Ja, nach Hitler gab es noch eine Nazi-Regierung in Flensburg

Dönitz und Hitler / Foto: Bundesarchiv, Bild 183-V00538-3 / CC-BY-SA 3.0

Über die Kooperation der Westallierten mit den Faschisten nach der deutschen Kapitulation

Ob Beatrix von Storch wohl die Tage häufig an ihren Urgroßvater denkt? Man mag es annehmen, immerhin war Graf Schwerin von Krosigk, nach einer langen Karriere als Finanzjongleur in Hitlers Kabinett, wo er mit allerlei schmutzigen Tricks das Geld für den verbrecherischen Krieg der Nazis zusammenzukratzen half, auch Mitglied der letzten Reichsregierung unter Admiral Dönitz. Die ließ noch zwei Wochen nach der von Dönitz hingenommenen Gesamtkapitulation der deutschen Wehrmacht das „Dritte Reich“ weiterleben. Im Westentaschenformat zwar, aber nicht weniger verbrecherisch und geduldet von den Westalliierten. Die versuchten damit an eine Vorkriegsstrategie anzuknüpfen.

Von Steve Hollasky, Dresden

Am 20. April 1945 nahm die Rote Armee das Regierungsviertel in Berlin mit weitreichender Artillerie unter Feuer. Auf einige Granaten hatten die sowjetischen Soldaten „herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“ geschrieben. Hitler wurde an diesem Tag 56 Jahre alt. Neun Tage später diktierte er sein „politisches Testament“. Der ebenfalls mit ihm im Bunker unter der Reichskanzlei eingeschlossene Propagandachef Josef Goebbels sollte Hitler als Reichskanzler folgen und Großadmiral Dönitz in Flensburg das Amt des Reichspräsidenten ausfüllen. Damit spaltete Hitler die Ämter, die er nicht ganz elf Jahre zuvor in seiner Person verschmolzen hatte auf zwei Personen auf. Einen Tag später wird sich Hitler das Leben nehmen.

Der Zweite Weltkrieg

Der Krieg war da schon längst verloren. Ein Krieg, der in all seiner Schrecklichkeit, für die Herrschenden in Deutschland nur die Ouvertüre für den eigentlichen Krieg um die Weltherrschaft sein sollte. Ausfechten wollte man den auf den Weltmeeren und dem amerikanischen Doppelkontinent.

Hitlers strategische Überlegung war, mittels „Blitzkriegen“ Europa zu unterwerfen. Besonders die Sowjetunion lag dabei im Fokus seiner Eroberungspläne: Die Aufzeichnungen seiner „Tischgespräche“, die er während des Krieges mit einem engen Kreis von Vertrauten führte, zeugen davon, dass er in der UdSSR so etwas sehen wollte, wie es die Briten mit Indien hatten: Eine Kolonie, die die deutsche Großindustrie mit billigen Rohstoffen versorgen und die Verfügbarkeit über ein beinahe kostenloses Heer an Arbeitskräften sicher stellen sollte. Die Sowjetunion als das deutsche Indien – so hatte es Hitler gern erklärt, wenn er sich bei Kaffee und Kuchen wieder einmal in Wallung geredet hatte, während an den Fronten Millionen den Tod fanden. Für ein Überleben der sowjetischen Zivilbevölkerung war da kein Platz. Ganze Städte sollten eingeebnet, Moskau durch einen Stausee ersetzt werden.

Diese Art des Vernichtungskriegs war etwas Neues und ging selbst über die unbeschreiblichen Zustände in den Kolonien der Großmächte weit hinaus. Zugleich barg sie allerlei Verheißungen in sich: Die deutschen Unternehmer stritten sich stets schon bevor Länder durch deutsche Truppen besetzt oder blutig unterjocht worden waren um die Pfründe dieser Regionen. Wer beispielsweise die tschechischen Skoda-Werke weiterführen dürfte, war schon vor der Besetzung der Tschechischen Republik 1939 vollkommen klar. Und so spielten sie alle mit und verdienten sich eine goldene Nase: Messerschmidt lieferte Jagdflugzeuge für gutes Geld; Ferdinand Porsche Panzer; Varta, damals im Besitz der Familie Quandt, die nicht nur Hauptanteilseigner von BMW, sondern auch wegen des schonungslosen Einsatzes von Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlingen in ihren Werken schwer belastet ist, stellte Batterien für die Unterwasserfahrten deutscher U-Boote her, die Bayerischen Motorenwerke produzierten Triebwerke für Flugzeuge und Hugo Boss schneiderte die Uniformen der SA. Der Zweite Weltkrieg war ein gutes Geschäft!

