fünf Jahren hatte einer ihrer Abgeordneten in der Nationalversammlung gar gefordert, ein zentrales Register von Jüdinnen und Juden anzulegen.

Links von „Fidesz“ befinden sich die erwähnten Sozialdemokrat*innen. Lange waren sie Teil einer korrupten Regierung, gegen die es Massenproteste nur so hagelte. Verheißungsvoll ist das nicht.

Wieso will Orbán diese Vollmachten?

Weitgehend scheint Einheit darüber zu bestehen, dass die von der Regierung Orbán für sich in Anspruch genommenen Sondervollmachten nicht in erster Linie dazu dienen sollen, das Land vor der Ausbreitung des Coronavirus zu schützen. „Kritiker in Ungarn und im Ausland“ würden Orbán vorwerfen, „die Pandemie als Vorwand zu nutzen, um die Machtstellung seiner nationalkonservativen Regierung noch weiter auszubauen“, schrieb „Spiegel Online“ am 30. März und dürfte damit richtig liegen. Nur einen Tag später kommentierte Helga Schmidt auf „tagesschau.de“ die Geschehnisse in Ungarn mit der Feststellung, „Ungarns Regierungschef Orbán“ nutze „die Corona-Krise, um den Rechtsstaat außer Kraft zu setzen.“ In einem Audio-Kommentar ging Schmidt dann sogar noch weiter und verlautbarte unter dem Titel „Europas erste Diktatur“, Orbán bekämpfe mit dem Gesetz nicht die Coronakrise, sondern die Opposition im eigenen Land.

Diesem Urteil kann man schwerlich widersprechen, schaut man sich die Maßnahmen der Regierung unter der Lupe an: Das eh zu Zweidritteln mit seinen Anhänger*innen besetzte Parlament wurde entmachtet; Gesetze kann Orbán nächstens per Dekret einführen, geltendes Recht suspendieren und Kritiker*innen mundtot machen, weil jede Meldung, die der Regierung nicht passt, demnächst einfach als strafbare Falschmeldung deklariert werden kann.

Sieg der Opposition in Budapest

Und dennoch bleibt die Frage, ob Orbáns Poltik eine Politik der Stärke oder der Schwäche ist. Und Einiges spricht dafür, dass die Budapester Regierung sich eher in einer Position der Schwäche denn der Stärke wähnt.

So siegte bei den letzten Bürgermeisterwahlen in der Hauptstadt ein Kandidat der Opposition. Die Hauptstadt wird grün regiert. Gergely Karácsony hat bei den Kommunalwahlen 2019 den Platz an der Spitze der Hauptstadt seinem Konkurrenten von der „Fidesz“ abgejagt.

Im Spiegel-Interview sagte der heute 45jährige damals, weltweit würden sich „immer mehr nationalistische Regierungen“ von „demokratischen Standards entfernen“ und sogar „einen regelrechten Führerkult entwickeln“. Seine Wahl deutete Karácsony damals als Teil einer beginnenden „Gegenbewegung“, die man in Polen, Tschechien, der Slowakei und der Türkei beobachten könne. „Fidesz“ würde vorrangig durch vielfache Korruptionsskandale ihre Wähler*innen vor den Kopf stoßen.

Dem kann man schwerlich widersprechen. Nur unterschlug Karácsony damals, dass auch die Opposition alles andere als eine weiße Weste hat. Mitten im Wahlkampf tauchte ein Film von Politikern der sozialdemokratischen MSZP auf, die Kokain konsumierten und sich währenddessen darüber beschwerten, dass es schwer ist Schmiergeld zu bekommen, wie die „Welt“ im Oktober 2019 berichtete. Dergleichen leistete sich auch die „Fidesz“, dennoch kann man als ungarische Arbeiterin oder als ungarischer Arbeiter bei der Opposition kaum sein Kreuz machen, ohne ein schlechtes Gefühl zu haben. Zumal gerade die MSZP vor 2010 in zahlreiche Korruptionsskandale verwickelt war und kräftig Sozialausgaben zusammenstrich.

Zudem paktiert die Opposition inzwischen sogar mit „Jobbik“, einer Partei, die noch rechts von „Fidesz“ steht. Karácsony erklärte auf die entsprechende Nachfrage des Spiegels in oben angeführtem Interview, „die Jobbik, mit der wir zusammenarbeiten, ist eine andere“. Sie habe sich „von den rechtsradikalen Figuren getrennt“. Das kann bestenfalls als schwache Entschuldigung durchgehen. Zwar hat „Jobbik“ wirklich hier und da eine Trennung von den am weitesten rechts stehenden Politiker*innen vorgenommen. Dennoch bleibt sie eine nationalistische und rassistische Partei.

