Eine Gesellschaft in Gärung

Turbulenter Jahresanfang in der Bundesrepublik – Analyse und Aussichten aus marxistischer Sicht

Einen so stürmischen Jahresanfang hat es in der Bundesrepublik sehr lange nicht gegeben. Und doch sind die Ereignisse der letzten Wochen nur ein Wetterleuchten von dem, was in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird: gesellschaftliche Verwerfungen völlig neuer Qualität, unversöhnliche Polarisierungen, Massenmobilisierungen, Neuordnung der politischen Landschaft und Kräfteverhältnisse, tiefe Krisen. All das wird immer mehr Arbeiter*innen und Jugendliche zu dem Schluss kommen lassen, dass dieses System ihnen keine lebenswerte Zukunft bieten kann. Aufgabe von Marxist*innen ist es, selbstbewusst und offensiv unsere sozialistische Gesellschaftsalternative zu verkünden.

Von Sascha Staničić, Sol-Bundessprecher

Die radikalen Proteste der Bäuerinnen und Bauern, die Massendemonstrationen von weit über zwei Millionen Menschen gegen die AfD und gegen Rassismus, Streiks bei der Bahn, an Flughäfen, im Nahverkehr, im Handel, Absage des politischen Aschermittwochs einer Regierungspartei aufgrund von Protesten, fortgesetzte Krise der Bundesregierung, Rezession und drastische Reduzierung der Wachstumsprognosen, Gründung zwei neuer Parteien (Bündnis Sahra Wagenknecht und WerteUnion) – die bundesdeutsche Gesellschaft befindet sich in einem Zustand der Gärung und wir erleben Polarisierungen und Mobilisierungen in erheblichem Ausmaß.

Und doch ist das nur die Spitze des Eisbergs und stehen die großen gesellschaftlichen Explosionen noch bevor. Die Proteste der Bäuerinnen und Bauern haben davon einen Vorgeschmack gegeben. Stellen wir uns vor, dass nicht einige tausend Landwirt*innen mit ihren Traktoren, sondern hunderttausende Arbeiter*innen mit einer ähnlichen Wut und Empörung streiken und auf die Straße gehen. Dass es dazu kommen kann, daran arbeiten Ampel-Koalition, CDU/CSU und Arbeitgeberverbände gerade – angetrieben von der Krise des von ihnen vertretenen kapitalistischen Systems.

Der „kranke Mann Europas“

Deutschland gilt wieder als der „kranke Mann Europas“. Die BIP-Entwicklung des vergangenen Jahres wird auf ein Minus von 0,3 Prozent – also eine Rezession – geschätzt und die Prognosen für dieses Jahr wurden im Januar drastisch von 1,2 auf 0,3 Prozent reduziert. Wirtschaftsminister Robert Habeck nennt das „dramatisch schlecht“ und Finanzminister Christian Lindner nennt es „peinlich“. Damit hat die Bundesrepublik die schwächste wirtschaftliche Situation der führenden Industrienationen.

Und das sind nicht nur abstrakte Zahlen. Diese Prozentzahlen repräsentieren in Konkurs gehende Unternehmen und vernichtete Arbeitsplätze. Die Zahl der Firmenpleiten hat mittlerweile wieder das Vor-Pandemie-Niveau erreicht und steigt weiter. Überdurchschnittlich viele größere Unternehmen, wie zum Beispiel Karstadt, sind betroffen. Ebenso bauen gerade große Unternehmen, wie SAP, Bayer oder Volkswagen Arbeitsplätze ab, teilweise als Folge der Verlagerung der Produktion ins Ausland. Das sind in den meisten Fällen noch keine betriebsbedingten Kündigungen und in manchen Unternehmen werden an anderer Stelle neue Arbeitsplätze geschaffen bzw. werden Arbeitskräfte gesucht, aber die Erwerbslosenzahl steigt wieder.

Agenda 2030?

Christian Lindner will aber in Deutschland nicht den „kranken Mann Europas“ sehen. Für ihn ist die Bundesrepublik nur ein müder Mann, der einen kräftigen Schluck Kaffee braucht. Ohne Droge läuft das System also nicht mehr … Lindners Kaffee sind jedoch Maßnahmen zur Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit (sprich: der Profitbedingungen) für deutsche Unternehmen. Und solche werden im Kapitalismus immer auf dem Rücken der lohnabhängigen Bevölkerung ausgetragen.

