Nigeria: Massenbewegung gegen Polizeibrutalität und Armut

Solidarität dringend nötig

Vorbemerkung: Dieser Artikel wurde am 21. Oktober auf www.socialistworld.net veröffentlicht. seitdem sind die Proteste weiter gegangen. Auch in Deutschland gibt es in vielen Städten Solidaritätskundgebungen. Wir rufen unsere Leser*innen dazu auf, diese zu unterstützen. Hier findet sich der englischsprachige Text einer Sonderausgabe der Zeitung “Socialist Democracy” der Sol-Schwesterorganisation Democratic Socialist Movement (DSM) in Nigeria.

Sendet Solidaritätsbotschaften an: youth_rights@yahoo.com

Anfang letzter Woche hat das Militär in Nigeria unbewaffnete Demonstranten an der Lekki-Mautstelle in Lagos erschossen. Anstatt gegen die Täter vorzugehen, schweigt der nigerianische Präsident Buhari.

Diese gewaltsame Repression folgt auf eine spontane Massenprotestbewegung vor allem junger Menschen gegen die Brutalität der Polizei, welche Wasserwerfern, Tränengas, scharfen Schüssen und mindestens 15 Toten getrotzt hat. Mit den Protesten gelang es, die Regierung zur Auflösung der berüchtigten Sondereinheit gegen Raubüberfälle (SARS) zu zwingen. Fast sofort darauf erklärte der Polizeichef jedoch, dass SARS-Mitglieder wieder in die Polizei eingegliedert und eine neue militarisierte SWAT-Einheit eingerichtet würde. Dieser offene Betrugsversuch hat wiederum zu einem Wiederaufflackern der Proteste geführt.

Soweto, ein führendes Mitglied der Democratic Socialist Movement (CWI Nigeria) aus Lagos, sprach mit der Wochenzeitung The Socialist (Zeitung der Socialist Party, England & Wales) über die aktuellen turbulenten Ereignisse.

Soweto erklärt, dass der Funke, der die Proteste entzündete, Videoaufnahmen eines Polizeimordes vom 3. Oktober gewesen seien, die im Internet massenhaft geteilt wurden. Sie zeigen einen jungen Mann, der von einem SARS-Mitglied verhaftet und dann erschossen wird. Die Polizei fährt daraufhin noch mit dem Auto des jungen Mannes davon!

Dass die Polizei junge Menschen im Visier hat, ist nicht neu. SARS gibt es seit Anfang der 1990er Jahre. Inzwischen ist es aber so schlimm, dass ein junger Mensch, der ein Auto fährt, einen Laptop oder ein Smartphone mit sich führt, von der Polizei automatisch als kriminell eingestuft wird und mit Erpressung, Verhaftung und sogar außergerichtlicher Tötung durch dieselbe rechnen muss.

Soweto weist darauf hin, dass es in der Vergangenheit bereits Proteste gegen SARS und Polizeibrutalität gegeben habe, aber die Bewegung habe sich nun aufgrund der umfassenderen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krise in Nigeria neu entzündet.

Bei diesen Protesten sind Themen wie Arbeitsplatzmangel, Korruption, schlechte Straßen und fehlende Elektrizität schnell in den Vordergrund gerückt. In einem kürzlich erschienenen Bericht eines Arbeitgeberverbandes heißt es, dass 102 Millionen Nigerianer, also fast die Hälfte der 205 Millionen Einwohner des Landes, in “extremer Armut” leben. Für die Jugend ist die Situation besonders schlimm. Nur 14,7 Millionen der vierzig Millionen arbeitsfähigen 15- bis 34-jährigen Nigerianer*innen sind erwerbstätig.

Die Regierung Buhari hat es trotz ihrer Zusagen bei ihrem ersten Amtsantritt 2015 völlig versäumt, diese und andere drängende soziale Probleme, wie das chronisch unterfinanzierte Gesundheits- und Bildungssystem, anzugehen. Darüber hinaus hat die Regierung vor kurzem die Brennstoffpreise und Stromtarife angehoben und die Lage damit noch verschärft. All dies, während sich das Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich massiv vergrößert hat.