Die Westalliierten

Und hatte man Adolf Hitlers „Mein Kampf“ genau gelesen, dann wusste man auch, wem Gefahr drohte: Vorrangig der UdSSR. Die Völker der Sowjetunion bestanden in Hitlers Rassenwahn aus Untermenschen; hinter dem Bolschewismus steckten in diesem Duktus die Jüdinnen und Juden. Hilters Absicht, das Staatseigentum an Produktionsmitteln und die Planwirtschaft vom Erdball zu tilgen, musste den deutschen Industriellen und den Westalliierten gleichermaßen gefallen. Würden sich Hitlers Eroberungspläne Richtung Osten ausbreiten, würden sich Paris und London damit abfinden können und so ließ man den Diktator in Berlin im Rahmen der „Containment-Politik“ nicht nur einfach gewähren, man griff ihm sogar unter die Arme. Während der Verhandlungen zum Münchener Abkommen 1938, in dem über die Zukunft der Tschechoslowakischen Republik entschieden wurde, wurden noch nicht einmal die Prager Verbündeten eingeladen und entschieden sie in deren Abwesenheit zusammen mit den italienischen und deutschen Faschisten, dass diese das Sudetenland an Deutschland abzutreten hatten.

Als Hitlers Truppen Polen überfielen, erklärten London und Paris Berlin zwar den Krieg, aber sie blieben in ihren Stellungen und warteten ab. Der „drole de guerre“ („komischer Krieg“) dürfte Ausdruck der letzten Hoffnung der kapitalistischen Mächte des Westens gewesen sein, man könne sich mit dem faschistischen Kapitalismus in Deutschland doch noch einigen.

Die Sowjetunion und der Krieg

Die Zeiten, in denen Hitler die Weltmächte an der Nase herumgeführt hatte, waren 1945 lange vorbei. Die deutschen imperialen Ideen bluteten vor Moskau, im Kessel von Stalingrad, am Kursker Bogen und letzten Endes im Kessel von Berlin aus. Unzweifelhaft hatte die UdSSR in diesem Krieg die Hauptlast getragen. Nicht weniger als 27 Millionen Menschen, davon etwa zwanzig Millionen Zivilist*innen waren in diesem Krieg gefallen oder ermordet worden.

Die stalinistische Führung in Moskau zeigte sich nicht nur in erschreckendem Maße unfähig, diesen Krieg zu führen – so hatte Stalin die gesamte Führung der Roten Armee abgesetzt und umgebracht -, sondern sie hatte vor dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 sogar mit den Nazis paktiert. Dieser Pakt hatte Hitler nicht nur geholfen, Polen zu überrollen, sondern hatte ihm auch materielle Unterstützung der Sowjetunion bei der Eroberung Frankreichs gesichert (so erhielt die deutsche Marine Treibstoff aus der UdSSR und wurden Kriegsschiffe in Archangelsk gewartet).

Dann griff Hitler die Sowjetunion 1941 an und der heldenhafte Widerstand der sowjetischen Soldat*innen brachte die Entscheidung im Zweiten Weltkrieg. Allein 56 Prozent der deutschen Luftwaffe waren durch die Luftwaffe der UdSSR zerstört worden, nur etwas mehr als ein Drittel durch die Westmächte. Als diese sich 1944 endlich entschlossen hatten, in Frankreich zu landen, kämpften mehr als 180 deutsche Divisionen an der Front mit der Sowjetunion.

Stalin tobt

In diesem Krieg hatte Stalin dem Bündnis mit den Westmächten alles untergeordnet, auch die sozialistischen Bewegungen in den europäischen Ländern. Mitten im Krieg, 1943, löste er die Kommunistische Internationale auf. Nun, im Mai 1945, hörte er plötzlich, dass der britische Premierminister, Winston Churchill, im schleswig-holsteinischen Flensburg die Existenz einer faschistischen Regierung duldete. Stalin war außer sich. Schon die Kapitulation der deutschen Wehrmacht war in der Nacht vom 7. zum 8. Mai lediglich von westalliierten Generälen entgegengenommen worden. Die Sowjetunion musste gehörig Druck entfalten, damit das Schauspiel in der Nacht darauf noch einmal in Anwesenheit sowjetischer Kommandeure wiederholt wurde. Und nun das!

