Großbaustellen sind ebenso wie Schlachthöfe oder Erntehelfer*innen besonders gefährdet
Am 13. April wurde dem Stuttgarter Gesundheitsamt die erste Covid-19-Infektion eines Bauarbeiters von ERFA, einem türkischen Subunternehmer des großen Baukonzerns Hochtief, gemeldet. Bis zum 22. April stieg die Zahl der Infizierten auf 19 an, 43 kamen in „Schutzunterkünfte“, neunzig in „Quarantäne“.
Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart
Die Stadt Stuttgart leugnete zunächst das Problem. Bekannt wurde es erst, als sich betroffene Beschäftigte an Migrant*innenorganisationen wandten und Aynur Karlikli von der LINKEN Stuttgart und andere den Skandal öffentlich machten.
Dabei wurde deutlich, dass bei ERFA schon vorher haarsträubende Arbeitsbedingungen geherrscht hatten. Beschäftigte mussten elf Stunden am Tag arbeiten (plus eine knappe Stunde Weg auf der Baustelle zur Arbeit und zurück), sieben Tage in der Woche. Dafür bekamen sie sieben Euro pro Stunde in die Türkei überwiesen plus ein kleines Taschengeld. Bei Razzien sollten sie behaupten, es seien acht Stunden und 15,20 Euro pro Stunde. Aufzeichnungen über die tatsächliche Arbeitszeit zu machen, wurde ihnen ausdrücklich untersagt.
Als die Quarantäne verhängt wurde, bekamen Betroffene weder schriftliche Verhaltensmaßregeln noch wurden sie auf Türkisch informiert, so dass sie nicht wussten, wie sie sich jetzt verhalten mussten. Ein Regionalleiter der IG BAU wurde wegen Hausfriedensbruch angezeigt, weil er das Gespräch mit den Betroffenen suchte. Arbeiter*innen, die die Zustände öffentlich machten, wurden entlassen.
Kein Einzelfall
In einem Interview erklärte der Arbeitsrechtler Professor Wolfgang Däubler, dass solche Zustände kein Ausrutscher sind: Bekannte Baufirmen vergeben Aufträge an halbwegs seriöse Subunternehmer, die dann an immer dubiosere Sub-Sub- und Sub-Sub-Subunternehmer weitervergeben. Die Gewerbeaufsicht sei personell überhaupt nicht in der Lage, wirksam zu kontrollieren. Es fehle der politische Wille, die bestehenden Schutzgesetze durchzusetzen.
Die letzten Wochen haben gezeigt, dass ähnliche Verhältnisse z.B auch auf Schlachthöfen und bei Erntehelfer*innen herrschen (s. S. 10). Betroffen sind häufig Arbeiter*innen, die für wenige Monate aus Osteuropa (oder im Falle Stuttgarts aus der Türkei) angekarrt werden und dann in Containern mit Mehrbettzimmern, gemeinsamen Kochgelegenheiten, gemeinsamen sanitären Einrichtungen untergebracht werden.
Stuttgart 21 wurde uns unter anderem mit den beim Bau und nach Fertigstellung entstehenden Arbeitsplätzen angepriesen. Die Gegner*innen des Projekts haben diese Behauptung von Anfang an zerpflückt. Angesichts der Skandale, die es vorher z.B. beim Bau der Messe Stuttgart gegeben hatte, waren dazu auch keine großen prophetischen Gaben erforderlich.
Am 1. Mai fand eine kurzfristig organisierte Solidaritätskundgebung mit etwa hundert Teilnehmer*innen für die betroffenen Kolleg*innen statt, die vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, kämpferischen Gewerkschafter*innen, der Migrant*innenorganisation DIDF und der LINKEN organisiert wurde, auf der u.a. ein sofortiger Baustopp gefordert wurde. Ein Video von der Protestkundgebung gibt es hier: https://tinyurl.com/yagfodtl