Dieser jüngste Angriff auf den Lebensstandard führte zu massiver Wut unter der Bevölkerung, welche die Führer des Nigerian Labour Congress und des Trade Union Congress (zwei Gewerkschaftsverbände), A.d.Ü.) dazu drängte, im September einen Generalstreik auszurufen, um gegen Subventionskürzungen, Preis- und Steuererhöhungen und Verzögerungen bei der Einführung von Mindestlöhnen zu kämpfen. In letzter Minute brachen die Führer den Streik jedoch ab und akzeptierten offiziell das Argument der kapitalistischen Regierung, dass Nigerias “schwierige finanzielle Lage” die “Unvermeidbarkeit der Deregulierung” bedeute.

Wie DSM seinerzeit dazu berichtete: “In Benin City und Ibadan gingen zahlreiche Gewerkschafter*innen und andere Menschen sofort auf die Straße, um gegen die Entscheidung der nationalen Führer zu protestieren. In anderen Städten gab es stürmische Zusammenkünfte von Aktivist*innen”.

Soweto wies im Interview darauf hin, dass dieser Verrat der Gewerkschaftsführung (und frühere ähnliche Fälle) bereits dazu geführt haben, dass unter jungen Menschen neben der weit verbreiteten Ablehnung der wichtigsten politischen Parteien auch Misstrauen und sogar Feindseligkeit gegenüber der Arbeiter*innenbewegung herrscht.

Die Demokratische Sozialistische Bewegung hat die Initiative ergriffen und eine „Kampagne für die Rechte der Jugend“ (Youth Rights Campaign, YRC) ins Leben gerufen, die ein politisches Programm zur Beendigung der Polizeibrutalität vertritt und sich auch mit allgemeineren Fragen der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Armut usw. befasst. Die YRC beteiligt sich aktiv an den Protesten, verteilt Flugblätter und nimmt an Debatten teil.

Als nächsten Schritt ruft die YRC zu einem 48-stündigen Solidaritäts-Generalstreik auf. Sollten die bürokratischen Gewerkschaftsführer jedoch nicht handeln wollen, soll an die Mitglieder der Basis ein Aufruf zum Streik gerichtet werden.

Soweto erklärte, dass ein Teil des Problems dieser spontanen Bewegung das Fehlen demokratischer Strukturen sei, die es den Teilnehmer*innen ermöglichen würden, darüber zu beraten, welches Forderungsprogramm notwendig ist, um die Verhältnisse grundlegend zu ändern, aber auch um eine demokratische Kontrolle der Bewegung zu ermöglichen.

Die Rolle des Militärs

Soweto erwähnte zum Beispiel auch, dass einige Mitglieder des Militärs bei den Protesten als Anhänger der Jugend und des Volkes und gegen die Polizei aufgetreten sind.

Er wies darauf hin, dass das Militär seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1960 durch Putsche und Repression eine demokratiefeindliche Rolle gespielt habe. Doch momentan kombiniert die Regierung Zugeständnisse mit unterschwelligen Drohungen. Der Informationsminister behauptet, die Proteste seien “von Ganoven und Leuten mit Hintergedanken unterwandert worden”.

Ein Programm, das sich den repressiven staatlichen Kräften entgegenstellt, stellt automatisch auch die Herrschaft der kapitalistischen Elite in Frage; einer Elite, die verdorben und korrupt ist und den aus den Öleinnahmen des Landes erwirtschafteten Reichtum vollständig abgeschöpft hat.

Daher ist der Kampf um demokratische Rechte verbunden mit dem Kampf um eine sozialistische Politik zur Umwandlung Nigerias von einer extrem ungleichen, kapitalistischen Gesellschaft in eine demokratische, sozialistische Gesellschaft, welche die enormen menschlichen Ressourcen und den natürlichen Reichtum zum Nutzen aller verwenden kann.

Soweto betont jedoch, dass eine solche Umwandlung nur durch eine sozialistische Massenbewegung erreicht werden kann, die zur Machtübernahme einer Regierung führt, die wirklich die Arbeiter*innenklasse und die Armen vertritt. Aus diesem Grund beteiligte sich die DSM an der Initiierung der breiten Sozialistischen Partei Nigerias, um Unterstützung für sozialistische Ideen und den Aufbau einer Arbeiter*innenpartei zu gewinnen, die auch für diese Ideen kämpft.

Print Friendly, PDF & Email