Dementsprechend vergeht auch kein Tag, an dem nicht irgendein Kapitalvertreter oder ein*e prokapitalistische Politiker*in großen „Reformbedarf“ anmeldet, wobei „Reform“ schon lange nicht mehr für „Verbesserung“ steht. Konkret beinhalten die Forderungen Senkungen der Unternehmenssteuern, Verlängerung und weitere Flexibilisierungsmöglichkeiten bei Arbeitszeiten, schärfere Sanktionen für Bürgergeldempfänger*innen, Einschränkungen des Streikrechts, Begrenzung der Sozialabgaben, Abschaffung der Möglichkeit des Renteneinstiegs mit 63, Rückkehr zur Atomkraft und einiges mehr.

Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) fordert entsprechend eine „wirtschafts- und sozialpolitische Wende“ und in den Kommentarzeilen von SPIEGEL bis Süddeutsche wird immer häufiger die Forderung nach einer „Agenda 2030“ erhoben. Und so mancher „Experte“ lässt seinen feuchten Wirtschaftsträumen freien Lauf. Schon im November schrieb Marc Friedrich im Focus unter der Zwischenüberschrift „Agenda 2030 statt Sozialismus!“, dass die nötige Agenda 2030 „viel weitreichender“ sein müsse als die Agenda 2010. Und fordert unter andere nicht nur die Rückkehr zur Atomkraft, sondern auch die „Reaktivierung von Kohleminen und Förderung von Öl und Gas“, die massive Absenkung der Staatsquote und: „Steuern senken und vereinfachen. Stichwort Bierdeckelsteuer. Am besten nur noch eine Steuer, die man beim Einkaufen zahlt.“

Hinzu kommen die Forderungen nach einer weiteren drastischen Erhöhung der Rüstungsausgaben und Kürzungshaushalte auf allen Ebenen. Es steht außer Frage: die Kapitalist*innen und ihre politischen Vertreter*innen planen eine Klassenkampfoffensive von oben. Diese würde auf die Kürzungen folgen, die jetzt schon umgesetzt werden.

Es wird schon gekürzt

Dabei sind Kürzungen keine Zukunftsmusik. Von Regierungsvertretern wird das als „Normalisierung der Haushaltspolitik“ bezeichnet. Der Haushalt für 2024 und der Nachtragshaushalt für 2023 sehen unter anderem Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich, bei den Bäuerinnen und Bauern und weitere, die die Masse der Bevölkerung treffen, vor: Durch die Anhebung der CO2-Steuer auf 45 Euro pro Tonne, der Einführung der Plastiksteuer (die zuvor vom Bund an die EU bezahlt wurde), aber auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer in Fällen, wo sie zuvor abgesenkt worden war, werden die Preise für Verbraucher*innen weiter steigen.

Laut einer Berechnung der Zeitschrift “Capital” werden auf eine vierköpfige Musterfamilie durch den Wegfall der Gaspreisbremse und der Anhebung des CO2-Preises 211 Euro Mehrkosten zu kommen,1 durch die Anhebung der Netzentgelte und den Wegfall der Strompreisbremse etwa hundert Euro, beim Tanken fallen etwa 4,3 Cent pro Liter an und auch Speisen im Restaurant werden teurer, da die Mehrwertsteuer für die Gastronomie wieder von sieben auf 19 Prozent steigt. Gleichzeitig stellt die Regierung der Industrie einen Industriestrompreis in Aussicht, um die Profite der Unternehmen zu sichern!

Bisher sind diese Kürzungen, abgesehen von den Angriffen auf die Bäuerinnen und Bauern, noch so breit gefächert, dass sie nicht wie der große Hammer wirken. Sie sind aber real und werden Millionen treffen.

Auch auf kommunaler Ebene kommt es, unter anderem wegen Einnahmeausfällen aus der Gewerbesteuer, zu Kürzungen. In Berlin-Mitte wird zum Beispiel mit der Schließung von dreißig von 52 Jugend- und Familieneinrichtungen gerechnet. Der Städtetagspräsident Markus Lewe spricht von einer drohenden „Spirale der Grausamkeit“. Gerade die Kommunen werden von Kürzungen und Wirtschaftskrise betroffen sein. In ersten Kommunen droht schon die Haushaltssperre.

