Der “Flügel” der AfD: Ins Aus geboxt

By RimbobSchwammkopf (Own work) [CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], via Wikimedia Commons

Der Richtungsstreit bei den Rechtspopulisten spitzt sich zu

Es fliegen die Fäuste. Zwar ist die AfD in parteiinternen Auseinandersetzungen nicht gerade für Streicheleinheiten bekannt. Doch inzwischen wird der Fraktionskampf nicht mehr nur mittels verbaler Attacken und Vorstandsbeschlüssen ausgetragen. Wenigstens einmal schlug Rechtsaußen Andreas Kalbitz zu.

Dabei darf eines nicht übersehen werden: Der Streit in der AfD dreht sich vorrangig um die Frage welches Lager sich durchsetzen wird, die marktradikale, nationalistische Strömung um Jörg Meuthen oder der völkisch-sozialdemagogische „Flügel“ um Höcke und Kalbitz, der angeblich aufgelöst ist.

Von Steve Hollasky, Dresden

Bereits am 10. August soll Kalbitz in einem Büro eines Landtagsabgeordneten der AfD Dennis Hohmann in den Bauch geboxt haben. Was laut Kalbitz ein eigenwilliges Begrüßungsritual gewesen sein soll, führte bei seinem Gegenüber zu einem Milzriss. Besonders brisant: Hohmann ist Kalbitz‘ Nachfolger an der brandenburgischen Fraktionsspitze, nachdem dessen Parteimitgliedschaft vom Bundesvorstand annulliert worden war. Und Hohmann steht auf der anderen Seite des Grabens, der sich schon lange – und nun endgültig offensichtlich – durch die rechtspopulistische Partei frisst.

Seither ist der Kampf um die Deutungshoheit dieses Vorfalls Teil des alltäglichen Kriegs, den sich die führenden Parteimitglieder ebenso liefern wie große Teile der AfD-Basis. Und plötzlich sind die Freund*innen von Andreas Kalbitz wenig geneigt dessen öffentliche Verteidigung zu übernehmen. Stattdessen sprechen nun Kalbitz‘ Gegner im Landesverband erstaunlich offen über Kalbitz Gebaren als dieser noch Mitglied der Partei und an der Spitze der brandenburgischen AfD war. Er habe ein Alkoholproblem, will der Radiosender „Deutschlandfunk“ aus Kreisen der AfD-Landtagsfraktion erfahren haben, sei gerade im angetrunkenen Zustand leicht reizbar und habe schon mehr als einmal zugeschlagen. Kalbitz selbst hüllt sich seit dem Vorfall in eisernes Schweigen.

Kalbitz – der Rechtsaußenaktivist

Ist das das politische Ende des Andreas Kalbitz? Sein Fall spricht Bände über den rechten „Flügel“ und den Kleinkrieg in der AfD.

Noch in der 2018 erschienen ARD-Produktion „Die Story: Am rechten Rand. Wie rechtsextrem ist die AfD“, leugnete Jörg Meuthen, schon damals in der Funktion des Co-Vorsitzender der AfD, auf die Frage nach Kalbitz‘ Vergangenheit in faschistischen Organisationen, dass man es bei Andreas Kalbitz „mit einem Rechtsextremisten zu tun“ habe. Vielmehr sei sein Parteikollege ein „hochgebildeter, hochreflektierter Mensch“, der zudem „eine hervorragende Parteiarbeit“ leiste. Meuthen verstieg sich gar in die Aussage: „Alles, aber auch alles widerstrebt mir Herrn Kalbitz in irgendeiner Form Rechtsextremismus anzuhängen.“

Gut zwei Jahre später, im Juni 2020 gab derselbe Meuthen dem ARD-Magazin Kontraste ein Interview, in dem er „Kalbitz eine verfestigt rechtsextreme Vergangenheit“ attestierte und ihm vorwarf sich von dieser „nie distanziert“ zu haben. Mit diesen Worten legitimierte er den Beschluss des Bundesvorstands vom Mai, nach dem Kalbitz’ Mitgliedschaft in der rechtspopulistischen Partei annulliert worden war. Das knappe Abstimmungsergebnis war auf Meuthens Initiative hin zustande gekommen. Kalbitz politischer Ziehvater Alexander Gauland hatte öffentlich gegen den Beschluss protestiert. Tino Chrupalla, der zweite Vorsitzende der Bundespartei zumindest starke Zweifel an der juristischen Rechtmäßigkeit des Beschlusses geäußert. Meuthen triumphierte hingegen vor den Fernsehkameras und Mikrofonen der Radiosender. Es sei das erklärte Ziel der AfD „eine Brandmauer“ nach Rechtsaußen zu ziehen.

Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel? Wieso wurde Kalbitz in Meuthens Augen plötzlich vom Paulus zum Saulus? Hatte Meuthen die rechstextreme Karriere seines Parteikollegen schlicht nicht gekannt?
Diese Version kann man als äußerst unwahrscheinlich ansehen. Kalbitz‘ Vergangenheit als Multifunktionär der radikalen Rechten materialisierte sich in zahlreichen Mitgliedsbüchern rechter Verbände und Vereine.

Nach einem kurzen Gastspiel in der CSU durchlief er die „Republikaner“, war seit 1994 in der „Jungen Landsmannschaft Ostpreußen“ (JLO) tätig und später im „Witikobund e.V.“. Als Mitglied des Verbandes „Kultur- und Zeitgeschichte. Archiv der Zeit e.V“ stieg der ehemalige Berufssoldat gar zum Vorstandsmitglied auf. Im Grunde liest sich Kalbitz‘ politische Biografie wie eine Liste des „Who is Who“ der rechtsextremen Organisationen.

Die „Junge Landsmannschaft Ostpreußen“ (später „Junge Landsmannschaft Ostdeutschland“) war irgendwann sogar so weit rechts, dass sich selbst die Mutterorganisation, die „Landsmannschaft Ostpreußen“ dazu entschloss, die JLO abzustoßen. Zeitweise organisierte die JLO mit dem am Jahrestag der Bombardierung Dresdens stattfindenden Aufmarsch die größte regelmäßige Nazi-Demonstration Europas. Auch Kalbitz‘ späterer Parteifreund Björn Höcke lief dort zumindest 2011 mit.

Auch der Witikobund träumt von einer Ausweitung der deutschen Grenzen in Richtung Osten. Die Truppe, die durch antisemitische Einlassungen in ihren zweimal im Jahr erscheinenden „Witikobriefen“ aufgefallen ist, wurde in den 1950er Jahren von ehemaligen Mitgliedern der Sudetendeutschen Partei (SdP) ins Leben gerufen. Im Grunde handelte es sich bei der SdP um einen Ableger der deutschen NSDAP, der in den 30er Jahren in den Grenzgebieten der Tschechoslowakischen Republik sein Unwesen trieb. Bis heute hofft der Witikobund auf eine Wiederangliederung der sogenannten sudetendeutschen Gebiete, die Hitler 1938 mit kräftiger Unterstützung durch Großbritannien und Frankreich von der Tschechoslowakei abgespalten hatte.

Bei „Kultur- und Zeitgeschichte. Archiv der Zeit e.V.“ handelt es sich um einen revisionistischen Verein, der die Schuld des deutschen Imperialismus am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs leugnet oder zumindest relativiert. Gegründet hatte den Verein 1985 Waldemar Schütz. Der NPD-Funktionär war im Zweiten Weltkrieg Mitglied der SS. Entsprechend verherrlichend sind die Darstellungen der Wehrmacht in den Veröffentlichungen des selbsternannten Instituts. Zu den verlegten Autoren zählt auch Adolf von Thadden, der erste Vorsitzende der NPD. Den Vorsitz und die Mitgliedschaft im Verein gab Kalbitz erst nach zahlreichen öffentlichen Protesten auf.

Zum Verhängnis im innerparteilichen Kampf wurden ihm jedoch nicht all die Mitgliedschaften in all diesen rechtsextremen Verbänden, sondern seine Mitgliedschaft in der „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ), die Kalbitz stets abgestritten hat.

Bekannt war Kalbitz‘ Teilnahme an Zeltlagern der HDJ bereits seit Jahren. Antifaschist*innen hatten ihn in Lederhosen und weißem Hemd auf zwischen den Zelten des in der Tradition der HJ stehenden Vereins fotografiert.

Weder die Mitgliedschaft Kalbitz‘ in zahlreichen rechtsextremen und faschistischen Verbänden war der AfD unbekannt noch konnte über den Charakter dieser Gruppen Zweifel bestehen. Die Frage bleibt, weshalb sich Meuthen plötzlich derart für das politische Vorleben seines Parteikollegen interessierte.

Was treibt Meuthen an?

