Die Corona-Pandemie zeigt die Mängel des deutschen Bildungswesens
Es ist soweit: Nach einer Zwangspause, die länger dauerte als die Sommerferien, sind spätestens seit Mitte Mai die meisten Klassenstufen wieder in der Schule.
von Steve Hollasky
Und etwa ebenso lang wie die unterrichtsfreie Zeit währte auch die Debatte um die Rückkehr und die Frage wie diese gestaltet werden könnte. Fakt ist: von einem business as usual, einem „Normalbetrieb“, was immer man darunter auch verstehen mag, ist man in den Schulen weit entfernt.
Warum jetzt?
Seit dem 20. April laufen bei VW die Bänder wieder, mehr und mehr Firmen fordern die Rückkehr aus dem (teilweisen) Lockdown der deutschen Wirtschaft. So stellt sich die Frage ganz konkret: Wohin mit den Kindern? Da passte es, dass der sächsische Kultusminister Christian Piwarz (CDU) Mitte April vor die Presse trat und erklärte, dass längeres Lernen zu Hause nicht funktioniere. Die pressewirksame Erklärung des Ministers war wohl weniger pädagogisch als weit mehr ökonomisch begründet.
Dass Schulöffnungen die komplette Rückkehr der Unternehmen ans Netz ermöglichen und Ausfallzeiten verringern sollen, hilft nicht gerade Vertrauen in diesen Schritt zu bilden. Kommt doch die schrittweise Öffnung der Bildungsanstalten wie ein Ukas in alten Zeiten daher. Tragen und umsetzen müssen diesen Entschluss, wie auch das „Homeschooling“, wieder jene, die nicht gefragt werden: Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen. Dass diese, nachdem sie wochenlang digital miteinander zu kommunizieren hatten, nun nicht auf demselben Weg gemeinsam darüber entscheiden wann und wie Schulen geöffnet werden sollen, verstört so Manch*e.
Und dass soziale Differenzen, die im Homeschooling zutage treten, als Begründung für den schrittweisen Wiederbeginn des Schulbetriebs herhalten müssen, wirkt in einem System, dass Kinder wenigstens in drei Kategorien einteilt (Haupt- und Realschule und Gymnasien), vorgeschoben.
Die häufig kritisierte Schulöffnung in Nordrhein-Westfalen erfolgte dort derart überhastet, dass es an einigen Schulen sogar an Desinfektionsmittelspendern mangelt. Ausgerechnet in einem der am schlimmsten von der Coronavirus-Pandemie betroffenen Bundesländer müssen sich in einigen Schulen mehrere Klassen gleichzeitig an einem Spender die Hände säubern.
Gute Gründe Schulen zu öffnen
Jenseits dieser gesellschaftlichen Realitäten gibt es jedoch sehr wohl gewichtige Gründe Schulen zu öffnen. Die eigene Familie ist leider nicht automatisch gleichbedeutend mit Schutz und Geborgenheit. Wie der „Tagesspiegel“ vom 8. April festhält, konnte schon kurz nach Ausbruch der Epidemie in China und dem Beginn des dortigen Lockdowns eine deutliche Zunahme von Übergriffen von Männern gegen Frauen und von Erwachsenen gegen Kinder beobachtet werden. Der gleiche Beitrag stellte eine Verdoppelung der Notrufe wegen häuslicher Gewalt fest. Selbst UN-Generalsekretär Antonio Guterrez sah sich im April gemüßigt die Zunahme häuslicher Gewalt gegen Frauen zu verurteilen.
Ekin Deligoz, Vizepräsidentin des Kinderschutzbundes, hielt Anfang Mai gegenüber der „Augsburger Zeitung“ fest, die Meldungen von Kindeswohlgefährdung seien um sechzig Prozent zurückgegangen. Was sich liest wie eine Erfolgsmeldung ist eher Ausdruck des Wegfallens sozialer Kontrolle. Nicht zuletzt Lehrer*innen würden Gewalttätigkeiten gegen und die Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen melden, so Deligoz. Nun bekommen sie diese schon seit Wochen nicht mehr zu Gesicht. Die Folge ist eine Zunahme verdeckt ablaufender Übergriffe aller Art.
Zudem sind gerade beengt lebende Familien einem hohen Stresslevel ausgesetzt. Auch das wird innerfamiliäre Eskalationen bis hin zu Gewalttaten eher befördern.
