Nur eine sozialistische Alternative bietet einen Ausweg – Erklärung des Internationalen Sekretariats des CWI vom 14. Mai 2020
Die Coronakrise ist in Bezug auf die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen und geopolitischen Beziehungen in eine neue Phase übergegangen. Sie hat die wichtigsten Entwicklungen bestätigt, die in früheren Erklärungen des CWI aufgezeigt wurden. Eine neue Ära kapitalistischer Unruhen und sozialer Umwälzungen ist angebrochen, wie sie es seit den 1930er Jahren nicht mehr gegeben hat. Dramatische Veränderungen in der Weltlage wie auch innerhalb der einzelnen Länder entfalten sich in Windeseile. Der genaue Ausgang einiger dieser Entwicklungen bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt ungewiss. Es ist jedoch klar, dass der oligarchischer gewordene Kapitalismus als ein System entlarvt wurde, das heute nicht in der Lage ist, die Gesellschaft oder die Produktivkräfte in eine positive Richtung zu entwickeln. Es ist ein Gesellschaftssystem, das vor Blut trieft und die Gesellschaft ins Elend stürzt. Eine revolutionäre sozialistische Alternative bietet für die Menschheit in dieser Zeit den einzigen Ausweg.
Lateinamerika, Asien und Afrika sehen sich im Zuge der Wirtschafts- und Gesundheitskrise mit einem riesigen Ausmaß an menschlichem Elend konfrontiert. Nach China, Südkorea und einigen anderen asiatischen Ländern haben sich viele Regierungen in Europa und den USA bemüht, die Eindämmungsmaßnahmen zu lockern oder aufzuheben. Zumindest regional oder lokal riskieren sie eine “zweite Welle” des Virus mit potentiell verheerenden Folgen, wie die Situationen in Singapur, Südkorea, Deutschland und möglicherweise auch in China zeigen. Das kapitalistische System ist auf eine Arbeiter*innenklasse, die im Betrieb Güter produziert, und zugleich auf die Existenz eines Marktes angewiesen. Profitstreben ist ihr treibendes Motiv. Während Spekulation vielleicht für einige wenige eine Zeit lang Gewinne abwerfen kann, wie etwa am gegenwärtige Aufschwung an einigen Börsen zu sehen, erzeugt sie keinen wirklichen Wert. Das ist der Grund für das Bestreben, die Volkswirtschaften wieder hochzufahren. Die neuen „Öffnungsmaßnahmen“ gefährden Tausende von Menschenleben, was den Kapitalismus nicht interessiert. Dieser Umstand und die unbeholfenen Maßnahmen der kapitalistischen Regierenden zuvor reichen aus, um das System und seine Machthabenden in den Fokus der Kritik zu rücken. Der Mangel an Schutzausrüstung und sicheren Arbeitsbedingungen in den Industrien und Dienstleistungsbereichen, die wieder geöffnet wurden, wird wahrscheinlich einer der Brennpunkte sein, die in vielen Ländern Proteste und Streiks entfachen werden.
Die Schritte zur Wiederinbetriebnahme einiger Teile der Wirtschaft haben in einigen Ländern ein gewisses Maß an Zersplitterung der politischen Landschaft hervorgerufen. In den USA haben sich zwischen einigen Bundesstaaten und der Bundesregierung und/oder zwischen Gouverneuren der Bundesstaaten und Bürgermeistern von Städten Auseinandersetzungen entwickelt. Merkel in Deutschland sah sich dem offenen Druck der Bundesländer ausgesetzt und ließ diesen schließlich einen gewissen Spielraum, über viele Details der Öffnungsmaßnahmen selbst zu entscheiden. In Großbritannien sind die dezentralen Regierungen in Schottland, Wales und Nordirland in Widerspruch ui Johnsons sprunghaftem und unverantwortlichem Handeln geraten.
Die teilweise Wiedereröffnung der Wirtschaft wird eine noch nie dagewesene wirtschaftliche, soziale und politische Krise nicht abwenden können. Auch wenn die Daten unzuverlässig und nicht 100 Prozent genau sind, deuten sie doch allesamt auf eine Krise hin, die alles seit den 1930er Jahren in den Schatten stellen wird.