Als im Mai diesen Jahres der Bundesvorstand der AfD zusammentrat, wussten alle Beteiligten, dass es keine Sitzung wie zahllose andere werden würde. Die Handys hatten ausgeschaltet zu sein, damit sich aus dem Treffen heraus nichts verbreiten konnte. Hatte diese Maßnahme der Geheimhaltung dienen sollen, wäre sie wenig hilfreich gewesen. Kaum, dass die Sitzung des AfD-Bundesvorstandes beendet war, drangen die Protagonist*innen der beteiligten Seiten an die Mikrofone – Lügenpresse hin oder her, nun wollte man die eigene Botschaft über die Bildschirme flimmern sehen. Und was die einen wortreich begrüßten und die anderen in Bausch und Bogen verurteilten, wirkte als würde die AfD von einem Erdbeben erschüttert worden: Die Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz war annulliert worden.

Bereits Anfang diesen Jahres verkündete Jörg Meuthen sein Ziel, die AfD zur Regierungsfähigkeit zu führen. Nach Lage der Dinge würden Plätze auf Regierungsbänken für die AfD nur dann reserviert werden, wenn sie sich zu einer Koalition mit der CDU bzw. der FDP entscheiden könnte. Mit einer Ausrichtung der AfD an den politischen Ideen und der Rhetorik des „Flügels“ wäre das unmöglich. Etwa zur selben Zeit erklärte der Verfassungsschutz den völkischen „Flügel“ der AfD zum Verdachtsfall. Schon damals war vielen klar, dass es dabei nicht bleiben würde. Und so folgte auch die Einstufung des „Flügels“ und mehrerer Landesverbände der AfD-Jugend „Junge Alternative“ (JA) als Beobachtungsfall.

Mögen die Kleinbürger*innen in den Führungsgremien der AfD in ihren Reden auch noch so gespielt radikal keifen, eine Beobachtung der eigenen Partei mittels geheimdienstlicher Methoden würde weder ihnen noch einem großen Teil der Klientel der AfD wirklich gefallen. Konservative Rebellionen bleiben zuvörderst konservativ. Da scheint es aus Jörg Meuthens Sicht auch nicht sonderlich beruhigend, dass die Arbeit des Verfassungsschutzes in Wirklichkeit keine größere Behinderung für die Arbeit rechter Gruppen darstellt. Mit einer AfD unter der Lupe des Verfassungsschutzes würden CDU und Co. keine Regierungsbündnisse schmieden.

Wollte Meuthen seinen Plan zum Erfolg führen, dann musste er reagieren. Und weshalb nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die Partei zur Koalitionsfähigkeit führen und zugleich die Partner von einst loswerden.

Meuthens holprige Offensive

Und so ging Meuthen in die Offensive gegen seine ehemaligen Verbündeten, die ihm einst geholfen hatten, über den politischen Leichnam Frauke Petrys an die Spitze der Partei zu steigen. Möglicherweise könnte er damit die stillschweigende gegenseitige Akzeptanz der beiden Fraktionen der Partei – seiner eigenen und der von Höcke und Kalbitz – für immer beendet haben. Welche Folgen das haben wird, ist weiter schwer abzusehen. Insbesondere die Perspektiven für die politische Karriere Jörg Meuthens scheinen sich im Wochentakt zu ändern.

Als er im Frühjahr vorschlug, die AfD möge sich noch vor der im Spätsommer des nächsten Jahres anstehenden Bundestagswahl in zwei Parteien – eine nationalliberale, rassistische Partei und eine weitaus rechtsextremere – spalten, stand Meuthen plötzlich allein auf weiter Flur und musste den Rückzug antreten.

Gerade deshalb schien sein zweiter Schlag gegen Höcke und Kalbitz zum Scheitern verurteilt: Meuthen verlangte die Selbstauflösung des „Flügels“. Die Rechtsaußenströmung der AfD institutionalisierte sich nie öffentlich und so war es auch nicht viel mehr als ein dreister Taschenspielertrick von Höcke und Co., die Auflösung der eigenen Fraktion zu erklären.

Da aber der „Flügel“ immer eine informelle Vereinigung war, kann man getrost von seinem Weiterbestehen ausgehen. Email-Verteiler, Whats-App- oder Telegram-Gruppen existieren ohne Unterschied fort, nur nennen sie sich eben nicht mehr „Flügel“ – wenigstens nicht mehr im Moment.

Die Selbstauflösung des „Flügels“ – Meuthens Phyrrusssieg? Vielleicht. Aber ein Sieg, der für Außenstehende derart unerwartet kam, dass er Meuthens Position im AfD-internen Machtkampf einstweilen stärkte. Höcke beugte sein Haupt vor dem Parteivorsitzenden, den er in den letzten Jahren nicht einmal mehr zum Kyffhäusertreffen des „Flügels“ eingeladen hatte. Die Demütigung war perfekt.

