Dokumentiert: Stellungnahme des Netzwerks für eine kämpferische und demokratische ver.di
Dreiste Arbeitgeber
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) spricht von einem „historischen“ Ergebnis bei den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. Dabei haben Regierung und öffentliche Arbeitgeber offenbart, wie wenig sie bereit sind, uns Kolleg*innen im öffentlichen Dienst tatsächlich Wertschätzung entgegen zu bringen. Während die Bundesregierung die Militärausgaben in diesem Jahr um 10 Prozent auf knapp 50 Milliarden Euro erhöhte, ist für die wichtigen Aufgaben im öffentlichen Dienst und für die vorher beklatschten Alltagsheld*innen angeblich nicht genügend Geld vorhanden. Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke bezeichnet den Abschluss als „respektabel“, vor dem Hintergrund der aktuellen Situation. Bis zum 26.11. soll es innerhalb von ver.di Diskussionen über den Abschluss geben.
Die Kolleg*innen vom Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di, die auch in den Warnstreiks aktiv dabei waren, sind sich bewusst, dass diese Tarifrunde aufgrund der Corona-Pandemie unter besonderen Bedingungenstatt fand. Von Seiten der Arbeitgeber und vieler Medien wurde uns Entsolidarisierung vorgeworfen und behauptet, Streiks seien in Zeiten der Pandemie unangemessen. Viele Kolleg*innen hatten deshalb Sorgen, die so genannte öffentliche Meinung hätte sich gegen uns wenden können.
Aber in den Betrieben und Dienststellen wissen wir doch eigentlich, dass die Pandemie nur noch mehr offenbart hat, wie berechtigt unsere Forderungen sind, um einen attraktiven und leistungsfähigen öffentlichen Dienst zu haben, der auch mit einer Pandemie fertig werden kann. Dementsprechend hat sich eine wachsende Anzahl von Kolleg*innen, teilweise auch aus neuen Bereichen, an den Warnstreiks beteiligt. Kolleg*innen vom Netzwerk sind der Ansicht, dass die Streikbereitschaft zunahm, gerade auch weil die Empörung über die Arbeitgeberhaltung riesig war.
Entsprechend hätte die ver.di-Führung viel selbstbewusster und offensiver mit dieser Situation umgehen sollen und den Kampf um die Sympathien in der Bevölkerung viel entschlossener aufnehmen sollen. Wieso hat es keine Solidaritätskampagne in allen DGB-Gewerkschaften gegeben, wieso keine Solidaritätskundgebungen? Die Pandemie war kein Argument gegen unseren Kampf, sondern dafür und wir hätten die Chance nutzen können, die Arbeitgeber in diesen Zeiten mit Streiks viel mehr unter Druck zu setzen als zu normalen Zeiten. Wir denken, dass es auf jeden Fall möglich und nötig gewesen wäre, eine Urabstimmung für Streiks einzuleiten, um einen Kampf für eine notwendige Umverteilung zu führen, und die aufgestellten Forderungen durchzusetzen. Diese Chance wird mit diesem Abschluss vertan und ein falsches Signal gesetzt.
Im ver.di-Flugblatt zum Abschluss wird hervorgehoben, dass die dreisten Vorhaben der Arbeitgeber abgewehrt werden konnten und dass vor allem für untere und mittlere Einkommensgruppen mehr erreicht wurde. Allerdings sollte man sich die Dinge nicht schön reden.
Es ist nicht neu, dass die Arbeitgeber am Beginn einer Tarifrunde ihre Ziele höher formulieren – das ist Teil ihrer Strategie. Es wurde keine Absenkung der Lohneingruppierungen vorgenommen, wie es von den Arbeitgebern in die Debatte geworfen wurde, aber wie ernsthaft sie das schon in dieser Tarifrunde durchsetzen wollten, ist fraglich – was nicht heißt, dass ein solcher Angriff nicht für die Zukunft auf die Tagesordnung kommt!
Was die Ergebnisse bedeuten
Wenn die Arbeitgeber eine dreijährige Laufzeit gefordert hatten, und für 2021 und 2022 jeweils eine Erhöhung von nur einem Prozent durchsetzen wollten (siehe ver.di Flugblatt zum Tarifergebnis), sind sie offensichtlich nicht weit davon entfernt gelandet. Im Gegensatz dazu sind die Ergebnisse im Vergleich zu den – noch relativ bescheidenen – ver.di-Forderungen von 4,8% bzw. mindestens 150 Euro bei einer Laufzeit von 12 Monaten sehr weit weg, denn:
Die Laufzeit beträgt 28 Monate. Die erste Tabellenerhöhung gibt es erst ab dem 1.April 2021 und beträgt 1,4 % oder mindestens 50 Euro. Die nächste Erhöhung gibt es erst ab dem 1. April 2022, und zwar 1,8 % und diesmal ohne soziale Komponente.