Und auch der Ausbau bei der Deutschen Bahn ist betroffen. tagesschau.de berichtete am 2. Februar: „Der Sparkurs der Ampelkoalition nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts hat offenbar größere Auswirkungen auf geplante Bahn-Investitionen als bislang bekannt. Wie der ‘Spiegel’ und die Nachrichtenagentur Reuters berichten, muss die Deutsche Bahn ihre Neubauprojekte weitgehend stoppen. Ursache seien die geplanten Kürzungen im Bundeshaushalt, die auch den Etat des Verkehrsministeriums beträfen.“ So sieht dann also die ökologische Verkehrswende aus ….

Schuldenbremse und Aufrüstung

Die Zeichen stehen also auf Sturm, auf eine Klassenkampfoffensive von oben. Das wird auch nicht davon abhängen, ob es zu einer Reform der Schuldenbremse kommt oder nicht, wie sie mittlerweile nicht nur aus der SPD, sondern auch von Teilen der Union gefordert wird. Eine solche würde durchgeführt, um mehr Verschuldung im Interesse des Kapitals zur Finanzierung bestimmter Investitionen und Subventionen zu ermöglichen, nicht aber um die nötigen Investitionen in Bildung, Gesundheit und Soziales tätigen zu können.

Nicht zuletzt würde eine Reform der Schuldenbremse auch ein Mittel sein, um die immer lauter geforderten weiteren Milliarden für die Bundeswehr zu finanzieren. Laut Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius muss Deutschland „kriegstüchtig“ gemacht werden. Da reichen die 2022 beschlossenen hundert „Zeitenwende“-Milliarden nicht aus. Schon werden weitere 200 Milliarden gefordert. In kreativen Vorschlägen, wo dieses Geld herkommen soll, überschlagen sich prokapitalistische Politiker*innen in den letzten Wochen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Jedenfalls findet zur Zeit eine massive Militarisierung der Gesellschaft statt und das nicht nur im materiellen Sinne durch die Milliarden, die in Rüstung und Bundeswehr gesteckt werden, sondern auch im ideologischen Sinne durch das propagandistische Trommelfeuer aus allen im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der Linkspartei. Die Gesellschaft wird kriegstüchtig gemacht und darin haben die Rüstungskonzerne und Militarist*innen in Wladimir Putin und Donald Trump die besten Verbündeten. Trumps kürzlich ausgesprochene Drohung, die USA werden unter seiner Führung keinem NATO-Partnerland beistehen, das das Zwei-Prozent-Ziel für die Quote von Rüstungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt nicht erreicht, wurde von bürgerlichen Politiker*innen direkt zur Propagierung von Aufrüstung und deutsch-europäischer Wehrtüchtigkeit genutzt. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass in einer kürzlich veröffentlichten Studien sich eine Mehrheit für den Ausbau der Verteidigungsfähigkeit und die Einhaltung diese Zwei-Prozent-Ziels ausgesprochen hat. Auch haben sich letztes Jahr doppelt so viele Reservist*innen freiwillig zur Bundeswehr gemeldet als im Jahr zu vor. Das ist sicher keine einheitliche Stimmung und gerade das Sondervermögen für die Bundeswehr wird von vielen Menschen kritisch gesehen, aber der Ukraine-Krieg und die generelle Zunahme von Konflikten auf der Welt haben die Stimmung beeinflusst – nicht zuletzt auch, weil es aus der Linken und den Gewerkschaften nicht konsequent dagegen gehalten wurde. Im Gegenteil wurden auf den Kongressen von ver.di und IG Metall im letzten Jahr Beschlüsse gefasst, die die traditionellen antimilitaristischen Positionen der Gewerkschaften aufweichten. Die IG Metall-Führung hat dann vor einigen Wochen noch einen drauf gesetzt, als sie in einem gemeinsamen Positionspapier mit dem SPD-Wirtschaftsforum und dem Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) mehr Rüstung forderte. Die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley wollte selbst eine europäische Atombombe nicht ausschließen. Die nukleare Teilhabe reicht aus Sicht dieser Sozialdemokratin offenbar nicht aus, wenn ein US-Präsident Trump nicht bereit sein sollte, zur europäischen Sicherheit auf den roten Knopf zu drücken.