In früheren kapitalistischen Rezessionen oder Wirtschaftseinbrüchen bestand eine Tendenz, dass sich die Krise zu unterschiedlichen Zeiten auf bestimmte Wirtschaftssektoren konzentrierte: Produktion, Immobilien, Finanzen usw. Diese Krise hat viele Sektoren der Wirtschaft gleichzeitig und weltweit getroffen. Jeder Kontinent und jedes Land wurde von ihr heimgesucht. Es wird erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt der USA im zweiten Quartal um 10 Prozent sinken wird, während andere Schätzungen auf einen noch stärkeren Einbruch hindeuten. China verzeichnete nach offiziellen Angaben im ersten Quartal einen Einbruch von fast 7 Prozent. Rezessionen, die allein die beiden mächtigsten Volkswirtschaften treffen, hätten normalerweise schon verheerende Folgen. Doch auch der drittgrößte imperialistische Wirtschaftsblock, Europa, ist in diese zeitgleich ablaufende globale Krise hineingezogen worden.
Die deutsche Wirtschaft schrumpfte im ersten Quartal 2020 um 1,9 Prozent und wird im zweiten Quartal voraussichtlich um weitere 12,2 Prozent schrumpfen. Dieser Motor der europäischen Volkswirtschaften wird im Jahr 2020 insgesamt um mindestens 6,6 Prozent schrumpfen. In Großbritannien rechnet die britische Zentralbank nun damit, dass die Wirtschaft um 14 Prozent absacken könnte – die tiefste Rezession seit 300 Jahren. Das letzte Mal, dass ein solcher Jahresrückgang stattfand, war 1709, als die Wirtschaft durch den “Großen Frost”, der damals Europa heimsuchte, in den Ruin getrieben wurde.
Wie wir bereits in früheren Stellungnahmen dargelegt haben, wird dies zu einer regelrechten Flut von Entlassungen und einem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. In einer Woche haben über drei Millionen Arbeiter*innen in den USA Arbeitslosengeld beantragt; in einem Zeitraum von sieben Wochen ganze 33 Millionen. Viele US-amerikanische Kommentator*innen sind der Meinung, dass die tatsächliche Arbeitslosenquote dort bereits 20 Prozent erreicht hat.
Der Anstieg der Arbeitslosigkeit ist weltweit so explosionsartig, dass die Internationale Arbeitsorganisation damit rechnet, dass im informellen Sektor über 1,6 Milliarden Arbeiter*innen vom Verlust ihrer Lebensgrundlage bedroht sind. Und das bei einer Anzahl von 3,3 Milliarden Beschäftigten weltweit. Mit anderen Worten: 50 Prozent der weltweiten Erwerbstätigen werden arbeitslos sein. Die sozialen Folgen dieser Entwicklungen werden im weiteren Verlauf der Krise Revolution und Konterrevolution auslösen.
Wie wir in früheren Stellungnahmen erläutert haben, war die Kapitalistenklasse angesichts dieser Entwicklungen gezwungen, alles gegen diese Krise zu mobilisieren, um einen totalen Zusammenbruch zu verhindern. Der neoliberale Laissez-faire-Kapitalismus mit minimalen staatlichen Eingriffen wurde im Handumdrehen aufgegeben. Massive Notpakete wurden eingeführt, weil der Staat zum Handeln gezwungen war.
Obwohl es wichtige Unterschiede gibt, ist der größte historische Bezugspunkt für die gegenwärtige Krise die Große Depression der 1930er Jahre. Der Einbruch, mit dem der Kapitalismus in dieser Phase konfrontiert war, wurde durch einen Krieg überwunden, der die internationalen Beziehungen neu gestaltete. Das Abschlachten der Produktivkräfte in den 1930er Jahren wurde durch einen massiven Anstieg der Produktion von Rüstungsgütern und damit verbundenen Teilen der Wirtschaft überwunden und der “New Deal” in den USA verlieh der Wirtschaft einen Aufschwung. Die Übernahme keynesianischer Maßnahmen nach 1945 und der Marshall-Plan unterstützten die kapitalistische Erholung in Europa und ebneten den Weg für den Nachkriegsboom des Kapitalismus. In dieser Krise geschieht nichts dergleichen. Diese Krise entwickelt sich vor einem ganz anderen historischen Hintergrund als der kapitalistische Aufschwung in den 1930er Jahren und nach 1945.
