Schrittweise Aufhebung des Lockdowns muss unter Kontrolle der Betroffenen stattfinden
Bundesregierung und Ministerpräsidenten der Länder haben erste Lockerungen der Corona-Maßnahmen beschlossen. Viele Menschen werden erleichtert sein, da es scheint, dass damit erste Schritte zur Normalität ergriffen werden. Doch die Politik von Merkel, Spahn und Co. ist kein Grund zur Erleichterung, sondern zur Sorge. Denn weiterhin werden die falschen Prioritäten gesetzt und das eigentlich Notwendige nicht gemacht.
Von Sascha Staničić
Auch wenn Infektionszahlen sinken, gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Immer noch schätzt das Robert-Koch-Institut die Risikolage als hoch ein. Gleichzeitig sinkt in der Bevölkerung, ausgehend von einem hohen Niveau, die Sorge vor dem Virus. Die nun beschlossenen Lockerungsmaßnahmen erhöhen das Risiko einer zweiten Infektionswelle. Vor allem aber, weil mit ihnen nicht die eigentlich nötigen Schritte zur Bekämpfung der Pandemie einher gehen.
Von Anfang an haben die politisch Verantwortlichen nicht konsequent im Sinne des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung gehandelt. Zuerst wurde die Gefahr des Corona-Virus unterschätzt bzw. trotz Warnungen aus der Wissenschaft und der Weltgesundheitsorganisation nicht gehandelt. Das erst machte die bisherige Verbreitung des Virus möglich. Dann wurden in einigen Bereichen sehr weitgehende Maßnahmen, wie Kontakt- und Ausgangssperren, Laden- und Gastronomieschließungen, Versammlungsverbote, Schul- und Kita-Schließungen und Abstandsregeln angeordnet, gleichzeitig aber unzählige Betriebe und Büros, die nicht zur Aufrechterhaltung der Grundversorgung wirtschaften, nicht geschlossen, was die beschlossenen Maßnahmen ad absurdum führt: was bringt es, wenn ich meine Freizeit alleine oder im Kreis der Familie zu Hause verbringe, um dann in voll besetzten Bussen ins Großraumbüro oder die Lagerhalle zu fahren, wo das Infektionsrisiko höher ist, als auf der Straße?
Tests und Masken
Vor allem aber wurde nicht konsequent und massiv in die eigentlich nötigen Maßnahmen investiert. So werden zwar mittlerweile deutlich mehr Tests durchgeführt, als noch im Februar (womit das Kind schon in den Brunnen gefallen war), es sind aber weiterhin viel zu wenige. Nötig sind flächendeckende Tests, um infizierte Personen zu lokalisieren und für den Zeitraum der Infektion isolieren und medizinisch behandeln zu können.
Aber die Marktwirtschaft ist nicht in der Lage, auf solche Notwendigkeiten schnell zu reagieren, die nötigen Laborkapazitäten und das entsprechende Personal zu organisieren und die nötigen Reagenzien und Materialien zu produzieren.
Das Gleiche gilt für den Umgang mit Mund-Nasen-Schutz und medizinischen FFP2- und FFP3-Schutzmasken. Hier gibt es ein Hin und Her seit Ausbruch der Pandemie, das nur durch einen Umstand zu erklären ist: es gibt einfach nicht genug Masken und es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um diese schnell und massenhaft herzustellen. Nun behauptet Gesundheitsminister Spahn, dass ab August in Deutschland fünfzig Millionen Masken wöchentlich hergestellt werden können. Zu spät und zu wenig! Und statt Unternehmen anzuweisen, zum Selbstkostenpreis solche Masken herzustellen, können sich gierige Kapitalisten nun eine goldene Nase verdienen. Der Preis für Schutzmasken ist um dreitausend Prozent gestiegen. Der deutsche Sportartikelhersteller Trigema verkauft zehn Masken für 120 Euro! Auch wenn Masken keinen ausreichenden Schutz für diejenigen darstellen, die sie tragen, sind sie eine große Hilfe bei der Eindämmung der Infektion, wenn sie von Infizierten genutzt werden, die ja oftmals gar nicht wissen, dass sie Träger*innen des Virus sind. Dazu ist es aber nötig, dass sie zumindest in Supermärkten und im öffentlichen Personenverkehr verpflichtend getragen werden, wofür sie wiederum erst einmal für alle Menschen kostenlos zur Verfügung gestellt werden müssen. Die Tatsache, dass Bundesregierung und Länderchefs nun nur empfehlen, Masken zu tragen (während einzelne Kommunen und Bundesländer eine Maskenpflicht einführen), ist nur Ausdruck ihrer Unfähigkeit, ausreichend Masken für die Einführung einer Maskenpflicht zu beschaffen.