Eine Reform der Schuldenbremse ist jedenfalls aus Sicht vieler prokapitalistischer Politiker*innen auch nötig, um die Aufrüstung weiter voranzutreiben. Aber eine Reform der Schuldenbremse wird, ähnlich wie die erfolgte Reform des EU-Stabilitätspakts, keine Hinwendung zu einer keynesianischen Wirtschaftspolitik oder gar Investitionen im Interesse der Masse der Bevölkerung bedeuten. Sie stünde nicht im Widerspruch zu Kürzungen, Angriffen auf die Arbeiter*innenklasse und weiteren neoliberalen Maßnahmen, wie zum Beispiel dem geplanten Verkauf der Deutsche Bahn-Tochter DB Schenker.

Klassenkämpfe

All diese Entwicklungen finden vor dem Hintergrund eines deutlichen Aufschwungs an Klassenkämpfen und Massenmobilisierungen seit einem Jahr statt. Dazu gehören auch die Proteste der Bäuerinnen und Bauern, die kein „reaktionärer Aufstand“ waren, wie es manche Linke geschrieben haben, sondern eine gerechtfertigte Protestbewegung des bäuerlichen Kleinbürgertums gegen Maßnahmen, die für sie eine existenzielle Bedrohung darstellen. Wir haben als Marxist*innen dabei eine differenzierte Haltung eingenommen und auf sozialen und Klassenunterschiede zwischen Kleinbauern, großen Agrarunternehmen und lohnabhängigen Landarbeiter*innen hingewiesen, gleichzeitig aber die Kernforderungen der Bäuerinnen und Bauern als gerechtfertigt unterstützt. Dabei verschließen wir nicht die Augen vor dem Versuch der AfD und anderer rechtsextremer und auch faschistischer Kräfte, Einfluss unter den Landwirt*innen zu erzielen und deren Proteste zu instrumentalisieren. Aber gerade dieser Versuch der Einflussnahme durch rechtsextreme Kräfte hätte ein Grund mehr sein müssen, dass Die Linke und die Gewerkschaften den Bäuerinnen und Bauern eine gemeinsame Kampffront auf Basis eines Programms im Interesse der Arbeiter*innenklasse und der Mittelschichten hätte anbieten sollen. Das hätte die Ampel-Koalition unter unvergleichlich höheren Druck gesetzt. Die Sympathie in der arbeitenden Bevölkerung mit den Landwirt*innen war dazu jedenfalls ausreichend vorhanden.

Kampfbereitschaft in der Arbeiter*innenklasse hat sich bei den Streiks der GDL gezeigt. Aber auch bei den Streiks an den Flughäfen, im Nahverkehr, in den Kinos, im Handel und in einzelnen Betrieben, wie dem Jüdischen Krankenhaus Berlin, auch wenn die Situation hier teilweise komplizierter aus Sicht der Beschäftigten ist. Auch wenn in den letzten Wochen weniger Beschäftigte an Streiks beteiligt waren, als im Frühjahr letzten Jahres, werden diese Streiks als Fortsetzung des Kampfes für einen Ausgleich der Preissteigerungen und für bessere Arbeitsbedingungen wahrgenommen. Die Streikwelle geht weiter und die Arbeiter*innenklasse ist sichtbarer. Das ist von größter Bedeutung für den Aufbau sozialistischer Kräfte, denn gerade unter Jugendlichen ist die Arbeiter*innenklasse immer weniger ein unbekanntes Wesen. Das zeigt sich konkret an der Streikunterstützung für die Beschäftigten im Nahverkehr durch Fridays For Future und Aktive aus der Klimabewegung in der Kampagne #wirfahrenzusammen. Die Streiks im Nahverkehr waren jedoch unterschiedlich gut befolgt, was nicht zuletzt mit der zersplitterten Tariflandschaft und den oftmals nicht ausreichend mobilisierenden Forderungen von ver.di zusammen hängt.