Der Staat wurde zum Eingreifen gezwungen, um die Krise zu bewältigen und einen totalen Zusammenbruch zu verhindern. Dies sind jedoch Maßnahmen, mit denen versucht wird, die Krise zu beherrschen. Gelöst wird die Krise aber dadurch nicht. Sie haben den Rat befolgt, den Keynes Roosevelt in einem offenen Brief gab, der im Dezember 1933 in der New York Times veröffentlicht wurde, als er Folgendes schrieb: “Ihr habt euch selbst zum Treuhänder für diejenigen in jedem Land gemacht, die die Übel unserer Lage durch ein durchdachtes Experiment im Rahmen des bestehenden Gesellschaftssystems zu beheben versuchen. Wenn ihr scheitert, wird es in der ganzen Welt eine schwere Voreingenommenheit vor rationaler Veränderung geben, so dass die Wahl nur noch zwischen Orthodoxie und Revolution ausgefochten wird.“ (“You have made yourself the Trustee for those in every country who seek to mend the evils of our condition by reasoned experiment within the framework of the existing social system. If you fail, rational change will be gravely prejudiced throughout the world, leaving orthodoxy and revolution to fight it out.”)
Keynesianische Politik auf dem Prüfstand
Jetzt werden diese “keynesianischen” Maßnahmen auf die Probe gestellt. Die staatlichen Interventionen, die in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten ergriffen wurden, haben die Unternehmen unterstützt, indem große Teile der Belegschaft beurlaubt wurden und andere Maßnahmen ergriffen wurden, darunter die Vergabe massiver Kredite an Unternehmen. Durch ein massives Aufblähen der Schuldenblase wurde so ein völliger Zusammenbruch verhindert, was kurzfristig zu deflationärem Druck führen wird. Irgendwann wird diese Blase unweigerlich platzen. Der Kapitalismus wurde zudem durch die de-globalisierenden Entwicklungen massiv an der Lösung dieser Probleme behindert, die durch die Zunahme nationalistisch-protektionistischer Politik bereits im Vorfeld der Krise beschleunigt wurden. Während der Turbulenzen der letzten Monate hat sich diese Entwicklung noch verstärkt.
Die Idee eines “Bedingungslosen Grundeinkommens” wurde von einigen aufgeworfen, um der drohenden Massenarbeitslosigkeit und dem Niedriglohnsektor zu begegnen. Die spanische Regierung hat angekündigt, dass sie eine Form des BGE einführen will. Teile der Linken haben es als Mittel zur Bekämpfung von Armut und Niedriglöhnen unterstützt. Verständlicherweise haben sich auch einige Arbeiter*innen und junge Menschen dafür ausgesprochen. Die Kapitalistenklasse wird das BGE jedoch, wenn es in einigen Ländern eingeführt wird, als Mittel zur Schwächung oder zum Bruch vertraglicher Vereinbarungen mit den Gewerkschaften und zur Senkung der Löhne nutzen. Es könnte eingesetzt werden, um mit der Massenarbeitslosigkeit zurechtzukommen, könnte aber auch Teilen der Kapitalistenklasse zugute kommen, indem sie das allgemeine Lohnniveau der Arbeiter*innenklasse nach unten treibt. Das CWI setzt dagegen die Forderung nach menschenwürdigen Lohn- und Arbeitsbedingungen, einer Arbeitszeitverteilung bei vollem Lohnausgleich und der Einführung von Arbeitslosengeld, Sozialhilfe sowie Rente in Höhe eines menschenwürdigen existenzsichernden Mindestlohns.
Die Schuldenkrise
Einige Kommentator*innen wurden durch die Kursanstiege in den Wall Street-Börsen-Casinos aufgemuntert. Dies steht in keinem Verhältnis zu dem Schaden, den die meisten US-amerikanischen Kleinanleger*innen mitgenommen haben. Der Börsenaufschwung ist weitgehend eine Reaktion auf die Intervention der amerikanischen Zentralbank, die Unternehmen unterstützt hat, die kurz vor der Pleite standen. Sie intervenierte, um Unternehmensschulden in unvorstellbarem Umfang aufzukaufen, einschließlich des Kaufs risikoreicher “Schrottanleihen”. US-Unternehmen haben in den letzten sechs Wochen Anleihen im Wert von 560 Milliarden US-Dollar ausgegeben.