Das, worüber sich Kolleg*innen, besonders in den unteren Lohngruppen, am meisten freuen, sind die Bonuszahlungen, die steuerfrei sind und dieses Jahr ausgezahlt werden (600 Euro für Entgeltgruppen (EG) 1 bis 8, 400 Euro für die EG 9 bis 12 und 300 Euro für die EG 13 bis 15). Rechnet man dies auf die Monate September 2020 bis März 2021 um, so sind das für EG1 bis 8 immerhin 100 Euro netto monatlich. Allerdings sind das einmalige Beträge und die Erhöhung ab 1. April 2021 wird dann auf den alten Tabellenwert drauf gerechnet. Selbst beim Sockelbetrag von 50 Euro bleiben unterm Strich, nach Abzug von Steuern und Abgaben vielleicht 25 bis 30 Euro monatlich übrig.
Allerdings läuft die vorübergehende Mehrwertsteuersenkung am 1. Januar 2021 aus. Dazu kommt, dass die offizielle Inflationsrate, die momentan bei unter 1 Prozent liegt, nicht die steigenden Lebenshaltungskosten widerspiegelt, weil hier genauso langfristige Güter einfließen. Wenn Preise für Lebensmittel und Mieten weiter steigen, dann hat das sehr große Auswirkungen auf die täglichen Kosten. Auch die aktuell gesunkenen Preise für Benzin und Heizöl werden alltägliche Kostensteigerungen nicht mehr wettmachen, wenn mit der Einführung der CO2-Steuer die Masse der arbeitenden Bevölkerung zur Kasse gebeten wird – ohne dass damit eine klimapolitische Kehrtwende wie zum Beispiel ein massiver Ausbau des ÖPNV eingeschlagen würde. (Erwartete Steigerung bei Spritpreisen: plus 7 Cent pro Liter, bei Heizöl für einen mittleren Haushalt etwa 100 Euro mehr pro Jahr).
Wie sich die Inflation genau entwickelt, weiß niemand, aber all diese Daten deuten darauf hin, dass dieser Abschluss irgendwann ab dem nächsten Jahr eher ein reales Minus für die meisten Kolleg*innen bedeutet. Daran wird auch die Erhöhung der Jahressonderzahlung nichts ändern. Die längst überfällige Angleichung der Arbeitszeiten in Ostdeutschland ist endlich vereinbart – aber erst für 2023 und in den Krankenhäusern gibt es die Angleichung auf 38,5 Stunden wie im Westen erst 2025.
Gesundheitswesen
Für bestimmte Beschäftigtengruppen im Gesundheitswesen wurde erwartungsgemäß etwas mehr zugestanden. Hier gibt es zusätzlich 70 Euro ab März 2021 und nochmal 50 Euro ein Jahr darauf für Pflegekräfte, und es gibt eine erhöhte Wechselschichtzulage. Für Intensivpflegekräfte wird die bisherige Zulage auf 100 Euro monatlich angehoben. Insofern wurde hier dem Druck, der in diesem Bereich besonders hoch ist, Rechnung getragen. Aber von der von ver.di geforderten Aufwertung dieser Berufe um 300 Euro monatlich ist hier nicht einmal ein Drittel durchgesetzt worden. Demgegenüber steht, dass für die Ärzt*innen in Gesundheitsämtern die Zulage von 300 Euro monatlich als einziger Beschäftigtengruppe dann doch möglich war. Das ist zu begrüßen, aber mit derselben Dringlichkeit wäre es für alle anderen Beschäftigten im Gesundheitswesen mindestens genauso nötig!
Für die meisten Kolleg*innen im Gesundheitswesen ist aber von noch größerer Bedeutung, dass endlich mehr Personal her muss, um den unerträglichen Arbeitsdruck zu verringern. Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke hat unmittelbar nach dem Abschluss angekündigt, dass ver.di den Kampf für mehr Personal weiter führen will. Es ist enorm wichtig, dass diesen Worten Taten folgen. Aus den zahlreichen Kampagnen und inspirierenden Aktionen, die von den Beschäftigten, kämpferischen ver.di Betriebsgruppen und lokalen Pflegebündnissen organisiert werden, sollte eine bundesweit koordinierte und schlagkräftige Kampagne gestartet werden – gerade jetzt, wo die Bedeutung eines gut ausgestatteten Gesundheitswesens im Fokus steht, ausgerichtet nach Bedarf und nicht nach Profiten.