Doch das Ende der Fahnenstange war längst nicht erreicht. Nachdem sich Meuthens unglückliche Amtsvorgänger*innen Bernd Lucke und Frauke Petry dereinst an einem avisierten Parteiausschluss Björn Höckes die Zähne ausgebissen und die Niederlage mit ihrem Sturz in die Bedeutungslosigkeit bezahlt hatten, attackierte Meuthen ausgerechnet Andreas Kalbitz.

Andreas Kalbitz und der „Flügel“

Lange stand Andreas Kalbitz im Schatten von Björn Höcke. Während der auf dem Gut des rechten Verlegers Götz Kubitschek Goebbels-Reden las, wie Franziska Schreiber in ihrem Buch „Inside AfD“ zu berichten weiß, gab Kalbitz den Organisator. Er fuhr von Parteigliederung zu Parteigliederung, redete, überzeugte und – sollten die nun aufkommenden AfD-internen Berichte mehr sein als verbale Beigaben des Fraktionsstreits – setzte er auch gern mal unter Druck, um den „Flügel“ zum Erfolgsmodell der AfD zu machen.

Damit scheint es nun vorbei zu sein. Kalbitz’ Vergangenheit in rechtsextremen Organisationen wurde ihm zum Verhängnis. Jahre, nachdem bekannt geworden war, dass Kalbitz Mitglied der Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) gewesen war, erkannte ihm der Bundesvorstand, dem Kalbitz bis zu diesem Zeitpunkt angehört hatte, die Mitgliedschaft in der AfD ab.

Die zwei Hauptströmungen

Doch nur vordergründig geht es um den Streit innerhalb der AfD, um eine Entscheidung über Personen. Dem „Deutschlandkurier“ gegenüber gab Höcke schon vor Wochen eine Stellungnahme ab, die erklärte, seine Widersacher wöllten eine andere Partei „eine kalte Partei, eine marktradikale Partei“. Und dann übt sich Höcke, der so gern Goebbels-Reden liest, in halbgarer, vorgeblich antikapitalistischer Rhetorik. Der „global-kapitalistische Ansatz“, so der Chef des „Flügel“ werde die Partei in „eine Sackgasse“ führen. Es sei richtig gewesen, dass „wir in Deutschland“ „unser Gesundheitswesen nicht privatisiert“ hätten, so Höcke. Die Coronakrise zeige, dass dieser Entschluss richtig sei.

Sieht man großzügig darüber hinweg, dass Höcke – wohl in der Hoffnung den Gegner*innen der Corona-Maßnahmen zu imponieren – einige Wochen später einfach erklärte, die Coronakrise sei zu Ende und damit seine eigenen Worte konterkarierte, zeigt sein Ausspruch deutlich, wie wenig die AfD über die Situation im Gesundheitswesen weiß: Privatisiert wurde dort gegen den entschiedenen Widerstand der Mehrheit der Pflegekräfte immer wieder und gespart wurde vor Beginn der Krise und wird nun weiterhin.

Doch noch etwas Anderes zeigt Höckes Statement für den „Deutschlandkurier“. Er wolle keinen „kalten Kapitalismus“, so der AfD-Rechtsaußen. Er wolle eine „ökolgische, soziale“ und schließlich „menschliche Marktwirtschaft“, ohne zu erklären wie die denn aussehen werde. Und wie man, ohne sich von einem System zu verabschieden, das auf Profit basiert, „menschlich“, „sozial“ und „ökologisch“ wirtschaften wolle.

Höcke will keinen „globalen Kapitalismus“, er will einen deutschen. Er will nicht den Reichen nehmen, um den Armen zu geben. Er will, dass die Reichen Deutsche sind. Ein deutscher Unternehmer hat von Höcke nichts zu befürchten, gleichviel, ob er mit der Gesundheit von Menschen oder ihrer Wohnung Profit machen will. Denn die Enteignung deutscher Unternehmer und die Übertragung von deren Fabriken, Mietshäusern, Pflegeheimen und Krankenhäusern in öffentliches Eigentum, das von den jeweiligen Belegschaften und der Gesellschaft demokratisch kontrolliert und verwaltet wird, liegt nicht in der Absicht Höckes oder des „Flügels“. Dieser schlichte Fakt mag durch Höckes Rhetorik da und dort überdeckt werden, doch seine „eloquente Nestwärme“ bildet nur den Flankenschutz des „kalten Kapitalismus“, der in Höcke in Wahrheit keinen Gegner findet.