Die explosionsartige Zunahme der Defizitfinanzierung und der aufgelaufenen Schulden ist ein entscheidendes Element der Weltwirtschaft. Die US-Schuldenquote liegt derzeit bei 110 Prozent des BIP. Italiens Verschuldung im Verhältnis zum BIP hat bereits 135 Prozent erreicht und wird wahrscheinlich auf 155 Prozent ansteigen. Der Internationale Währungsfonds geht davon aus, dass die Schuldenquote in einem durchschnittlichen kapitalistischen Industrieland in der kommenden Zeit 120 Prozent des BIP erreichen wird. In vielen der kapitalistischen Großmächte sind weitere staatliche Interventionen wahrscheinlich, wenn diese notwendig werden, um zu versuchen einen Zusammenbruch und/oder revolutionäre Ausbrüche abzuwenden.
Doch während die größten kapitalistischen Industrieländer dies für eine gewisse Zeit ertragen können, um diese Krise zu bewältigen, werden sie der Arbeiter*innenklasse später die Rechnung vorlegen. Dies wird massive Klassenkämpfe auslösen.
Doch in den neokolonialen Ländern ist das eine ganz andere Angelegenheit. In jüngster Zeit hat Argentinien, das auf seinen neunten Schuldenausfall seit der Unabhängigkeit 1816 zusteuert, die Rückzahlung seiner Schulden teilweise ausgesetzt. Dies veranschaulicht, dass die Frage der Schuldenrückzahlung in der neokolonialen Welt zu einer entscheidenden Frage werden wird. Die Forderung nach einer Verweigerung der Schuldenzahlung und die Verstaatlichung der Banken sind zentrale Aspekte des Programms des CWI in diesen Ländern.
Die Tiefe der gegenwärtigen Krise ist so groß, dass die Kapitalistenklasse gezwungen sein könnte, noch weiter zu gehen und beispiellose Schritte zu unternehmen, um die staatliche Intervention zu verstärken. Sollte sich die wirtschaftliche Rezession zu einem anhaltenden Wirtschaftseinbruch vertiefen, ist es nicht ausgeschlossen, dass große Teile der Wirtschaft, sogar mehr als 50 Prozent, auf kapitalistischer Basis de facto verstaatlicht werden könnten. Dies ist etwas, das in der Vergangenheit in der neokolonialen Welt stattfand, aber normalerweise nicht im imperialistischen Westen.
Was steht uns bevor?
Die keynesianischen Maßnahmen der staatlichen Intervention haben die zugrunde liegende Krise, die sich bereits vor der Pandemie abzeichnete, nicht gelöst. Die massiven Entlassungen in der Luftfahrtindustrie und in anderen Sektoren sind erste Vorläufer dessen, was in anderen Teilen der Weltwirtschaft auf uns zukommt.
Einige kapitalistische Kommentatoren hoffen optimistisch, dass auf die Rezession/Depression, die die Weltwirtschaft durchzieht, ein schneller Aufschwung folgt – eine “V”-förmige Erholung – oder ein “U” mit einer kurzen Periode abgeflachter Aktivität vor der Erholung. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Covid-19 im besten Fall durch einen Impfstoff oder durch Behandlungen unter Kontrolle gebracht werden kann, ist dies Wunschdenken und minimiert die Widersprüche, Entwicklungen und Merkmale, die derzeit existieren. Zwar wird es nach den Produktionsstilllegungen unweigerlich zu einem gewissen Anstieg des Produktionsausstoßes kommen, aber es wird nicht wieder das Niveau vor der Pandemie erreichen.
Ein “Dead-Cat-Bounce” (metaphorisch: kurzanhaltende, nicht nachhaltige Erholung nach starkem Wirtschaftseinbruch; Anm. d. Übersetzers) ist möglicherweise ein wahrscheinlicheres Szenario für die kommenden Jahre. Zwar ist ein kurzes, mageres “Wachstum” möglich, aber es kann weder aufrechterhalten werden noch zu einer dauerhaften Belebung der Wirtschaft führen. Selbst wenn es im Jahr 2021 zu einem kleinen “U”-Aufschwung kommt, deuten alle in der Wirtschaft vorhandenen Faktoren nun auf eine tiefere Rezession oder Depression hin, die sich im Laufe der 2020er Jahre entfaltet, möglicherweise mit zeitweiligen Perioden flacher, nicht nachhaltiger “Aufschwünge” für kurze Zeiträume. Wie wir in anderen Dokumenten vor der Pandemie betont haben, dauerte es ein Jahrzehnt oder länger, bis die Weltwirtschaft gerade erst wieder das Niveau von vor der Krise 2007/8 erreichte.