Stalin schickte eine Abordnung sowjetischer Generäle nach Flensburg, damit die sich ein Bild von der Lage verschaffen konnten. Generalmajor Trussow und 15 ihm unterstellte Offiziere trafen am 17 Mai – gut zehn Tage nach der deutschen Kapitulation – in Flensburg ein und rieben sich die Augen: An öffentlichen Gebäuden wehten Hakenkreuzfahnen und deutsche Offiziere und Generale spazierten durch die Stadt, als hätten sie den Krieg nicht gerade eben verloren, sondern als wären sie Teil der Siegermächte. Sie verlangten gegrüßt zu werden, trugen Waffen und präsentierten bei jeder Gelegenheit stolz ihre Auszeichnungen. Sie grüßten bei jeder Gelegenheit lauthals mit „Heil“. Das „Hitler“ sparte man sich einstweilen, angesichts des unrühmlichen Endes des „Größten Feldherrn aller Zeiten“.

Briten und US-Amerikaner spielen mit

Die ganze Szenerie wirkte ebenso unwirklich wie erschreckend. Zu ihrem Amtssitz hatte die Regierung Dönitz die Marineschule in Flensburg auserkoren. Bis heute ist sie im Besitz der deutschen Bundeswehr. In der Förde ankerte derweil das Schiff „Patria“, auf dem eine Abordnung britischer und US-amerikanischer Offiziere Quartier bezogen hatte. Die versicherten der sowjetischen Delegation, dass man alles im Griff habe.

Was sie darunter verstanden, zeigt das Radiointerview der BBC mit Graf Schwerin von Krosigk am 11. Mai 1945. Dort schwor er den britischen Zuhörer*innen, seine Regierung werde ab sofort rechtsstaatliche Prinzipien befolgen und den Diktaturstaat in ein konstitutionelles Staatswesen umwandeln.

Am Kabinettstisch saß der Adlige mit Albert Speer, der die deutsche Rüstung gnadenlos angetrieben hatte und Wilhelm Stuckart, der während der Wannseekonferenz im Januar 1942 die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden mit geplant hatte.

Mit dieser Regierung wollte Churchill zusammenarbeiten und die Demobilisierung der deutschen Wehrmacht zusammen durchführen. Dieses Vorgehen war nicht neu. Nach Mussolinis Sturz in Italien 1943 hatten die Westalliierten mit dessen faschistischem Nachfolger Badoglio gemeinsame Sache gemacht.

Verbrecherische Regierung – verbrecherische Politik

Damit gab Churchill Leuten wie Herbert Backe die Möglichkeit mehr als zwei Wochen hindurch Landwirtschaftsminister zu spielen. Backe hatte im Rahmen des sogenannten Generalplan Ost den Hungertod von dreißig Millionen Menschen in der Sowjetunion und Polen geplant. Dönitz selbst hatte sich bei unzähligen Gelegenheiten rassistisch geäußert. Sein U-Boot-Krieg hatte Tausende Menschenleben, auch deutsche, gefordert.

Und auch in Flensburg regierte der Mord. Noch am 11. Mai wurden im Hof der Marineschule junge Marineangehörige erschossen, die es nach der Kapitulation der Wehrmacht gewagt hatten, endlich nach Hause zu gehen. Ihrer habhaft geworden, verurteilte die noch immer in Freiheit befindliche faschistische Soldateska die jungen Männer zum Tode.

Die große Hoffnung der Regierung Dönitz lag in einem Übereinkommen mit den Westmächten zu Ungunsten der Sowjetunion und Vieles – nicht zuletzt die bloße Existenz des gruseligen Kabinetts – sprach dafür, dass ein solches Gentlemen-Agreement möglich sein könnte. Churchills antisowjetische Positionen waren weithin bekannt und machten Dönitz‘ Ministern Mut.

Sowjetunion macht Druck

Irgendwann riss Generalmajor Nikolai Trussow in Flensburg der Geduldsfaden. Während eines Gesprächs auf der Patria erklärte er den britischen und US-amerikanischen Militärs, es koste wenig Aufwand sowjetische Fallschirmjäger über Flensburg abzusetzen. Die würden das Problem mit Dönitz klären.

Was äußerlich als Hilfsangebot daherkam, war eine freundlich geschminkte Drohung. General Dwight D. Eisenhower reagierte sofort. Der Ansehensverlust des britischen Bündnispartners und der der US-Armee ängstigten den späteren Präsidenten. Es galt zu reagieren, bevor die UdSSR ihren angedeuteten Plan Wirklichkeit werden ließen.