Die harte Haltung von VKA und Bund in dieser Tarifrunde hat viele Kolleg*innen zurecht empört. Damit haben die Arbeitgeber eine Marke gesetzt, um jede Forderung, sei sie auch noch so bescheiden, als unangemessen und dreist hinzustellen. Im Bereich der Sparkassen wurde sogar eine geringere Lohnerhöhung plus die Absenkung der dort geltenden Sonderzahlung vereinbart, die dann in freie Tage umgewandelt werden soll. Für die Beschäftigten an den Flughäfen soll es gar keine Lohnerhöhungen geben, und stattdessen soll ein Notlagentarifvertrag vereinbart werden. Diese Logik wird sich auch in kommenden Auseinandersetzungen fortsetzen. Dabei sollte klar sein: Verzicht rettet keine Arbeitsplätze!
Die Krise, in der wir uns jetzt befinden, ist in der Tat eine historische. Erstens ist nicht klar, wann und wie die weltweite Pandemie überwunden werden kann. Zweitens befinden wir uns inmitten einer tiefen wirtschaftlichen Krise, die sich bereits vor der Pandemie angekündigt hatte und sich nun noch schneller und tiefer entwickelt. Diese Krise hat ihre tiefere Ursache in der kapitalistischen Wirtschaftsweise, die auf Profite ausgerichtet ist. Milliardenschwere Rettungspakete werden verabschiedet – aber vor allem im Interesse der großen Konzerne und Banken. So wurden 9 Milliarden Euro an Lufthansa ausgezahlt – doch es werden trotzdem 27.000 Stellen abgebaut und der Vorstand ist damit beschäftigt, einen Weg zu finden, wie trotzdem eine Bonuszahlung an die Vorstandsmitglieder bewerkstelligt werden kann. Auch wenn sich niemand eine solche Krise wünscht, ist es wichtig, die Realität anzuerkennen. Aber es darf nicht bedeuten, sich damit abzufinden, dass die Masse der Beschäftigten den Gürtel enger schnallen soll, während die Reichen nichts bezahlen – und teilweise noch ihre Gewinne ausbauen können! So ergeben erste Untersuchungen, dass die globalen Vermögen während der Krise um 3 Prozent steigen – natürlich die der Superreichen.
Daher ist es ein Problem, wenn die Gewerkschaftsführungen darauf orientieren, dass in ein bis zwei Jahren die Krise überwunden sei, und dann würde es auch allen wieder besser gehen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass mit der Strategie der Sozialpartnerschaft, eine Absicherung von Arbeitsplätzen und Lebensstandard auf lange Sicht gelingen wird. Stattdessen ist es nötig, einen Kurswechsel zu vollziehen, und sich jetzt auf weitere Kämpfe vorzubereiten.
Es geht um mehr!
Ein interessanter Kommentar in der Frankfurter Rundschau zum Tarifabschluss stellt richtigerweise fest: „Das Missverhältnis zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut gibt einen öffentlichen Dienst mit angemessener Ausstattung und Bezahlung schlicht nicht her.“ und schlussfolgert „Der Glaubenssatz, dass die überproportional gestiegenen Vermögen und Einkommen nicht stärker als bisher belastet werden dürften, gehört endlich in die Tonne.“
Damit wird ein wichtiger Punkt angesprochen, denn es wird jetzt immer wichtiger, den Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen auch als gesellschaftspolitischen Kampf zu sehen. Das bedeutet, dass die Forderung nach einem massive Ausbau des gesamten öffentlichen Dienstes aufgestellt werden muss – sei es im Gesundheitswesen, in der Pflege, im öffentlichen Personennahverkehr, in den Kitas und den Schulhorten, in der Verwaltung, bei der Arbeitsvermittlung, in Freizeitangeboten, sozialen Einrichtungen. Das war schon vor der Pandemie der Fall und gilt jetzt doppelt und dreifach! Doch genau hier ist sogar zu erwarten, dass schon mit den nächsten Haushaltsdebatten in den Kommunen Kürzungen beschlossen werden. Dagegen muss Widerstand geleistet werden und ver.di sollte eine zentrale Rolle dabei spielen.
Ein Kampf für den Ausbau des öffentlichen Dienstes darf aber nicht allein aus Postkartenaktionen und Foto-Petitionen bestehen. Er wird auch nicht an runden Tischen mit Regierung und Arbeitgebern gewonnen. Proteste und Demonstrationen, bis hin zu Streiks, sind nötig. Dafür muss eine umfassende Kampagne vorbereitet werden – in den Betrieben, aber auch in den Wohnvierteln und unter Einbeziehung der Masse der arbeitenden Bevölkerung, die alle von diesen Diensten abhängig sind.