Für viele Kinder und Jugendliche – nicht nur aus verarmten Familien – sind Schulen die entscheidende strukturgebende Komponente im Tagesablauf. Diese Struktur fällt nun schon seit Wochen weg. Folglich kann die Antwort auf die Frage, ob Schulen geöffnet werden sollten nicht allein vom Infektionsschutz abhängig gemacht werden. Oder anders gesagt: Solange der Virus Sars CoV-2 im Umlauf ist, wird es in Schulen Fälle von Ansteckungen geben. Ein Verschieben der Schulöffnung, bis das Ansteckungsrisiko bei Null liegt, wäre daher nicht nur widersinnig, sondern in Anbetracht obenstehender Überlegungen auch sozial kaum zu verantworten.
Auswirkungen der Zwangspause
In der Tat offenbaren sich enorme Unterschiede im sogenannten „Homeschooling“. Familien, die über mehr Endgeräte verfügen, fällt es leichter das heimische Lernen zu organisieren. Wer nicht im Schichtdienst arbeiten muss, dem gelingt es weitaus besser darauf zu achten, dass der Nachwuchs Mathematikaufgaben löst und adverbiale Bestimmungen übt. Kinder, die sich in die eigenen vier Wände zurückziehen können, haben mehr Ruhe zum Lernen als die, deren Geschwister in genau dem Zimmer toben, in dem sie versuchen Lernstoff zu verstehen.
Kurz gesagt: Kinder aus Familien mit einem höheren sozialen Status werden aus der erzwungenen Heimphase mit weniger Rückständen zurückkehren als Kinder, deren Eltern lange arbeiten, wenig verdienen, sich nur kleine Wohnungen leisten können oder von Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Die staatlich organisierte und finanzierte Ausgabe von Endgeräten an Schüler*innen, die diese benötigen, wäre eine entscheidende Maßnahme, um die Differenzen bei Lernerfolgen möglichst gering zu halten.
Nach einer US-Studie fanden Forscher bei etwa dreißig Prozent der Kinder aus Familien, die im Zuge anderer Viren wie zum Beispiel der Schweinegrippe in Quarantäne gehen mussten, Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die psychosozialen Folgen der letzten Monate werden auch in der Schule „behandelt“ werden müssen. Nicht nur deswegen ist eine ausreichende Ausstattung der Schulen mit Sozialarbeiter*innen dringend nötig.
„Wenn der Schnee schmilzt…“,
sagte der deutsche Fußballtrainer Rudi Assauer 2005 im Interview mit dem „Focus“, sehe man, „wo die Kacke“ liege. Die Coronakrise wirft lediglich ein helleres Licht auf die Missstände des deutschen Bildungssystems.
Digitales Lernen war bislang vielfach eine Seltenheit. Schaut man in die Klassenräume, dann weiß man wieso: Will man als Lehrer*in einfach einen kurzen Clip im Internet zeigen, heißt es darauf zu hoffen, dass man in einen der begehrten Informatikräume kommt. Oder man schleppt in kurzen Pausen Beamer und Laptop in der einen und die Stundenvorbereitungen in der anderen Hand durch die Gänge.
Vom vielbeschworenen „Digitalpakt“ zur verbesserten Ausstattung der Schulen mit Rechnern, Laptops und I-Phones, merkt man in Schulen häufig so gut wie gar nichts. Da sitzen nach wie vor zwei oder gar drei Schüler*innen vor demselben Bildschirm und hoffen, dass sie mit dem Aufrufen einer einfachen Website nicht das Netzwerk überlasten.
Unlängst zitierte der „Spiegel“ den Bildungswissenschaftler Andreas Schleicher von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Ihm zufolge hätten Auswertungen von Pisa-Studien ergeben, dass lediglich jeder dritte deutsche Schulleiter bzw. Schulleiterin mit der Ausstattung ihrer Schule mit digitaler Technik zufrieden sei. Europaweit sind es immerhin sechzig Prozent und das obwohl Deutschland in Europa das ökonomische Schwergewicht bildet.
Wer für seine Schule moderne Technik bestellen oder auch nur die wenig einladenden Schulklos instandsetzen lassen will, muss sich, wenn die Geldmittel zur Verfügung stehen sollten, häufig durch Berge von Bürokratie quälen.