Veranstaltungen und Demonstrationsfreiheit
Gleichzeitig wurden Großveranstaltungen bis Ende August verboten. Das ist im Hinblick auf Konzerte oder andere Massenveranstaltungen wahrscheinlich sinnvoll. Anders verhält es sich aber mit dem Demonstrationsrecht und hier besteht die Gefahr, dass Einschränkungen auf lange Sicht umgesetzt werden sollen. Nun hat das Bundesverfassungsgericht zwar ein generelles Versammlungsverbot zurück gewiesen, letztlich schränken die Länder und Kommunen dieses jedoch massiv ein und es wurden, zum Beispiel in Berlin und Köln, selbst kleine Proteste und Mahnwachen verboten, die die Abstandsregeln eingehalten haben (während in Dresden PEGIDA am Hitler-Geburtstag aufmarschieren durfte!). Hier muss gelten, dass nicht der kapitalistische Staat, sondern die Arbeiter*innen- und sozialen Bewegungen selbst darüber entscheiden können müssen, ob sie – unter Einhaltung von Sicherheitsregeln – auf die Straße gehen.
Druck des Kapitals nachgegeben
Gleichzeitig haben die Politiker*innen dem Druck aus der Wirtschaft nachgegeben und eine Öffnung von Geschäften mit einer Ladenfläche bis 800 Quadratmeter ermöglicht. Es ist keine Frage, dass diese Maßnahme das Infektionsrisiko unnötig erhöht und nur den Profitinteressen der Handelsunternehmen dient. Natürlich leiden zur Zeit auch viele kleine Gewerbetreibende unter den Ladenschließungen. Diesen muss unbürokratisch durch staatliche Zuschüsse geholfen werden, um sicherzustellen, dass sie ihren Angestellten weiter den vollen Lohn zahlen können und selbst nicht in die Pleite rutschen.
Schulen und Kitas
Die wichtigsten Beschlüsse treffen aber die schrittweise Wiederöffnung von Schulen. Zurecht protestieren die Lehrer*innengewerkschaft GEW und viele Lehrerinnen, Schüler*innen und Eltern gegen diese Maßnahmen, denn die derzeitigen Schritt werden nur unter dem Gesichtspunkt eingeleitet, das Prüfungssystem nicht in Frage zu stellen – und das obwohl klar sein sollte, dass angesichts der Schulschließungen der letzten Wochen und der psychischen Belastung durch die Pandemie keine „normale“ Prüfungsvorbereitung möglich ist. Was spricht eigentlich gegen ein Rettungspaket für Schüler*innen, das zum Inhalt hätte, diesem Jahrgang die Abschlüsse auf Basis der bisherigen Leistungen und in Erwägung eines überdurchschnittlichen Prüfungsergebnisses zu gewähren und Sitzenbleiben nur auf freiwilliger Basis zu ermöglichen (die Festlegungen könnten dann von Ausschüssen von demokratisch gewählten Vertreter*innen von Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern beschlossen werden)? Doch nur die ohnehin idiotischen Selektionsprinzipien des Kapitalismus, die junge Menschen nicht nach ihren tatsächlichen Fähigkeiten, sondern nach den Momentaufnahmen von Prüfungsergebnissen bewerten, um sie auf die kapitalistische Wettbewerbsgesellschaft vorzubereiten und verwertbar im Sinne der Lohnarbeit zu machen.
Schulöffnungen ohne eine Sicherstellung der notwendigen Hygiene- und Sicherheitsstandards und pädagogischer Konzepte für diese Ausnahmesituation sind zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls abzulehnen und sollten nur unter Kontrolle von demokratisch gewählten Vertreter*innen der Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern eingeleitet werden. Wer die Zustände in deutschen Klassenräumen und Schultoiletten kennt, weiß, dass es völlig unrealistisch ist, die Hygienestandards ohne Zeit kostende Veränderungen einzuhalten. In vielen Klassenräumen gibt es nicht einmal funktionierende Waschbecken.
Gleichzeitig sollen die Kindertagesstätten und der Schulbetrieb für jüngere Kinder auf absehbare Zeit nicht geöffnet werden. Das mag vom Gesichtspunkt der Eindämmung von Infektionsketten noch nachvollziehbar sein, darf aber nicht dazu führen, dass die materielle und psychische Belastung für Eltern und Kinder Privatproblem der Betroffenen bleibt. Hier muss gewährleistet werden, dass Eltern von Kita- und Grundschulkindern nicht zum Home Office gezwungen werden, sondern unter Beibehaltung der vollen Lohnfortzahlung von der Arbeit freigestellt werden und es für solche in „systemrelevanten“ Berufen, die dann noch arbeiten müssen, eine ausreichende Notversorgung unter Einhaltung der Hygiene- und Sicherheitsstandards, gibt. Trotzdem wird es Eltern geben, zum Beispiel Alleinerziehende mit mehreren Kindern, deren Belastungsgrenzen erreicht werden, mit den entsprechenden Gefahren für eine Schädigung der Kinder. Hierfür müssen unter Beteiligung von Pädagog*innen und Eltern Konzepte ausgearbeitet werden, um eine Entlastung und Formen von, ggf. zeitlich beschränkter, Fremdbetreuung der Kinder zu ermöglichen.
Fazit
Die Maßnahmen von Bund und Ländern sind falsche Prioritätensetzungen und orientieren sich einmal mehr an den Interessen der Wirtschaft statt der Gesundheit der Bevölkerung. Der Kampf für eine Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse, für ausreichend Tests, Masken und Schutzkleidung, für einen Ausbau des Gesundheitswesen, Umstellung der Produktion auf die notwendigen Produkte etc. muss endlich von den Gewerkschaften und der LINKEN entschlossen aufgenommen werden.