USA: Revolte gegen Rassismus …

… und das System – Interview mit Emery Addams von der Independent Socialist Group

Nach dem Polizeimord an George Floyd sahen wir die größten antirassistischen Mobilisierungen seit der Bürger*innenrechtsbewegung in den 1960er Jahren. Die kapitalistischen Medien haben sich auf Unruhen und Gewalt konzentriert, obwohl der Großteil der Aktion friedliche Proteste waren. Wie hat sich diese Revolte entwickelt?

Die Gewalt geht fast ausschließlich von der Polizei aus. Trotz dieser Angriffe hat die Bewegung in wenigen Wochen der Kapitalistenklasse unglaubliche Siege abgerungen, die noch vor einem Monat fast unvorstellbar waren. Es wurden nicht nur alle für den Mord an George Floyd verantwortlichen Polizisten angeklagt und entlassen, sondern der Fokus wird nun auch auf die Polizei als Institution gelegt.

Dies zeigt sich in dem Drängen, die Schulen dazu zu bewegen, die Verbindungen zur Polizei zu kappen, in den 100 bis150 Millionen Dollar, die aus dem Budget des Los Angeles Police Departments gestrichen wurden, und in den Aufrufen der Mehrheit der Stadtverwaltung von Minneapolis, ihre gesamte Polizei “abzubauen”.

Es entsteht eine multiethnische Bewegung, die Rassismus und Polizeibrutalität als Themen behandelt, gegen die alle Menschen kämpfen müssen. US-Arbeiter*innen und Jugendliche sehen endlich, was sie gewinnen können, wenn sie handeln. Die Aufgabe der Bewegung besteht nun darin, sich für noch größere Erfolge zu organisieren.

Sind die Demonstrant*innen nur über Rassismus verärgert?

Auf keinen Fall! Diese Bewegung wurde aus den materiellen Bedingungen der Arbeiter*innenklasse geboren – der Pandemie-Reaktion, die den kapitalistischen Profit über das Leben der Arbeiter*innen stellt, der Rezession und den allgegenwärtigen Realitäten der Polizeibrutalität.

Die Demonstrant*innen sind wütend darüber, wie der Kapitalismus ihr Leben kontrolliert und zerstört, als wäre es nichts. Sie protestieren für mehr als die Beseitigung einzelner rassistischer und mörderischer Polizisten. Die Demonstrant*innen kämpfen für eine Veränderung des Systems, wie wir es kennen.

Als Sozialist*innen wissen wir, dass dieser Wandel nur erreicht werden kann, wenn das brutale kapitalistische System durch ein demokratisches und gerechtes sozialistisches System ersetzt wird.

Seit der Ermordung von George Floyd hat es weitere Polizeiangriffe gegeben. Ein unbewaffneter Latino wurde in Kalifornien getötet, und viele Demonstrant*innen wurden geschlagen, mit Tränengas betäubt, beschossen und mit Fahrzeugen gerammt. Wie hat sich dies auf die Stimmung ausgewirkt?

Bis zum 7. Juni wurden bei den Protesten mindestens 12 Menschen aufgrund von Polizeigewalt getötet, unzählige weitere wurden leicht bis schwer verletzt und festgenommen. Dies hat die Bewegung nicht gebremst. Wenn überhaupt, dann hat es den Demonstrant*innen den genauen Grund ihres Kampfes verdeutlicht.

Dies hat auch das Krankenhauspersonal weiter mobilisiert, das durch die Pandemie bereits radikalisiert wurde. Da die Polizeigewalt zunimmt, verlassen die Krankenschwestern ihre langen Schichten im Kampf gegen Covid-19, um den verletzten Demonstrant*innen sofort medizinische Hilfe zu leisten.

Die Realitäten der dreifachen Krise von Covid-19, der anhaltenden Rezession und der Brutalität der Polizei haben ein Umfeld der Solidarität in der Arbeiter*innenklasse geschaffen – und die Bewegung nur gestärkt.

In der Zwischenzeit hat die Polizei sich in einigen Städten mit Angriffen zurückgehalten oder sich sogar an Protesten beteiligt. Was bedeutet das?

Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Public-Relations-Stunts, die von einigen der schlaueren Polizeidienststellen durchgeführt werden. Dadurch können sie sowohl versuchen, die Proteste zu beruhigen, als auch die Erzählung von “guten Polizisten” gegenüber “gewalttätigen Demonstrant*innen” vorantreiben. In zahlreichen Fällen griffen dieselben Polizisten, die mit den Demonstrant*innen auf die Knie gingen oder mit ihnen marschierten, sie nur Stunden später an. In den meisten Fällen sind die Protestierenden jedoch nicht bereit, dies einfach hinzunehmen. Unabhängig von den Werbeaktionen der Polizei haben die Demonstrant*innen weiterhin auf echte, systemische Veränderungen gedrängt.

Ein weißer Barbesitzer hat einen schwarzen Demonstranten in Nebraska erschossen. Manche könnten diese Bewegung als einen Konflikt zwischen Weißen und Schwarzen ansehen.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Proteste weit verbreitet und sehr multiethnisch sind. Wir sollten auch die wahre Quelle des Rassismus, wie wir ihn kennen, benennen – den Kapitalismus. Rassismus, der absichtlich in den Medien, im Bildungswesen, in der Popkultur usw. verewigt wird, prägt die Einstellung der Menschen und verstärkt dann durch Gesetze Einstellungen und ungleiche Bedingungen. Dadurch wird Gewalt gegen andersfarbige Menschen leicht gemacht, um die Arbeiter*innenklasse als Ganzes auszubeuten und zu kontrollieren.

Dieselben Spaltungen werden zwischen verschiedenen Geschlechtern, sexuellen Orientierungen, Ethnien und Nationalitäten geschaffen und ermöglichen es den Kapitalisten, die Arbeiter*innen zum Nutzen der herrschenden Klasse gegeneinander auszuspielen. Wenn wir uns gegenseitig bekämpfen, können wir uns nicht vereinigen und gegen unsere gemeinsame Ausbeutung durch die Kapitalisten kämpfen. Der einzige Weg, wie wir den Rassismus für immer überwinden können, ist der Kampf für Sozialismus – mit einer organisierten Bewegung der gesamten Arbeiter*innenklasse.

Von einigen Seiten wird gefordert, bestimmte Polizeitaktiken zu verbieten und die Finanzierung der Polizei zu kürzen. Würde dies die Polizeigewalt stoppen?

Die Polizei daran zu hindern, unglaublich gefährliche Taktiken und Waffen einzusetzen, ist eine Reform, die wir unterstützen. Eine Kürzung der Mittel für die Polizei, die in den USA sehr teuer ist und außer Kontrolle gerät, würde auch vielen Gemeinden helfen, die benötigten Mittel in Schulen, Wohnungen, Gesundheitswesen usw. zu transferieren, was weit mehr zur Behebung von Kriminalität und Ungleichheit beitragen würde als die Polizeiarbeit.

Aber keine Reform wird im Kapitalismus dauerhaft garantiert sein. Sobald wir nachlassen, werden die Kapitalisten die Siege, die wir errungen haben, wieder rückgängig machen. Die Polizei als Institution hat die Aufgabe, die Kapitalisten zu schützen und die Arbeiter*innenklasse (oft gewaltsam) zu unterdrücken. Keine politische Reform innerhalb des kapitalistischen Systems wird daran etwas ändern. Um Polizeigewalt wirklich zu stoppen, brauchen wir eine demokratische gemeinschaftliche Kontrolle der öffentlichen Sicherheit durch die Arbeiter*innenklasse.

Einige Organisationen fordern auch einen Boykott von Unternehmen, die bekannten Rassisten gehören, und bevorzugen dabei Unternehmen mit schwarzen oder nicht rassistischen Eigentümern. Würde dies die Ungleichheit beseitigen?