Zudem sind Lehrer*innen so gut wie gar nicht auf den Einsatz sogenannter „neuer Medien“ im Unterricht vorbereitet. Die Ausbildung ist vielfach eine einseitig akademisch-wissenschaftliche und viel zu wenig pädagogisch ausgerichtet. Wie und wann ist es sinnvoll Laptops und I-Pads im Unterricht zu verwenden? Welche Lehr- und Lerninhalte sollte man damit vermitteln? Wo sind dem Einsatz moderner Medien Grenzen gesetzt? Wie vermittelt man Stoff digital, wenn Schüler*innen beispielsweise krankheitsbedingt länger abwesend sind? Fragen, die man sich vor dem März 2020 in Deutschland allgemein und der Ausbildung von Lehrer*innen im Speziellen kaum gestellt hat.
So wurde das digitale Lernen zu Hause zum Sprung ins kalte Wasser. Doch entgegen gern erzählter Geschichten lernt man dabei eben nicht immer Schwimmen.
Starres System
Das deutsche Bildungssystem entstammt in seinen Grundzügen noch immer der feudalen Gesellschaft. Es ist im Grunde gute 500 Jahre alt. Die Dreigliedrigkeit ist ein Abbild der Ständeaufstellung im mittelalterlichen Kirchenschiff. Wirkliche Durchdringung von „oben“ nach „unten“ oder andersherum gibt es so gut wie gar nicht. Wer in Haupt- oder Realschule gesteckt wird, der bleibt dort und wird – auch trotz großer Anstrengungen – nur sehr schwer einen höheren formalen Bildungsabschluss erhalten. Das deutsche Bildungswesen ist in seiner Anlage nicht nur hochkompliziert, es steckt auch voller Sackgassen.
Und auch das ist eines seiner erschütterndes Charakteristika: Das sozialwissenschaftlich etwas trocken „formaler Bildungsabschluss“ betitelte Zeugnis, auf dem Haupt- oder Realschule oder aber Gymnasium steht, gibt das wirkliche Potential der Schüler*innen nicht wieder. Aber es legt die weitere Biografie fest. Denn in der gesellschaftlichen Wahrnehmung steht Gymnasium für klug, Realschule für weniger klug und Hauptschule steht sogar noch unterhalb dessen. Doch die Intelligenz, die Stärken und Fähigkeiten von Menschen kann man eben nicht in solche Abschlusszeugnisse drucken. Sie sind letzter Ausdruck von Fremdzuschreibungen, die sich durch die gesamte Bildungskarriere von Kindern und Jugendlichen ziehen.
Bestenfalls sagen die Zeugnisse, wie man mit vorgegebenen Lehrinhalten umgegangen ist. Diese werden wiederum von Lehrplänen festgeschrieben, die kaum durch Schüler*innen und Lehrer*innen beeinflusst werden können. Wie soll man aber als Lehrerin eine Hauptschulklasse für den Geschichtsunterricht begeistern, die zu großen Teilen migrantisch geprägt ist und sich herzlich wenig für den Reichsdeputationshauptschluss interessiert? Macht es wirklich Sinn mit einer Gymnasialklasse über die Unterschiede zwischen „politics“, „policy“ und „polity“ zu reden, wenn der Hauptstreitpunkt in der Klasse die Beteiligung an den Aktionen von „Fridays for Future“ mitunter verbissen ausgetragen wird?
Diesen offenkundigen Widerspruch kann man nur überwinden, wenn man die Auswahl von Unterrichtsinhalten verstärkt den Lehr- und Lerngruppen überlässt. Das mag in Grundschulen schwierig erscheinen, geht es doch dort um die Vermittlung von Grundkenntnissen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Doch auch Grundschüler*innen haben eigene Ideen, eigene Vorstellungen, Stärken und Schwächen und eigene Persönlichkeiten. Und daher müssten auch sie gefragt werden wie sie sich Unterricht vorstellen, mit welchen Themen sie sich befassen wollen und in welcher Unterrichtsform dies am besten umsetzbar wäre. Je älter Schüler*innen werden, desto mehr müssten sie demokratisch beteiligt werden. Es muss in letzter Konsequenz darum gehen, Inhalte gemeinsam auszuhandeln und zu bestimmen. Das wäre selbstbestimmtes Lernen und würde intrinsisch, aus sich selbst heraus, motivieren.
Doch selbst in den höheren Klassenstufen werden derartige Freiheiten kaum gewährt. Das Zentralabitur, welches am Abschluss der gymnasialen Ausbildung steht, lässt keine großen Spielräume.