Am 22. Mai baten die Briten Dönitz und einige Minister zu Gesprächen. Der zeigte sich von der dort verkündeten Verhaftung derart verdutzt, dass er sofort begann zu verhandeln. Für alle Fälle hatte Dönitz längst sein nicht gerade geringes Vermögen in zwölf Koffer gepfercht, man wollte ihm aber nur einen auf dem Weg in die Gefangenschaft zugestehen. Noch immer verhandelten die Briten mit einem der Hauptkriegsverbrecher und die Diskussionen um Dönitz‘ Gepäck sollten sich hinziehen. Zuletzt drehte es sich um seine Bitte, ihm die Mitnahme wenigstens eines weiteren Gepäckstücks voll gefüllt mit Unterhosen zu gestatten. Ein Kriegsverbrecher, dem seine braune Weste egal war, der sich aber um saubere Schlüpfer sorgte! Und die britische Besatzungsmacht diskutierte all das durch, statt ihn sofort in Gewahrsam zu nehmen.

Tags darauf wurden weitere Minister und 420 Spitzenbeamte festgesetzt. Auch zahlreiche Mitarbeiter des SD, des Geheimdienstes der SS, die noch bis zum Tag vor ihrer Verhaftung unter britisch-US-amerikanischer Protektion am Aufbau eines neuen Geheimdienstes werkelten.

Bürgerliche sind keine Hilfe

Im Kampf gegen Rechts, so ein altes sozialistisches Mantra, sind Bürgerliche keine Hilfe. Wie wenig sie im Kampf gegen Rechts helfen, zeigt vielleicht auch der blutige Treppenwitz der Dönitz-Regierung. Nach deren erzwungener Verhaftung soll Churchill angeblich geäußert haben, man habe „das falsche Schwein geschlachtet“. Nicht das faschistische Deutschland hätte man bezwingen sollen, sondern die stalinistische UdSSR. Deren Planwirtschaft und staatliches Eigentum an Produktionsmittel wurden seit Stalins politischer Konterrevolution längst nicht mehr demokratisch durch die Arbeiter*innen und Bäuerinnen und Bauern verwaltet. Insofern stieß Stalins tyrannische Herrschaft die revolutionäre Bewegung vielerorts ab. Die Existenz einer nicht-kapitalistischen Wirtschaft jedoch ängstigte bürgerliche Politiker und Unternehmer weltweit.

Ob Churchills Ausspruch real war oder nicht, ist bis heute umstritten. Churchills Innenleben gibt dieser Satz dennoch deutlich wieder. Insofern war sein Anknüpfen an die britische Vorkriegspolitik – die einst von ihm selbst kritisiert worden war – kaum überraschend.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es nicht selten deutsche Behörden, die die Schuldigen entkommen ließen. Albert Speer konnte in Zeitungsberichten und Interviews fleißig an dem Märchen stricken, er sei wenigstens ein halber Widerstandskämpfer gewesen und habe Hitler 1945 ermorden wollen. Dönitz wird nach zehn Jahren Haft entlassen und darf Vorträge über den angeblich heldenhaften Kampf der deutschen Wehrmacht und Marine an Schulen halten. Zumindest dies hatte allerdings ein Nachspiel. Das Kultusministerium von Schleswig Holstein überprüfte den Fall und sprach seine Missbilligung aus. Der verantwortliche Schulleiter nahm sich schließlich das Leben.

Anders als die Schuld, die so mancher Industrieller im „Dritten Reich“ auf sich geladen hatte. BMW; AEG, Krupp – sie alle produzierten nach 1945 munter weiter und verschleppten die erschütternd geringen Zahlungen an Zwangsarbeiter*innen bis die meisten von ihnen bereits tot waren.

Man kann nichts für seinen Urgroßvater, aber…

Inwiefern Beatrix von Storch in den Zeiten des Fraktionskampfes in der AfD Zeit findet, an ihren Urgroßvater Graf Schwerin von Krosigk zu denken, ist Spekulation. Und ohne Frage kann sie nichts für ihren NS-belasteten Urgroßvater. Für ihre eigenen Taten kann sie hingegen sehr wohl zur politischen Verantwortung gezogen werden. Eine der ersten gemeinsamen politischen Kampagnen mit ihrem Ehemann war die Forderung an die Regierung Kohl, auf Rückgabe der in der Sowjetischen Besatzungszone nach 1945 enteigneten Ländereien. Adlige und Großgrundbesitzer sollten nach ihrem Willen ihren Besitz zurückerhalten. Diesen Schritt wagte nicht einmal die Kohl-Regierung zu gehen. Beatrix von Storch outete sich mit diesem Verlangen nicht als Faschistin, wohl aber als Nationalkonservative. Ihre Verbindungen in genau diese Kreise halfen beim Aufbau der AfD. Dass sie nun – im Streit mit dem noch weiter rechts stehenden Flügel – unterliegen könnte, ist vielleicht auch ein Treppenwitz. Aber, und das hat sie mit ihrem Urgoßvater gemein, einer von der Sorte, bei dem einem das Lachen vergeht.

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