Dass sich die Einwohner*innen Budapests bei den Wahlen 2019 dennoch in ihrer Mehrheit für Karácsony entschieden, zeigt damit vor allem eines: Viele haben Orbáns selbstherrliche Regierung endgültig satt. Und mit dem Blick auf den Lebensstandard in Ungarn kann das auch kaum überraschen: Sozialausgaben wurden gekürzt, Mieten steigen und die Umweltverschmutzung ist gerade in den städtischen Ballungsgebieten derart enorm, dass viele von ihnen unter einer Smog-Glocke verschwinden.

Das von Orbán Anfang März diesen Jahres erlassene Gesetz ist damit sehr wahrscheinlich auch ein Ergebnis des spürbaren Verlusts an Unterstützung für seine eigene Partei.

Soziale Katastrophe

Die könnte in der Krise noch weiter bröckeln. Nach Angaben der ungarischen Online-Tageszeitung „Pester Lloyd“ von Anfang April sollen inzwischen Hunderttausende in Ungarn keine Sozialhilfe erhalten, obwohl sie ihre Arbeit verloren haben. Sie hätten, so „Pester Lloyd“ weiter, „schlicht kein Geld mehr, um das Lebensnotwendigste zu kaufen“. Verschärft wird diese Situation noch dadurch, dass sich die Regierung Orbán konsequent weigert, finanzielle Mittel zur Unterstützung der ärmsten Bevölkerungsteile zur Verfügung zu stellen.

Noch nicht einmal acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes will Orbán für Wiederaufbau- und Rettungsmaßnahmen bereitstellen. Und auch diese Mittel dürften vorrangig in den Geldbörsen reicher Unternehmer versickern, die ungarische Bevölkerung wird davon kaum etwas sehen.

Amtliche Sterbehilfe“

Je weiter sich das Coronavirus in Ungarn ausbreitet, desto mehr wird das ungarische Gesundheitswesen die Last dieser Krise zu tragen haben. Das ist umso beängstigender, als die Situation im Ungarns Krankenhäusern kaum dramatischer sein könnte. Bereits 2017 sprach „Pester Lloyd“ in einem längeren Beitrag zur Qualität des ungarischen Gesundheitswesens von „amtlicher Sterbehilfe“.

Demnach liegt Ungarn im „Euro Gesundheits-Patienten-Index“ auf Rang 30, bei 35 Ländern, die in diese Studie einbezogen sind. Bei Krebsbehandlungen liegt die durchschnittliche Fünf-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit in ungarischen Krankenhäusern bei lediglich vierzig Prozent. In Deutschland liegt dieser Wert bei etwa 75 Prozent.

Bereits im Juli 2017 veröffentlichte der Mitteldeutsche Rundfunk (mdr) auf seiner Internetseite einen schockierenden Bericht, nachdem allein 2014 in Krankenhäusern des Zehn-Millionen-Landes 32.000 Todesfälle vermeidbar gewesen wären, wenn das Gesundheitswesen besser aufgestellt gewesen wäre.

Der bauliche Zustand vieler Krankenhäuser ist ein Skandal ersten Ranges. Besucher*innen und Patient*innen erzählen von aus den Wänden hängenden Stromkabeln und vorsintflutlicher Ausrüstung. Dazu passt die Einschätzung der ungarischen Ärztekammer, nach der „die gesundheitliche Versorgung und deren Finanzierung praktisch auf dem selben Niveau wie zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs” stattfinde.

Dabei liegt es nicht am Personal. Die Ausbildung ist in Ungarn eher als fortschrittlich einzuschätzen. An Ungarns Universitäten studieren auch angehende Ärztinnen und Ärzte aus aller Welt. Die Krankenpfleger und -schwestern sind mitunter derart begehrt, dass sie aus anderen europäischen Staaten abgeworben werden.

Auch ist die Situation im ungarischen Gesundheitswesen nicht allein die Schuld Orbáns und seiner Ministerriege. Orbáns Regierung hat die Ausgaben für das Gesundheitswesen auf nur noch 6,8 Prozent verringert: 2010 lagen sie noch bei über acht Prozent. Seine Regierung privatisierte Kliniken und Pflegeeinrichtungen und ist für die Verringerung des Personals verantwortlich.