Was im „Normalbetrieb“ bereits das Lehren nicht leichter macht, erweist sich in der Corona-Krise als hochproblematisch. Lehrplaninhalte nach Wochen des Ausfalls noch ausreichend zu vermitteln, ist ein Ziel, welches man mit großer Wahrscheinlichkeit kaum erreichen wird. Auf den vielfach durch Notendurchschnitte entschiedenen Übergang von Grund- zu weiterführenden Schulen wird sich diese Tatsache dramatisch auswirken. Schon jetzt wird in mehreren Bundesländern darüber nachgedacht das zwangsweise Wiederholen einer Klassenstufe für dieses Jahr auszusetzen. Die Einstufung von Menschen nach Zahlen, die von eins bis sechs reichen, gerät in der Corona-Krise an seine engen Grenzen.
Eine Eingliederung, die vorrangig vorgenommen wird, um Unternehmen Informationen zu geben. Das bereits Mitte April die Schulen für Abschlussjahrgänge geöffnet wurden, lag ursächlich daran, dass auch sie nach Protokoll fertig werden sollten. Nur so konnten Unternehmen die Bewerbungen aus verschiedenen Jahrgängen miteinander vergleichen. Ohne Prüfungen wäre das kaum möglich. Zudem waren bereits im März die Abiturprüfungen in Hessen abgenommen worden. Und wieder gehen die Wünsche von Unternehmen vor anderen Erwägungen.
Was ist mit den Vorabschlussklassen?
Noch immer nicht klar ist, wie es mit den Vorabschlussklassen weitergehen soll. Haben die Abschlussklassen je nach Prüfungstermin der Bundesländer drei bis vier Wochen Präsenzunterricht verpasst, so ist die Zahl in den achten, neunten und elften Klassen noch einmal deutlich höher und die Menge des verpassten Lernstoffs entsprechend mehr. Das wird in einem starren System, in dem am Ende einer Schulkarriere unweigerlich Prüfungen zu stehen haben, schwer ausgleichbare Folgen zeitigen.
Schon im Schuljahr 2019/20 waren die Abiturprüfungen im Grunde nicht zumutbar. Die letzten Wochen zur Vorbereitung liefen zu Hause mit allen damit verbundenen Nachteilen. Die psychische Belastung aufgrund der Angst vor Ansteckungen war gewaltig. Im Schuljahr 2020/21 muss daher vom Zentralabitur abgewichen werden, außerdem sollten für die Abschlussjahrgänge 2020 und 2021 aufgrund der außergewöhnlichen Belastungen der Numerus Clausus aufgehoben werden. Statt Prüfungsaufgaben zentral für alle in einem oder mitunter auch in mehreren Bundesländern festzulegen, muss im nächsten Jahr auf alle Prüfungen verzichtet werden. Die Festlegung der Abschlussnote kann auch durch Feststellung des Durchschnitts der Vornoten und einen Ersatz für die Prüfungen erfolgen: Denkbar wäre ein Durchschnittswert, der sich aus den Prüfungsergebnissen der Schüler*innen aus den Vorjahren ergeben könnte. Grundlage müsste auch hier ein demokratischer Prozess sein. Wie genau die Ergebnisse festzulegen wären, müssten gewählte Vertreter*innen von Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern gemeinsam vereinbaren.
Wann können Schulen geöffnet werden?
Auch die Entscheidung über die Öffnung von Bildungseinrichtungen muss in der Hand gewählter Vertrter*innen von Schüler*innen. Lehrer*innen und Eltern liegen. Sie haben das Risiko im Zweifelsfall zu tragen, daher müssen sie auch entscheiden dürfen.
Zentrale Stellen können hierbei allenfalls Empfehlungen abgeben, die sich nach der generellen Entwicklung der Infektionszahlen richten sollten. Nur wenn die Neuinfektionen unter ein bestimmtes Maß gefallen sind, sollte überhaupt die Frage nach Schulöffnungen gestellt werden. Diese müssten dann vor Ort entscheiden, ob beispielsweise das Einhalten von Abstandsgeboten und der Standardhygiene in den Klassen- und Sanitärräumen, beim Essen und in der Pause organisierbar sind und davon letzten Endes die Schulöffnungen abhängig machen.
Ebenso müssen Lehrer*innen und Schüler*innen, die zu Risikogruppen gehören oder solche Angehörige haben, von der Arbeit befreit bzw. Schulpflicht ausgenommen werden.
Somit würde das digitale Lernen jedoch auch weiterhin Teil des Lernens bleiben. Zudem würden Schulen zu unterschiedlichen Zeiten geöffnet werden. Die weitere Vergabe von Noten, insbesondere von Kopfnoten, sollte für das Schuljahr 2019/2020 ausgesetzt werden.