Die massive Verschuldung, sowohl der öffentlichen als auch der privaten Haushalte, kann in Verbindung mit dem Verlust oder der Verringerung der Einkommen von Millionen von Menschen zu Massenausfällen privater Schuldzahlungen und Konkursen führen. Der Markt wird durch Einkommensausfälle, Einsparungen sowie durch Zukunftsängste geschwächt, was die Verbraucher*innen umso vorsichtiger macht, wenn es darum geht, alles was sie haben könnten, auszugeben. Allein der Rückgang der Einkommen im informellen Sektor wird den Markt dämpfen. Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass im informellen Sektor auf dem amerikanischen Kontinent und in Afrika ein Einkommensrückgang von 81 Prozent stattfinden wird; im asiatisch-pazifischen Raum ein Rückgang um 21,6 Prozent und in Europa und Zentralasien um 70 Prozent. Das Ausbleiben neuer Märkte aufgrund steigender Armut, Massenarbeitslosigkeit und ein wachsendes Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich deuten allesamt auf eine länger andauernde Rezession/Depression hin. Hinzu kommen die wachsenden Handelsspannungen, die Zusammenstöße zwischen den USA und China und die beschleunigte De-Globalisierung der Wirtschaft. All dies sind klare Hinweise darauf, dass eine wirkliche Erholung weit von einer wahrscheinlichen Perspektive entfernt ist.
Wir haben dies in unserer vorherigen Analyse ausgeführt. Das Verständnis dieser und anderer Faktoren zusammen mit der Pandemie hat nun auch den Ökonomen Nouriel Roubini zu der Schlussfolgerung veranlasst, dass eine “L-förmige” Rezession wahrscheinlicher ist und “jetzt einen regelrechten Sturm zu entfachen droht, der die gesamte Weltwirtschaft in ein Jahrzehnt der Verzweiflung fegt”. (“[…] now threaten to fuel a perfect storm that sweeps the entire global economy into a decade of despair.”in: “Ten reasons why a ‘Greater Depression’ for the 2020s is inevitable”, Guardian-Website, 29. April)
In der kapitalistischen Wirtschaft finden zwei Entwicklungen statt. Einige Teile der Produktivkräfte werden zerstört und gehen unter. Viele Unternehmen werden früher oder später zusammenbrechen. Die Aussicht auf den Bankrott kleinerer Unternehmen wird in einigen Teilen der Wirtschaft zu einer noch größeren Monopolisierung führen. Andere Sektoren wie der Vertrieb schießen in die Höhe, Amazon und andere werden massive Gewinne erzielen.
Einige Kommentator*innen haben die Aussicht auf massive Investitionen in die „grünen“ Wirtschaftsbereiche als einen Weg zur Wiederankurbelung der Wirtschaft gestellt. Ein solches Element findet in einigen Ländern bereits statt und könnte noch weiter gehen, beispielsweise durch staatliche Anreize zum Austausch ölgetriebener Fahrzeuge. Die Industrie für fossile Brennstoffe befindet sich in großen Schwierigkeiten. Dies hat jedoch seine Grenzen und es ist höchst unwahrscheinlich, dass dies auf globaler Ebene geschieht. Darüber hinaus wird es nicht ausreichen, um die Weltwirtschaft wieder anzukurbeln und den Weg für einen raschen oder anhaltenden Aufschwung des Kapitalismus zu ebnen. Die De-Globalisierung der Wirtschaft, nationaler Protektionismus, dass jede Kapitalistenklasse nur zur Verteidigung ihrer eigenen Interesse handelt und das Fehlen eines Marktes werden verhindern, dass dies zu einer Ausstiegsstrategie zur Überwindung des Konjunkturtiefs wird, in dem der Kapitalismus jetzt gefangen ist.
Die Tendenz einiger der imperialistischen Mächte, die Produktion aus den Billiglohnländern “nach Hause” zu holen, dürfte den betroffenen Binnenwirtschaften nicht wesentlich zugute kommen. Eine Standortverschiebung wird mit einer verstärkten Automatisierung und Versuchen einhergehen, die Arbeitsbedingungen zu senken, wodurch möglicherweise der Inlandsmarkt oder ein Teil davon zurückgehen wird.