Gibt es eine „gute“ AfD?

Und doch ist Höckes Entwurf einer Rechtspartei ein anderer als der von Meuthen. Höcke, Kalbitz, der „Flügel“ – ihre soziale Demagogie erinnert weit mehr an die NSDAP der frühen 30er Jahre als Meuthens Projekt eines in Parteiformat gepressten marktradikalen Nationalismus. Dessen Flügel wird der Öffentlichkeit nun gern als „gemäßigt“ präsentiert.

Doch bleibt die Frage, was die Meuthen-AfD gemäßigt macht. Meuthen wollte das deutsche Rentensystem komplett schleifen. Für den absoluten Notfall sollte es so etwas wie „Hartz IV“ auch im Alter geben. Ansonsten, so Meuthens Rentenkonzept, sollten alle privat vorsorgen. Nur können das Gutverdiener*innen weitaus besser als Mindestlöhner*innen. Das ist Meuthen ganz gleich. „Gemäßigt“ wären Meuthens Attacken auf soziale Standards ganz gewiss nicht, wenn er irgendwann zum Zuge kommen sollte. „Gemäßigt“ wäre er bestenfalls in den Augen von CDU und FDP, die die AfD gern zur Mehrheitsbeschaffung benutzen würden.

Für das Lebensniveau der Arbeiter*innenklasse wäre Meuthens Politik nicht „gemäßigt“, wohl aber ein schreckliches Unglück.

Flächenbrand

Inzwischen hat sich der Kampf in und um die AfD längst zum Flächenbrand ausgeweitet. Dass die Partei in einem Stück aus dem Kampf herauskommt, wird immer unwahrscheinlicher.

Der kleine Bernauer Ortsverband beispielsweise wurde durch den übergeordneten Barnimer Kreisverband kurzerhand für aufgelöst erklärt, nachdem sich dessen Vorstand offen für die Zusammenarbeit mit ehemaligen NPD-Mitgliedern gezeigt hatte. Schon vor gut einem Jahr hatten sich drei der acht Kreistagsabgeordneten der AfD Barnim aus der Fraktion verabschiedet und sich zur AfD-Die Konservativen zusammengeschlossen. Der Grund sei der Rechtskurs der fünf anderen.

In der der AfD nahestehenden Desiderius-Erasmus-Stiftung siegte Erika Steinbach, die sehr viel eher dem Meuthen-Lager zuzuordnen ist, gegen Erik Lehnert, der seinen Vorstandssitz räumen musste.

Steinbach erreichte den Ausschluss Lehnerts mit dem Hinweis auf dessen Position als Geschäftsführer des Instituts für Staatspolitik (IfS), das von Götz Kubitschek ins Leben gerufen worden war.

Auch Frank Pasemann erwischte es im August. Der „Flügel“-Mann ist Mitglied des Bundestages und lud zu Veranstaltungen der AfD auch schon einmal Philipp Stein in die Räumlichkeiten des Bundestags ein. Der Pressesprecher der „Deutschen Burschenschaft“, brachte bei dieser Gelegenheit gleich zwei seiner Mitstreiter aus dem rechtsextremen Verein „Ein Prozent“ mit. Laut Pasemann seien alle drei Experten bezüglich des Themas „Linksextremismus“. Nun ist Pasemann aus der AfD ausgeschlossen worden.

In zahlreichen Landesverbänden, so in Hessen und in Bayern, tobt der Richtungskampf zwischen „Flügel“ und „Nicht-Flügel“. Überraschend häufig schwingt das Pendel dabei Richtung Meuthen.

Doch auch der „Flügel“ schießt zurück. Meuthen, der seinen Wahlkampf um ein Bundestagsmandat durch illegale Spenden von Unternehmern aus der Schweiz hatte finanzieren lassen, soll, nach dem Willen des „Flügels“, die anstehende Strafzahlung quasi aus eigener Tasche begleichen, um Schaden von der Partei abzuwenden. Und in Brandenburg schickt der äußerst rechte Parteiflügel Christoph Bernd, den Chef des rechtsextremen Vereins „Zukunft Heimat“ ins Rennen um die Spitze der Fraktion.

Was aus der AfD wird, ist also weiterhin offen, denn es ist noch immer weitgehend unklar, wer den Fraktionskampf innerhalb der Partei für sich entscheiden wird. Und selbst, wenn eine der beiden Seiten siegen wird, sagt das wenig über die Frage der Spaltung der AfD.