Aber diese Entwicklung setzte bereits 2005 und damit fünf Jahre vor Orbán ein. Auch die MSZP hatte ihren Anteil an den Kürzungen. Orbán hat diese Entwicklung verschärft und beschleunigt. Der Alleinschuldige ist er indes nicht. Auch die Europäische Kommission forderte alle EU-Staaten und damit auch Ungarn in den letzten sieben Jahren fast im Monatsrhythmus auf die Aufgaben für das Gesundheitswesen zu verringern.

Letzte Zuflucht

Wenn die Coronakrise Ungarn voll erwischen wird, dann wird dieses fragile System unter der dann zu tragenden Last unweigerlich zusammenbrechen. Damit wird aber auch die Unterstützung für Orbán schwinden. Und aus genau diesem Grund nimmt Orbán Zuflucht zu jenem Gesetz vom März diesen Jahres: Niemand soll protestieren, niemand soll Einspruch erheben oder auch nur Dinge in der Öffentlichkeit anprangern können. Genau deshalb betont er nochmals und vielleicht sogar stärker als in der Vergangenheit den Patriotismus und genau deshalb könnte Samuel Johnsons Zitat aus dem 18. Jahrhundert so gut auf Orbán im Jahre 2010 passen. Und genau deshalb ist es nicht ganz falsch anzunehmen, dass Orbán seine sich entwickelnde Schwäche spürt.

Doch das Beispiel Orbán zeigt noch etwas: Die Versprechungen auch deutscher Nationalisten, würde man keine Migrant*innen mehr ins Land lassen, hätte man mehr Mittel für Sozialleistungen zur Verfügung sind Schall und Rauch. Ungarn verweigert seit Jahren die Aufnahme von Geflüchteten, Sozialleistungen werden dennoch zusammengestrichen.

Gern führt man in Ungarn an, man habe so viele Sportstunden wie kein anderes europäisches Land in der Stundentafel der Schulen verankert. So sorge man für eine gesunde Bevölkerung. Liest sich gut und ist doch nichts als eine Lüge: An den meisten Schulen fehlt es aufgrund der Einsparungen im Bildungsbereich an Lehrer*innen und an Sportgeräten. Auch das ein Ergebnis von zehn Jahren Orbán. Und so sucht der „Halunke“ seine „letzte Zuflucht“ im Patriotismus.

Und die EU?

Nun bittet die ungarische Opposition die EU-Kommission um Hilfe. Das auch als Regierung der EU bezeichnete Gremium, in das jeder Mitgliedsstaat eine*n Vertreter*in entsendet, könnte, so die Hoffnung der ungarischen Opposition, als Wahrerin der geltenden EU-Verträge beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) klagen. Sollte sie damit Erfolg haben, würden Budapest empfindliche Geldstrafen ins Haus stehen. Zudem könnten Fördermittel der EU nicht mehr über die Hauptstadt, sondern direkt über die ungarischen Regionen abgewickelt werden. Der bereits erwähnte Kommentar von Helga Schmidt verlangt danach, Orbáns Politik solcher Art zu sanktionieren.

Ob die EU die moralische Instanz ist, die Orbán in die Parade fahren sollte, muss allerdings bezweifelt werden: Bislang schwieg die EU zu einem jahrelang geltenden Ausnahmezustand in Frankreich nach dem Terroranschlag 2014 in Paris; sie beschränkte sich auf kaum spürbare Proteste gegen den autoritären Staatsumbau in Polen und auch die Ereignissen in Ungarn fanden in der EU und ihrer Kommission bislang nicht gerade eine entschiedene Gegnerin. Die EU lässt hilfesuchende Menschen an ihren Außengrenzen sterben und sie war es, die von ihren Mitgliedsstaaten Einsparungen im Gesundheitswesen gefordert hat. Die Folgen von Einsparungen im Gesundheitswesen führt uns gerade deutlich die Coronakrise vor Augen.

Wie wenig die EU-Kommission als verlässliche Partnerin im Kampf gegen Orbán gesehen werden kann zeigt auch, dass ihre aktuelle Präsidentin, Ursula von der Leyen (CSU), auch mit den Stimmen der „Fidesz“, der Partei Orbáns, ins Amt gehoben wurde. Entsprechend lange brauchte von der Leyen, um die weitere Unterminierung der bürgerlichen Demokratie in Ungarn überhaupt öffentlich zu kommentieren. Und selbst, als sie sich Mitte April zu Wort meldete, ging ihr Statement nicht über den Satz, sie sei „bereit zu handeln, wenn die Einschränkungen das erlaubte Maß übersteigen“ hinaus.