Eine neue Ära einer tiefen kapitalistischen Krise ist angebrochen. Die Corona-Pandemie hat alle Entwicklungen, die zuvor in allen gesellschaftlichen Bereichen auf nationaler und globaler Ebene bestanden und sich entwickelten, rapide beschleunigt. Dies gilt für den Technologieeinsatz, Arbeitsweisen und Aspekte der gesellschaftlichen Funktionsweise. Ein Merkmal dafür ist die rasche Verdrängung der Verwendung von Bargeld als Zahlungsmittel durch Kartentransaktionen, insbesondere in den Industrieländern. Ein höheres Maß an Ausbeutung haben viele Beschäftigte erlebt, die von Zuhause aus gearbeitet haben, insbesondere längere Arbeitszeiten. Was aus der Pandemie entstand, wird nun von der Kapitalistenklasse dafür vorbereitet, um die Arbeitsbedingungen anzugreifen und die Ausbeutung sowohl der Arbeiter*innen als auch der Mittelklassen zu verstärken.
Demokratische Rechte verteidigen
Das CWI hat alle Maßnahmen unterstützt, die dem Schutz der Gesundheit und Sicherheit aller Menschen dienen. Alle Maßnahmen müssen unter der demokratischen Kontrolle der arbeitenden Menschen stehen. Doch wie wir bereits erwähnt haben, hat die herrschende Klasse diese Krise genutzt, um repressive und autoritäre Maßnahmen durchzusetzen. In El Salvador marschierte der Präsident, Nayib Bukele, mit einer bewaffneten Truppe von Soldaten in den (von der FMLN kontrollierten) Kongress ein, besetzte den Rednerstuhl und löste den Kongress damit praktisch auf.
Der verstärkte Einsatz von Überwachung und repressiven autoritären Maßnahmen durch den Staat wird ein Merkmal der Nach-Corona-Welt sein. Die an den Film “Total Recall” erinnernden, dystopischen Bilder des Roboterhunds, der im Bishan Park in Singapur patrouilliert, die Entfernung zwischen den Menschen misst und diejenigen aufzeichnet, die gegen die Abstandsregelungen verstoßen, sind ein Hinweis darauf, was auf uns zukommt. Der Kampf für die Verteidigung demokratischer Rechte und gegen autoritäre Herrschaft wird für die Arbeiter*innen international an Bedeutung gewinnen.
Neue internationale Beziehungen zwischen den Mächten
Eine neue kapitalistische Weltordnung ist im Entstehungsprozess. Eine Neuordnung der geopolitischen Beziehungen zwischen den imperialistischen Großmächten ist im Gange. Innerhalb der Regionen versuchen die lokalen Mächte, ihre Einflusssphäre zu stärken oder auszubauen. In dieser Krise angelegt ist damit auch die Aussicht auf regionale Kriege und Konflikte, einschließlich derer, die stellvertretend für die imperialistischen Großmächte ausgetragen werden.
Das zentrale Element in dieser sich wandelnden geopolitischen Beziehung zwischen den Mächten ist die abnehmende Bedeutung des US-Imperialismus und der Aufstieg des kapitalistischen China mit seiner eigenen besonderen Form des Staatskapitalismus. Das alte Ziel der “Pax Americana” als einzige Weltmacht starb auf den Schlachtfeldern des Irak. Der US-Imperialismus bleibt nach wie vor die mächtigste Kraft, aber er wird immer schwächer. China hat in seiner Position als Weltmacht ein rasantes Wachstum erlebt. Im Jahr 2000 machte es 3,6 Prozent des globalen BIP aus; bis 2020 war dieser Anteil auf 15,5 Prozent gestiegen! Vier der zehn größten Banken weltweit sind chinesische Banken. China ist auf dem besten Weg, aus dieser Krise in einer gestärkten globalen Position hervorzugehen. In welchem Maße die USA geschwächt und China gestärkt ist, oder wie schnell sich diese Entwicklung vollzieht, ist noch nicht ganz klar. Die erstarkte Position Chinas kann auch durch soziale Spannungen und Umwälzungen im Inland aufgehalten oder unterbrochen werden. Es ist unwahrscheinlich, dass eine einzelne Macht als klarer Gewinner aus dieser Krise hervorgehen wird.
