Leo Trotzkis „Politische Profile“

Deutsche Erstveröffentlichung im Manifest-Verlag 

Trotzki war nicht nur einer der bedeutendsten Revolutionäre des 20. Jahrhunderts, sondern wurde auch als Redner und Autor weit über seine Anhänger*innenschaft hinaus geschätzt. Nach dem bekannten deutschen Literaturkritiker Reich-Ranicki war er „einer der geistreichsten politischen Schriftsteller des Jahrhunderts“. Immer wieder verfasste er biographische Texte über Zeitgenoss*innen. In “Politische profile” sind Texte über Persönlichkeiten der russischen und internationalen Arbeiter*innenbewegung versammelt.

von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart

Sie umspannen gut drei Jahrzehnte von vor dem Ersten Weltkrieg bis zum Beginn des Zweiten (1909-1939). In der Arbeiter*innenbewegung fanden die Kapitulation der internationalen Sozialdemokratie vor den Herrschenden ihrer jeweiligen Länder 1914, die russische Revolution 1917, die Revolutionen in Deutschland, Österreich und anderen Ländern ab 1918 und die Entstehung der Dritten bzw. Kommunistischen Internationale statt. In Russland hatten die Arbeiter*innen den Kapitalismus zwar stürzen können, aber da die anderen Revolutionen wegen der Rolle der Sozialdemokratie scheiterten, blieb Sowjet-Russland isoliert. Unter diesen Umständen konnte in dem rückständigen, von Krieg und Bürgerkrieg verheerten Land eine Kaste von Bürokraten die politische Macht erringen und die Arbeiter*innendemokratie erwürgen. Unter Stalin entstand eine Karikatur auf den Sozialismus.

Diese Ereignisse bestimmten das Schicksal Trotzkis: aus dem zaristischen Russland geflohener politischer Emigrant auf dem revolutionären linken Flügel der internationalen Sozialdemokratie – Mitglied der durch die Oktoberrevolution in Russland an die Macht gekommenen Regierung – führenden Mitglied der Linken Opposition gegen die Machtübernahme der Bürokratie im revolutionären Russland – für die Schaffung einer neuen Vierten Internationale kämpfender Internationalist.

Zu den beschriebenen Personen gehören bekannte historische Gestalten wie August Bebel, Rosa Luxemburg, Lenin oder Stalin ebenso wie persönlich-politische Freunde und Mitarbeiter (wie sein von Stalins Bürokratie in den Selbstmord getriebener Sekretär Glasman).

Die allermeisten der hier versammelten Texte behandeln Menschen, die Trotzki persönlich kannte, manche über Jahrzehnte hinweg. Zusätzlich sind passend zum 200. Geburtstag und 125. Todestag von Friedrich Engels noch drei Texte über diesen angefügt.

(Nicht nur) für Einsteiger*innen

1924 schrieb Trotzki in einem Brief: „Viele Menschen finden den Weg zum Allgemeinen durch das Persönliche. In diesem Sinne haben Biographien ihr Recht.“ Daher bieten die Texte für Neulinge einen guten Einstieg in die Ideen Trotzkis und wichtige Entwicklungen in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts. Da es sich um eine deutschsprachige Erstveröffentlichung handelt, ist das Buch aber auch für Leser*innen interessant, die sich mit Trotzki schon mehr beschäftigt haben – und eine gute Idee für ein Weihnachtsgeschenk.

Aber nicht nur das. Karl Marx schrieb 1852, dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen, aber „unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“. Wer mit Trotzkis grundlegenden Ideen bereits vertraut ist, findet in diesen Texten zwar keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse über die historische Entwicklungen. Aber zu der Frage, wie Menschen aus Fleisch und Blut auf diese Entwicklungen reagierten, wie sie Geschichte machten, wie die einen von Flutwellen des Nationalismus zu Beginn des Ersten Weltkriegs mitgerissen wurden oder in Russland in den 1920er Jahren sich von Revolutionär*innen zu Bürokrat*innen verwandelten, während andere sich der Flut entgegenstellten und für ihre Überzeugungen Verbannung, Gefängnis und Tod ertrugen, während wieder andere nach mehreren Jahren den Kampf aufgaben und kapitulierten … zu dieser „psychologischen“ Frage finden sich in den Texten Aufschlüsse eines Menschen, der die Beteiligten persönlich kannte.

Einzelne der Texte erschienen in den 1920er und 1930er Jahren in verschiedenen Zeitschriften auf Deutsch, die meisten wurden aber für diesen Band zum ersten Mal aus dem Russischen übersetzt. Mehrere erscheinen zum ersten Mal überhaupt in einer Übersetzung. Außerdem enthält das Buch ein ausführliches Personenverzeichnis, Verzeichnis der Zeitschriften und ein Glossar, das auf  Anmerkungen in den in den 1920er Jahren in der Sowjetunion erschienenen „Werke“-Bänden Trotzkis beruht.