Eines aber ist sicher: Auch wenn die AfD gern über „das Establishment“ wettert, genießen die Größen der Partei doch die Gemütlichkeit des Abgeordnetensessels, der durch die monatliche Diät nur noch angenehmer wird. Stellt man die eigene Wahl nicht infrage, wenn man sich auf das Experiment einer Spaltung vor der Bundestagswahl im nächsten Jahr einlässt? Doch andersherum gefragt, hat der Streit nicht inzwischen derart an Dynamik gewonnen, dass alle rationalen Überlegungen bedeutungslos werden? Diese Fragen mit abschließender Gewissheit zu beantworten, ist im Moment kaum möglich. Alles andere als unbedeutend wird der Ausgang der Wahlen zur Landesliste in Nordrhein-Westfalen sein.

Sowohl Alice Weidel, als auch Jörg Meuthen wollen dort an die Spitze der Landesliste für die Bundestagswahl. Eine Schlappe kann sich Meuthen dort nicht leisten. Und genau deshalb wollen sie ihm seine Gegner dort beibringen. Und so verschleppt Weidel den Ausschluss von Dubravko Mandic. Der ist inzwischen für seine Vorliebe für alte Nazi-Lieder bekannt, die er bei Burschenschaftsabenden gern zum Besten gibt. Seinen Ausschluss auf den St. Nimmerleinstag zu verschieben soll Weidel die Stimmen des rechten Parteiflügels sichern und so Meuthen an der Spitze der Landesliste verhindern. Umso mehr versucht dieser Weidel unter Druck zu setzen. Sollte diese klein bei geben und Mandic doch ausschließen, wäre ihr Imageschaden aus Sicht der AfD-Rechtsaußen riesig.

Ein Triumph in Nordrhein-Westfalen könnte so zur Vorentscheidung im AfD-internen Machtkampf werden. Was die jeweils unterlegene Parteiströmung dann tut, ob sie sich geschlossen von der AfD abspaltet oder nicht, bleibt jedoch weiterhin offen.

Welche Aufgaben hätten LINKE und DGB?

Für LINKE und DGB darf der Streit nicht zu einem trügerischen Gefühl des Sieges über die AfD werden. Mag sein, dass die Umfragewerte der Partei unter dem Streit (und ihrer Corona-Politik) leiden. Das Klientel der AfD bleibt vorerst erhalten. Auch eine rein antirassistische Mobilisierung wird daran nicht viel ändern.

Viel mehr muss es darum gehen, soziale Kämpfe zu beginnen.

Die Kosten der Coronakrise sollen auf die Arbeiter*innenklasse abgewälzt werden. Das ist die Strategie der Herrschenden. Und so müssten gerade DGB und LINKE längst darüber diskutieren wie man die laufende Tarifrunde im öffentlichen Dienst nutzen könnte, um eine Umverteilung von oben nach unten zu organisieren. Wie man gemeinsam Angriffe auf Beschäftigte von Krankenhäusern abwehren könnte. So soll eine Klinik in Hamburg geschlossen und in Dresden 400 Betten im Städtischen Klinikum abgebaut werden. Widerstand ist dort dringend nötig.

Kämpfe um geringere Mieten und für die Rekommunalisierung von Wohnungen oder höhere Löhne bieten die Chance allen Beteiligten, egal welcher Herkunft, zu zeigen, wer die Verbündeten und wer die Gegner sind. Gemeinsam zu kämpfen heißt auch zu verstehen, dass die Kollegin aus Syrien und der Mieter aus dem Iran nicht die Gegner, sondern die Verbündeten sind. Das man mit ihnen gemeinsam für bessere Lebensbedingungen kämpfen kann. Stattdessen setzt DIE LINKE auf Regierungsbeteiligungen mit prokapitalistischen Parteien, in denen eine linke Politik nicht umsetzbar ist.

Und natürlich müssten DGB und LINKE über die wahren Absichten der AfD kontinuierlich aufklären und gegen jede Aktivität dieser Partei mobilisieren.

Die AfD ist eine Ausgeburt der kapitalistischen Gesellschaft. Nur wer diese infragestellt, kann gegen die AfD siegen. Weder Meuthens nationaler Marktradikalismus, noch Höckes gespielter Antikapitalismus haben den Lohnabhängigen etwas zu bieten. Die Idee einer sozialistischen Demokratie, in der demokratisch über die Verwendung des gesellschaftlichen Reichtums entschieden wird, schon.