Diese Streiks sind erst der Anfang eines Jahres, in dem Tarifauseinandersetzungen für zwölf Millionen Beschäftigte stattfinden werden, darunter die Chemieindustrie, Druckindustrie, Leiharbeitsbranche, Systemgastronomie, Metall- und Elektroindustrie und Telekom. Bei letzterer scheint sich eine zugespitztere Auseinandersetzung als in den letzten Jahren anzubahnen. In Berlin hat eine Versammlung von Telekom-Gewerkschafter*innen sich für eine Tarifforderung von 500 Euro Festgeld plus 8,5 Prozent ausgesprochen, was zusammen circa 23 Prozent, je nach Einkommen, bedeuten würde. Die Kolleg*innen sehen einen riesigen Nachholbedarf nach Einkommensverlusten in den letzten Jahren. Gewerkschafter*innen berichten, dass erstmals auch Nicht-Mitglieder ihre Bereitschaft zum Streik erklären. Gleichzeitig scheint sich die Telekom-Geschäftsleitung auf eine harte Auseinandersetzung vorzubereiten. Auch hier sind also zumindest Warnstreiks zu erwarten.

Für die Beschäftigten bei Bund und Kommunen läuft der TVÖD (Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes) zum Jahresende aus. Hier findet derzeit eine Befragung von ver.di zur Frage der Arbeitszeit statt. Sol-Mitglieder in ver.di setzen sich für eine Forderung nach einer 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich ein.

So sehr sich an der Tariffront in vielen Gewerkschaften etwas tut, so sehr versuchen die Gewerkschaftsspitzen der Bundesregierung den Rücken freizuhalten, allen voran die ehemalige SPD-Generalsekretärin und jetzige DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi, die sich nicht zu schade war, der Ampel-Koalition zu gratulieren, nachdem diese sich auf einen Haushaltsentwurf einigen konnte. Politisch werden die Gewerkschaftsführungen ihrer Verantwortung nicht gerecht, weder im Hinblick auf die Kürzungspolitik der Regierung noch im Hinblick auf die Massenproteste gegen AfD und Rassismus. An diesen haben sich im Januar und Februar über zwei Millionen Menschen beteiligt. Die Gewerkschaften haben dabei kaum eine führende Rolle gespielt und die vielen Gewerkschaftsmitglieder, die zweifellos an diesen Kundgebungen teilgenommen haben, haben dies in der Regel als Einzelpersonen und nicht als Teil der Gewerkschaft getan, die durch eine starke kollektive Beteiligung auch Einfluss auf die politischen Inhalte dieser Kundgebungen hätte nehmen können.

Millionen gegen die AfD

Die Proteste haben gezeigt, dass die Mehrheit in der Bundesrepublik gegen die AfD eingestellt ist. Diese Mehrheit wird, so zeigen es Umfragen, auch nicht kleiner. Es ist keine Frage, dass diese Proteste positiv sind und die gesellschaftliche Stimmung beeinflussen, auch wenn sie politisch begrenzt sind und von den Regierungsparteien missbraucht werden. Aber jede*r kennt jemanden, der auf einer der Demonstrationen war, welche auch in kleinen Städten und Ortschaften stattfanden. Auch in Gegenden, in denen es eine starke rechtsextreme Szene gibt, haben sich viele auf die Straße getraut und haben Gesicht gezeigt. Das ist viel wert und hoffentlich werden dadurch viele Menschen selbstbewusster, auch in ihrem direkten Umfeld den Mund gegen Rassismus und die AfD aufzumachen.

Meinungsumfragen der letzten Wochen zeigen Verluste für die AfD, was sowohl mit den Protesten als auch mit der Gründung der von Sahra Wagenknecht geführten Partei BSW zu tun haben wird. Doch ob diese Verluste nachhaltig sein werden, muss leider bezweifelt werden. Gleichzeitig konnte die AfD viele Mitglieder gewinnen und scheint es vor allem auch eine Verhärtung der Polarisierung zu geben. Die Demonstrationen sind aufgrund ihres politischen Charakters kaum dazu geeignet, AfD-Wähler*innen oder -Sympathisant*innen von den Rechtspopulist*innen wegzubrechen. Dies ist der Fall, weil es klassenübergreifende Demos sind, wo in vielen Fällen Regierungspolitiker*innen mitdemonstrieren. In Görlitz hatte sogar der sächsische Ministerpräsident Kretschmer auf einer Kundgebung gesprochen. Das macht es der AfD einfach, zu behaupten, es handle sich um von den Regierenden gesteuerte Demonstrationen. So unsinnig das ist, so sehr versuchen die etablierten bürgerlichen Parteien, mit den Demos von ihrer eigenen Verantwortung für gesellschaftliche Probleme abzulenken. Dabei ist es die Politik dieser Parteien, die den Boden für die AfD bereitet. Wir treten deshalb dafür ein, dass die Bewegung gegen die AfD auch die Ursachen für das Erstarken der Rechtsextremen ins Visier nimmt und sich sowohl gegen Sozialkürzungen, arbeiter*innenfeindliche Regierungspolitik als auch gegen staatlichen Rassismus ausspricht.