Dies steht in deutlichem Kontrast zu dem, was sich aus der Krise der 1930er Jahre und der Situation nach 1945 entwickelt hat. Nach dem Ende des Krieges 1945 traten die USA eindeutig als die dominierende imperialistische Macht hervor. Sie wurde durch die Existenz der ehemaligen Sowjetunion und der stalinistischen Staaten wieder ausgeglichen. Keiner dieser Faktoren ist in der sich entfaltenden Krise vorhanden. Es zeichnet sich eine neue entscheidende Veränderung des globalen Kräfteverhältnisses ab.
Die wachsenden Spannungen und Konflikte zwischen den USA und China haben sich während der Pandemie verschärft. Der Anfang Januar zwischen Trump und Xi Jinping ausgehandelte “Waffenstillstand” im Handeskrieg beginnt sich aufzulösen und könnte bei wachsenden Spannungen auseinander fallen. Die USA versuchen nun, die wirtschaftlichen Maßnahmen gegen China zu verstärken. Insbesondere versucht Trump nun, die Lieferketten und Investitionsströme einzudämmen. Das ist eine äußerst riskante Politik, die der US-Wirtschaft im Vorfeld der Wahlen im November weiteren Schaden zufügen kann.
Dies ist zum Teil auf den US-Wahlkampf und darauf zurückzuführen, dass Trump nationalistische, antichinesische Rhetorik verwendet, um von der Krise abzulenken, die die US-Gesellschaft erfasst hat. Doch die Unterstützung, die dies auch von vielen Demokraten erhält, zeigt, dass dies auch als Ausdruck des Drucks verstanden werden muss, unter dem der US-Imperialismus im Wettbewerb mit China steht. In Latein- und Mittelamerika, was als der “Hinterhof” der USA betrachtet wurde, wurde der US-Imperialismus zurückgedrängt, während China seinen Einfluss ausbaute. Es gibt jetzt einen offenen Konflikt zwischen den beiden Mächten um Einfluss in der Region. Dies wird durch die verpfuschte Intervention von US-Söldnern in Venezuela veranschaulicht, die an das schwerwiegendere Schweinebucht-Fiasko in Kuba 1961 erinnerte, als der US-Imperialismus bei seinem Versuch scheiterte, das Regime von Fidel Castro zu stürzen. China hat sowohl Chávez als auch Maduro unterstützt und Lieferungen nach Venezuela geschickt. China hat auch das US-Embargo gegen Kuba gebrochen.
Im Südchinesischen Meer sind die militärischen Spannungen eskaliert, wenn auch noch nicht bis zu einem offenen Konflikt in der momentanen Situation. China hat umstrittene Sandbänke und Riffs besetzt und befestigt. Seine Seemanöver haben ebenso zugenommen wie die Marinepräsenz der USA und Australiens in diesem Gebiet. China hat auch Taiwans Verteidigung mit Lufteinsätzen getestet und im März seine erste Nachtübung durchgeführt. Weder China noch die USA streben derzeit einen Krieg an, aber versehentliche Ausbrüche und Gefechte können nicht ausgeschlossen werden. Dies würde eindeutig die Spannungen weiter dramatisch verschärfen.
Die Geschwindigkeit und Tiefe der Covid-19-Pandemie und Krise hat die Veränderungen der Beziehungen und des Kräfteverhältnisses in vielen Regionen der Welt beschleunigt. Obwohl Russland seine Einflusssphäre im Nahen Osten gestärkt hat, war es nicht in der Lage, aus der gegenwärtigen Krise Kapital zu schlagen. Auch Putin ist mit einer unsichereren und potenziell explosiven innenpolitischen Situation konfrontiert. Wie andere Golfstaaten wurde auch Saudi-Arabien durch den Einbruch der Ölpreise erschüttert und hat nun ein Haushaltsdefizit von 61 Milliarden US-Dollar, das es zwingt, Kürzungen bei den Staatsausgaben vorzunehmen. Wachsende Spannungen mit den USA verändern seine bisherige Rolle als stellvertretende US-Macht in der Region. Der jüngste Abzug von US-Raketen und einigem Militärpersonal spiegelt dies wider. Gleichzeitig hat Saudi-Arabien die Beziehungen zu Israel intensiviert, motiviert vor allem durch die gemeinsame Opposition gegen den Iran.