In den 1960er Jahren sagte Fred Hampton, stellvertretender Vorsitzender der Black Panther Party, treffend: „Man bekämpft Rassismus nicht mit Rassismus. Wir bekämpfen Rassismus mit Solidarität …… man bekämpft Kapitalismus nicht mit einem schwarzen Kapitalismus; man bekämpft Kapitalismus mit Sozialismus.“

Zwar würden bestimmte Personen kurzfristig unterstützt, indem man nur noch von Unternehmen mit schwarzen Eigentümer*innen kauft, doch würde dies nichts zur Lösung der Probleme von abhängig Beschäftigten beitragen, die keine Unternehmen besitzen, was die Mehrheit der Gesellschaft ausmacht. Stellen wir uns stattdessen vor, was uns eine Woche des wirtschaftlichen Stillstands durch einen Generalstreik bringen könnte! Organisierte Aktionen von Arbeiter*innen, die sich auf die Profite der Kapitalisten auswirken, können systemische Veränderungen für Lohnabhängige aller Hautfarben gewinnen. Individuelle Kaufentscheidungen haben nicht die gleiche Macht.

Die Black-Lives-Matter-Bewegung ist nach ihrem Höhepunkt 2014 bis 2016 verpufft. Wie können sich junge Menschen und Arbeiter*nnen diesmal organisieren, um die antirassistische Bewegung aufzubauen?

Wir sehen gerade jetzt eine intensive Energie auf den Straßen, aber die kann schnell verpuffen, wenn die Bewegung nicht um konkrete Forderungen herum organisiert ist. Diese Forderungen müssen Arbeiter*innen aller Kulturen und Ethnien zusammenbringen.

Die Bewegung muss auch mit demokratischen Strukturen für Diskussionen, Debatten und Koordinationen organisiert werden. Wir können Nachbarschaftskomitees organisieren – gewählte Gruppen, die über Taktiken und zukünftige Aktionen entscheiden würden -, ein Programm zur Leitung der Bewegung erstellen und Delegierte in stadtweite, staatenweite und landesweite Komitees zur Diskussion und Koordination im größeren Rahmen wählen. In ähnlicher Weise ist es für die Eskalation dieses Kampfes und die Aufrechterhaltung der Dynamik entscheidend, dass sich die Arbeiter*innenklasse als Ganzes, einschließlich der Gewerkschaften, beteiligt. Wir müssen unsere Arbeitsplätze durch neue Gewerkschaftsaktionen organisieren und unsere Gewerkschaften nutzen, um Mitglieder gegen rassistische Vorfälle zu verteidigen und bessere Bedingungen für alle Arbeiter auszuhandeln.

Wir brauchen auch Aktionen am Arbeitsplatz, einschließlich Bummelstreiks, Massenkrankschreibungen, Arbeitsniederlegungen und Streiks in Solidarität mit der antirassistischen Bewegung, wobei spezifische Forderungen erfüllt werden müssen, bevor wir wieder an die Arbeit gehen. Dieser wirtschaftliche Druck würde die Kapitalisten und ihre Politiker*innen dazu zwingen, Forderungen wie der Verurteilung von Polizisten, der Mittelbeschränkung und Entmilitarisierung der Polizei und anderem nachzugeben.

Sozialist*innen kämpfen gegen Rassismus in jeder Form, wo immer er auftaucht. Aber Jahrzehnte des Kampfes haben ihn nicht beendet. Was ist nötig, um das zu erreichen?

Viele Bewegungen sind kooptiert und demobilisiert worden. Kapitalistische Politiker*innen, insbesondere Demokrat*innen, werden Reformen versprechen, den Schwung der Bewegung in den nächsten Wahlzyklus umleiten und dann diese Forderungen in der Sekunde, in der sie im Amt sind, fallen lassen.

Wir müssen uns weigern, oberflächliche Zugeständnisse zu akzeptieren, und eine multiethnische Bewegung der Arbeiter*innenklasse außerhalb der kapitalistischen politischen Parteien organisieren, um Rassismus und alle anderen Formen der Unterdrückung zu bekämpfen.

Diese Bewegung sollte daran arbeiten, eine neue Arbeiter*innenpartei aufzubauen, die demokratische Strukturen und ein sozialistisches Programm hat. Die Kapitalisten beginnen, die Macht der Arbeiter*innenklasse zu erkennen. Dies ist nicht die Zeit, nachzulassen – schließt Euch uns an und setzt den Kampf gegen Rassismus und Kapitalismus fort. 

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