Sollte das die Grundlage der EU-Kommission sein, dürfte Orbán weiterhin wenig Ungemach von dieser Seite ins Haus stehen. Denn Orbáns Notstandsgesetze zeichnen gerade die weitgehenden Kompetenzen der Regierung aus. Das von ihm sich selbst „erlaubte Maß“ zu übersteigen, dürfte selbst Orbán schwerfallen.

Dessen Partei ist weiterhin Mitglied der EVP, der Europäischen Volkspartei, der unter anderem auch die deutsche CDU/CSU angehört. Die schließt sich der aktuellen Forderung nach Ausschluss der Fidesz aus der EVP nicht an. Immerhin 13 Mitgliedsparteien und EVP-Präsident Donald Tusk verlangen die Fidesz aus dem EU-weiten Zusammenschloss konservativer Parteien zu befördern. Im Moment wäre es nicht die Zeit darüber zu reden, lautet der inhaltlich eher schwache Konter der deutschen Unionsparteien.

Bei den Überlegungen von EU-Kommission und CDU/CSU dürften die demokratiefeindlichen Einschnitte Orbáns kaum eine Rolle spielen. Kaum jemand dürfte überrascht sein, dass Orbán versucht die Coronakrise zu nutzen, um den autoritären Staatsaufbau weiter voranzutreiben.

Es geht um strategische Überlegungen. Die EU ist vor allem für die deutschen Herrschenden ein bedeutendes Projekt. Die Wirtschaft der Bundesrepublik ist enorm exportabhängig. Sollte der EU-Binnenmarkt verschwinden oder auch nur geschwächt werden, wäre das für Deutschland dramatisch.

Dass bei einer Verurteilung von Orbáns Regierung genau dieses Szenario droht, zeigt die Tatsache, dass die französischen Konservativen sich in Schweigen hüllen. Ein Ausschluss der Fidesz aus der EVP würde sehr wahrscheinlich eine Spaltung der EVP nach sich ziehen und in letzter Konsequenz vielleicht zum endgültigen Aus der EU beitragen. Aktuell verweist man innerhalb der EVP gern auf das Beispiel der britischen Tories. Deren Ausscheiden aus der Europäischen Volkspartei habe 2016 auch die Entscheidung zum Brexit nach sich gezogen. Damit wird der Austritt Großbritanniens zwar reichlich eindimensional erklärt. Dennoch zeigt sich die Angst, die die Herrschenden gerade in Deutschland um sich treibt.

Alternative aufbauen

Im Kampf gegen Orbán kann man von der EU kaum Hilfe erwarten. Auch auf die Opposition im Land können sich die lohnabhängig Beschäftigten, Arbeitslosen, Armen, Jugendlichen und Rentner*innen kaum verlassen. Sie war vor 2010 in Korruptionsskandale verwickelt und ist es teilweise bis heute. Sie hat den Abbau sozialer Leistungen mitgetragen oder gar initiiert.

Im Kampf gegen den autoritären Umbau des ungarischen Staates durch Orbán kommt es darauf an eine Kraft aufzubauen, die in der Lage ist, den Angriffen Orbáns wirklichen Widerstand und die Vision einer wirklich demokratischen Gesellschaft entgegenzustellen. Eine Gesellschaft, in der die Lohnabhängigen demokratisch darüber entscheiden, wie der gesellschaftliche Reichtum eingesetzt wird.

Will sie diese Frage stellen, muss sie eine andere Frage stellen: Die Frage danach, wem was gehört. Das heißt diese Kraft muss bereit sein, das kapitalistische Eigentum an Produktionsmitteln infrage zu stellen, Krankenhäuser zu rekommunalisieren und demokratisch zu organisieren, private Unternehmen zu verstaatlichen und die Entscheidung über Produktion und Verteilung denen zu geben, die diesen Reichtum erwirtschaften.

Will man die Demokratie gegen Orbán verteidigen, muss man sozialistisch denken und handeln. Auch das tut keine Kraft der ungarischen Opposition. Und ganz gewiss tut das die EU nicht.

Eine solche Kraft unter den Bedingungen in Ungarn aufzubauen dürfte nicht leicht sein. Doch sie bleibt trotz aller Probleme alternativlos. Und das heißt auch, der Kampf gegen Orbáns Demokratie- und Sozialabbau, gegen Rassismus und Nationalismus braucht die Opposition der europäischen Arbeiter*innenbewegung. Diese gilt es unverzüglich zu organisieren, wenn wir nicht zusehen wollen, wie Ungarn zu einer Diktatur reicher Nationalisten über eine entrechtete, arme Bevölkerung wird.