Innerhalb Europas gefährden die Auswirkungen der Krise auch weiterhin die Eurozone und sogar die EU in ihrer jetzigen Zusammensetzung. Das Scheitern einer Vereinbarung zwischen den EU-Mächten über die Ausgabe von “Coronabonds” als Mittel zur Verteilung der Kosten der Krise, wie von Spanien und Italien vorgeschlagen, spiegelt die Kluft wider, die sich rasch innerhalb der EU zwischen dem Norden und dem Süden auftut. Eine deutliche Warnung an die EU ist auch mit dem jüngsten Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts aufgetaucht, das eine 2015 getroffene Entscheidung der EZB in Bezug auf ihre Ankäufe von Vermögenswerten (Public Sector Purchase Programme) in Frage gestellt hat. Dieses Urteil wird keine unmittelbaren Auswirkungen haben, aber es spiegelt die verschärften Spannungen wider, die sich entwickeln.
Diese Entwicklungen eröffnen ein neues Kapitel in der Geschichte des Kapitalismus und der Menschheit. Eine explosive Zeit beginnt nun für den globalen Kapitalismus. Politische Polarisierung und Radikalisierung vollziehen sich in einer Art und Weise, wie sie seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt wurden, schon gar nicht seit den 1930er Jahren. Sie kommt im Gefolge der Krise von 2007/8 und ihrer bitteren Folgen eines weitgehend stagnierenden oder sinkenden Lebensstandards und einer massiven Konzentration von Reichtum in die Hände der superreichen oligarchischen Kapitalisten. Der Kampf zwischen den Klassen wird in den kommenden Monaten und Jahren so scharf entbrennen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Er wird Merkmale von Revolution und Konterrevolution, aber auch von gesellschaftlicher Desintegration aufweisen. Die revolutionären Bewegungen, die im Libanon und in Hongkong entstanden sind, haben sich fortgesetzt oder wurden wieder aufgenommen. In Chile haben kleine Proteste begonnen, was ein Vorläufer für einen neuen Aufschwung der Bewegung ist. Als Folge dieser Krise werden in anderen Ländern mit Sicherheit größere Bewegungen ausbrechen.
Die Elemente des Bürgerkrieges, die sich in den USA entwickeln und vor denen wir gewarnt haben, wurden durch die bewaffneten Proteste in Michigan gegen den Gouverneur des Bundesstaates deutlich. Die Tatsache, dass demokratische Staatssenatoren in kugelsicheren Westen im Plenarsaal saßen und ein Senator umgeben von einer bewaffneten Leibgarde im Staatskongress eintraf, zeigt die Polarisierung, die bereits stattgefunden hat.
Die Tiefe dieser Krise wird die Bedeutung des subjektiven Faktors der Führung und der Organisationen der Arbeiter*innenklasse noch stärker in den Vordergrund rücken. Das Zusammenbringen der Kräfte, um die herum große revolutionäre sozialistische Parteien aufgebaut werden können, ist jetzt eine dringende Aufgabe. Der Aufbau von Gewerkschaften als Kampforganisationen der Arbeiter*innenklasse sowie die Notwendigkeit von Massenparteien der Arbeiter*innenklasse mit sozialistischer Politik stellt sich jetzt in schärfster Form. Die Autorität der herrschenden Klassen ist im letzten Jahrzehnt untergraben und geschwächt worden. Diese Krise wird diesen Prozess noch verstärken.
In den USA ist das Interesse an sozialistischem Gedankengut weit verbreitet. Dies kann sich in anderen Ländern als Folge der Krise entwickeln. Gleichzeitig haben es die Führer*innen der offiziellen “Linken” und die Gewerkschaftsführung während dieser Pandemie im Großen und Ganzen versäumt, eine Alternative zur Kapitalistenklasse und ihren Politiker*innen anzubieten. Die populistische Rechte versucht in einigen Ländern die Situation auszunutzen. Dagegen muss angekämpft werden, indem Sozialist*innen mutig die Interessen der Arbeiter*innen verteidigen und ein Programm zum Bruch mit dem Kapitalismus aufstellen. Dem CWI und anderen wird die Möglichkeit des Aufbaus starker und mächtiger revolutionärer sozialistischer Parteien aufgetan. Eine vollständige Analyse der objektiven Situation und dieser neuen Epoche des Kapitalismus, die jede Wendung der Ereignisse erkennt, und ein unerschrockenes Programm, welches mit der Barbarei des Kapitalismus bricht und eine sozialistische Alternative aufstellt, sind jetzt eine unverzichtbare Notwendigkeit.