Krankenhäuser, Sozial- und Erziehungsdienste
Konkrete Ansatzmöglichkeiten gibt es schon im nächsten Jahr: der Kampf der Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten wurde auf 2021 verschoben. Hier gilt es, die Auseinandersetzung unter Einbeziehung der Kolleg*innen gut vorzubereiten und offensive Forderungen aufzustellen. Im Bereich der Krankenhäuser sollte der Kampf um Entlastung koordiniert werden, so dass Streiks für Tarifverträge zur Entlastung in vielen Krankenhäusern zeitgleich und koordiniert stattfinden können, um so den Druck maximal zu erhöhen, um wirklich substantielle Verbesserungen zu erreichen. Dafür muss auch das Fallpauschalensystem insgesamt abgeschafft und das Gesundheitswesen komplett aus den Händen von privaten Profiteuren genommen werden!
35-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich
Wieder ist in dieser Tarifrunde das Thema Arbeitszeitverkürzung weitgehend hinten runter gefallen. Dabei steht es bei Umfragen unter den Beschäftigten immer wieder ganz oben. Aktuell kommt dazu, dass ein wahrer Jobkahlschlag in vielen Bereichen der Privatindustrie angekündigt wurde. Auch vor diesem Hintergrund ist es lebensnotwendig, dass die Gewerkschaften als Antwort auf die Krise und drohende Massenarbeitslosigkeit die Forderung nach drastischer Arbeitszeitverkürzung in den Mittelpunkt stellen. Aber nicht mit Lohnverlust – wie es die Arbeitgeber wollen – sondern mit vollem Lohnausgleich. Und – um nicht da zu landen, dass in kürzerer Zeit noch mehr geleistet werden soll – muss es auch einen vollen Personalausgleich geben, der auch überprüfbar ist.
Der Kampf um die 35-Stundenwoche in der Metall- und Elektroindustrie sowie in der Druckindustrie in den 1980er Jahren wurde nicht an einem Tag geführt. Es war ein harter wochenlanger Kampf, den die Arbeitgeber mit allen möglichen Mitteln zu unterbinden versuchten. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl bezeichnete die 35-Stundenwoche als „dumm und töricht“. Doch genauso wie es damals die richtige Forderung war, so ist sie das heute – und zwar als erster Schritt hin zur 30-Stundenwoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich.
Es sollte JETZT damit begonnen werden, eine solche Auseinandersetzung vorzubereiten. Mit Diskussionen in Betrieben und Gewerkschaftsuntergliederungen. Was die wenigsten wissen: auch damals war es nötig, erstmal einen Kampf in der Gewerkschaft zu führen, dass diese Forderung überhaupt aufgestellt wurde, da die Vorstände dagegen waren. Kolleg*innen vom Netzwerk sind der Meinung, dass gerade unter den jetzigen Bedingungen eine solche Forderung auf enorm positive Resonanz bei vielen Gewerkschaftsmitgliedern und Beschäftigten stoßen würde.
Nicht austreten – kämpfen!
Es gab leider viele Stimmen von gefrusteten Kolleg*innen, die ihren Austritt angekündigt haben. Doch dieser Schritt würde alles nur schlimmer machen. Denn es gilt mehr als sonst: wir brauchen starke Gewerkschaften. Daher ist es umso nötiger, Mitglied zu bleiben und neue zu gewinnen! Das sollte aber auch damit verbunden werden, sich – gemeinsam mit anderen – für einen kämpferischen Kurs der Gewerkschaften einzusetzen.
Online Treffen
Schreibt uns, wenn ihr den Abschluss und nächste Schritte mit anderen kritischen Kolleg*innen diskutieren wollt. Wir bieten eine online Veranstaltung für den 16.11.20 um 19 Uhr dazu an. Wer sich daran beteiligen möchte, bitte an info@vernetzung.org schreiben.
Für eine Aktivenkonferenz der Beschäftigten im Gesundheitswesen
ver.di-Aktive aus verschiedenen Krankenhäusern fordern in einem Aufruf an ver.di die Einberufung einer Aktivenkonferenz. Auf dieser soll eine bundesweite Kampagne für mehr Personal, die Abschaffung des Fallpauschalensystems und der Rekommunalisierung aller Krankenhäuser und dazu gehöriger Leistungen von den Aktiven selbst diskutiert und geplant werden. Um diesem Aufruf Nachdruck zu verleihen und für gemeinsame Absprachen gibt es auch Videokonferenzen. Wer Interesse hat, sich zu beteiligen, kann sich hier anmelden: kh-aktivenkonferenz@web.de