Auch in der Frage der Schulöffnung macht sich wiederum ein Mangel des deutschen Bildungssystems bemerkbar: Wieso gibt es zwar Bildungseinrichtungen, in denen hunderte Schüler*innen jeden Tag dicht an dicht lernen, aber ärztliche Versorgung gibt es vor Ort nicht? Gerade jetzt wäre das hilfreich. Eine Schulärztin bzw. ein Schularzt oder Pflegekraft könnte über Vorsichtsmaßregeln belehren und wäre in der Lage bei der Schulöffnung direkt vor Ort zu beraten. Und auch im täglichen Schulbetrieb wäre die medizinische Versorgung alles andere als fehl am Platze. Unfälle gibt es an Orten, wo Kinder und Jugendliche in großen Zahlen zusammenkommen immer wieder. Und auch ohne Pandemie gibt es mehr als genug Gründe für medizinische Informationsvermittlung in Klassen und Kursen.
In der aktuellen Pandemielage wäre eine medizinische Versorgung auch deshalb sinnvoll, weil sich Schüler*innen und Lehrer*innen im Zweifelsfall auch direkt vor Ort testen lassen könnten. Die Versorgung mit Testmöglichkeiten sollte gerade in der aktuellen Situation gewährleistet werden.
Was für ein Bildungssystem wollen wir?
Wer in Deutschland aufwächst, besucht dort auch die Schule. Die Pflicht zum Besuch ist allumfassend, sobald der Wohnsitz in Deutschland liegt. Die Erlebnisse in der Schule prägen Menschen: Problemlösungsstrategien, unfair ausgetragene Streitereien, Freundschaft, Liebe, das Erfassen eigener Fähigkeiten – all das spielt sich in Schulen ab. Doch es ist nicht selten das Erleben von Fremdzuschreibung.
So verengen schlechte Noten nachweislich den Blick von Schüler*innen und Lehrer*innen. „Ich habe in dem Fach nur schlechte Zensuren, ich kann es also nicht.“ Der Prozess, sich mit anderen gemeinsam auf anzustrebende Lernziele zu einigen, wird vielfach durch Lehrplanvorgaben ersetzt. Wirkliche Selbstbestimmung wird so, trotz ernsthafter Versuche vieler Kolleg*innen, deutlich zu wenig vermittelt. Selbstgesteuertes Lehren und Lernen liest sich als Kapitelüberschrift in fachdidaktischen Lehrbüchern sehr gut, nur ist es sehr selten Teil der schulischen Realitäten.
Genau das macht es aber in der Corona-Krise noch schwerer: Starre Lehrplanziele einzuhalten und Schüler*innen zum Zentralabitur zu führen, ist unter diesen Umständen weitaus schwerer, als sich per Konferenzschaltungen auf gemeinsam zu bearbeitende Themen festzulegen oder sich aus einem Strauß von möglichen Inhalten passende auszusuchen oder aber, wie in Finnland, am Projekt zu lernen.
Und hierin liegt die eigentliche Kernaussage: Selbstorganisation von Schüler*innen und Lehrer*innen würde die Situation nicht verkomplizieren, sondern sie wahrscheinlich eher übersichtlich machen: Wie und wann öffnen wir die Schulen? Um welche Themen wollen wir uns während der Phase zu Hause kümmern? Welche Schwerpunkte setzen wir in der gemeinsamen Arbeit? Genau die Bearbeitung dieser Fragen würde Selbstorganisation stärken und die Entwicklung zu eigenständigen Persönlichkeiten befördern.
Aber was für die Phase der Corona-Krise gilt, das gilt auch für den „Normalbetrieb“. Schule darf nicht die Abarbeitung starrer Vorgaben sein, sondern muss in einem demokratischen Aushandlungsprozess Bildungsinhalte vereinbaren. Genau deshalb passen die Interessen von Unternehmen nicht in Bildungsprozesse hinein, weder in die Entscheidung über die Öffnung der Schulen noch in die Debatte über Bildungsinhalte.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und DIE LINKE sollten sich nicht nur für die unmittelbaren Forderungen zum Gesundheitsschutz von Lehrer*innen und Schüler*innen einsetzen, sondern diese Krise auch als Anlass nehmen, ein grundsätzlich anderes Bildungssystem verstärkt einzufordern.
Steve Hollasky ist Lehrer und GEW-Vertrauensmann in Dresden und Mitglied des Sol-Bundesvorstands.