Die Linke

Die Linke kann all diesen Entwicklungen nicht nur nicht ihren Stempel aufdrücken, sie scheint nicht einmal treibende Kraft zu sein. Zwar sind nach der Abspaltung Sahra Wagenknechts und ihrer Unterstützer*innen und seit Beginn der Anti-AfD-Proteste circa dreitausend neue Mitglieder eingetreten, von Aufbruchstimmung ist in der Partei aber nicht viel zu merken. Der Rücktritt des Bundesgeschäftsführer Tobias Bank und die Kampfabstimmung um den neuen Vorsitz der Bundestagsgruppe haben hingegen offenbart, dass die innerparteilichen Konflikte nicht der Vergangenheit angehören, während das innerparteiliche prinzipienlose Bündnis zwischen der Bewegungslinken und Teilen der Parteirechten nun seine Verkörperung auch in der mit Ates Gürpinar und Katina Schubert doppelt besetzten Geschäftsführung hat.

Bündnis Sahra Wagenknecht

Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hingegen hat im Januar offiziell seinen ersten Parteitag abgehalten und die Partei formell gegründet. Sie liegt seitdem in fast allen Meinungsumfragen über fünf Prozent bei der Bundestagswahl. Der Parteitag war eine Veranstaltung ohne Debatte, Anträge, kontroverse Abstimmungen, Gegenkandidat*innen – ein gut durchinszeniertes Happening mit 450 handverlesenen Teilnehmer*innen. Wenn man das mit den lebendigen Debatten und unvorhersehbaren Verläufen von Parteitagen in der Anfangszeit der WASG vergleicht, wird klar, dass sich mit dem BSW keine Kraft der Selbstorganisation von unten gegründet hat. Trotzdem wird das BSW viele Wähler*innen mobilisieren und Die Linke möglicherweise parlamentarisch zerstören können.

Politisch hat sich bei dem Parteitag bestätigt, dass das BSW eine Abspaltung nach Rechts von der Linkspartei ist, nicht nur weil man sich dort nicht mehr mit „Genossinnen und Genossen“, sondern mit „Freundinnen und Freunde“ anspricht.Antikapitalismus und Sozialismus kommen nicht mehr vor. Sozialpopulismus hingegen viel. Inwiefern vormals dem linken Flügel der Linkspartei angehörende Personen, wie Ali Ai-Dailami, Judith und Friederike Benda oder Andrej Hunko sich innerhalb des BSW auch links positionieren und zum Beispiel die nationalistische Migrationspolitik herausfordern, bleibt abzuwarten. Bisher gibt es dafür leider keine Anzeichen.

Neuwahlen?

Das BSW wird sehr wahrscheinlich bei den Europawahlen im Juni und den ostdeutschen Landtagswahlen im September viele Stimmen mobilisieren können. Eine politische Alternative für die Arbeiter*innenklasse stellt sie aufgrund ihrer marktwirtschaftlich-nationalen Programmatik jedoch nicht dar. Dazu wäre eine neue Arbeiter*innenpartei mit sozialistischen Programm nötig.

Ob die Ampel-Koalition dieses Jahr überstehen wird, kann zumindest bezweifelt werden. Die Unternehmerverbände haben sich bisher gegen Neuwahlen ausgesprochen, weil sie nicht wissen, ob es danach eine Regierung geben kann, die stabiler ihre Interessen vertritt. Das kann sich jedoch schnell ändern, sollte sich die Ampel als unfähig erweisen, Schritte in Richtung einer Agenda 2030 zu unternehmen. Mit Neuwahlen im Laufe des Jahres muss also zumindest gerechnet werden. Aber ob es dazu kommt oder nicht – 2024 wird ein ereignisreiches Jahr werden, das viele Möglichkeiten für den Aufbau sozialistischer Kräfte bereit halten wird.

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