Nigeria: Polizeigewalt löst Massenproteste aus

Ein Monat der Unruhen erschüttert das Buhari-Regime

Videoaufnahmen der verhassten SARS-Polizeieinheit, die einen Mann tötete und mit seinem Auto davonfuhr, waren der Auslöser für Proteste in Nigeria. Jahre der Frustration, Enttäuschung, Armut und Wut explodierten in einer mächtigen Massenbewegung, die das Regime von Buhari grundlegend untergrub. Sie stellte nicht nur die Zukunft des gegenwärtigen Regierungssystems in Frage, sondern auch die des Landes selbst.

von Robert Bechert, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale

Diese gewaltige, inspirierende Jugendbewegung hatte eine elektrisierende Wirkung auf viele Teile des Landes. Ihre Kampfbereitschaft stand in völligem Kontrast zu den Führer*innen der Gewerkschaftsbewegung. Erst zwei Wochen zuvor hatten diese in letzter Minute einen Generalstreik abgesagt und ein Abkommen unterzeichnet, das die Kürzungspolitik der Regierung (gegen die sich der Generalstreik richten sollte!) unterstützte. 

Das gesamte verrottete, korrupte System wurde in Frage gestellt. Plünderungen, Korruption und Bestechung sind allgegenwärtig, da der Öl- und Gasreichtum des Landes systematisch gestohlen wird. Ja, die schlecht bezahlte Polizei und das Militär schüchtern an Straßensperren die Leute ein und kassieren Bestechungsgelder. Aber die wirkliche Korruption beginnt an der Spitze. 

Diese Bewegung gegen SARS und seine Ersatzeinheit SWAT hat die brodelnde Wut aufblitzen lassen. Doch das Niederschießen unbewaffneter Demonstrant*innen am 20. Oktober am Lekki-Mautstellentor auf der Victoria-Insel von Lagos löste eine Explosion der Empörung aus.

Dieser Sturm braute sich schon seit einiger Zeit zusammen. Schon bevor Covid-19 zuschlug, befand sich Nigeria in einer schweren sozialen und wirtschaftlichen Krise – zusätzlich zu dem Boko-Haram-Aufstand im Nordosten des Landes und verschiedenen Zusammenstößen aus sowohl ethnischen als auch landwirtschaftlichen Gründen in wichitgen Gebieten. Der Fall der Ölpreise führte dazu, dass Nigeria die zweite Rezession innerhalb von vier Jahren erlebte. Die Inflation schreitet voran; derzeit steigen die Lebensmittelpreise jährlich um fast 17 Prozent. Hinzu kommt riesige Arbeitslosigkeit (die offizielle Quote liegt bei 27,1 Prozent, d.h. 21,7 Millionen Menschen) ohne jegliche Sozialleistungen. Die daraus resultierende Armut wird durch die weit verbreitete Unterbeschäftigung und die Nichtzahlung von Löhnen sowohl im staatlichen als auch im privaten Sektor noch verschlimmert.

Gewerkschaftsführer*innen

Diese explosive Lage war einer der Schlüsselfaktoren, warum die Gewerkschaftsführer*innen den für den 28. September geplanten Generalstreik abgesagt haben. Sie fürchteten, eine Bewegung zu beginnen, die sie nicht kontrollieren könnten.

Während viele Aktivist*innen von den Gewerkschaftsführer*innen nicht überrascht wurden – sie haben sich schon früher in ähnlicher Weise verhalten – schien das für viele junge Menschen zu zeigen, dass die Gewerkschaftsführer*innen einfach Teil des Systems waren. 

Zunächst waren die Anti-SARS-Protestierenden antipolitisch eingestellt. Mit der Entwicklung der Proteste gab es aber eine bedeutende Veränderung: Politische Aktionen wurden als notwendig erachtet und die Idee einer Jugendpartei, die mit all der Falschheit der Regierungsparteien und ihrer Satelliten brechen würde, fand Unterstützung.

Aber nur jung oder neu zu sein, ist kein politisches Programm. Während Buhari und Co. meist alt sind, gibt es „neuere”, „jüngere” nigerianische Politiker*innen, die genauso Teil des verrotteten Systems sind. Was eine Partei oder Bewegung tatsächlich tun will, ist hingegen von entscheidender Bedeutung, wenn sie einen grundlegenden Wandel herbeiführen will.

Leider gibt es Anzeichen dafür, dass zumindest einige derer, die die Führung der EndSARS-Proteste beansprucht haben, Anhänger*innen des Kapitalismus sind und argumentieren, dass nur die Korruption beseitigt werden müsse und Nigeria sich dann „entwickeln” werde. Die am 23. Oktober von der „Koalition der Protestgruppen” herausgegebene Erklärung orientierte hauptsächlich auf die Wahlen im Jahr 2023. Sie sagte nichts über die Bekämpfung von Armut, Unterdrückung oder Korruption.

Ein solcher Ansatz geht bestenfalls nicht auf die grundlegenden Fragen Nigerias ein – nämlich auf die Unfähigkeit des Kapitalismus, das Land zu entwickeln, und auf die Auswirkungen der wiederholten Krisen des Weltkapitalismus. Aber im schlimmsten Fall besteht die Gefahr, dass einige wenige diese Bewegung als Sprungbrett für ihren eigenen persönlichen Aufstieg nutzen werden.

Arbeitende Menschen und Jugendliche brauchen ihre eigene Partei

Die Demokratisch-Sozialistische Bewegung (DSM – CWI in Nigeria) argumentiert seit langem, dass die arbeitenden Menschen und die Armen ihre eigene Partei brauchen. Diese kann für ihre Interessen kämpfen und eine Massenbewegung aufbauen, die eine Regierung an die Macht bringt, die die Herrschaft des Kapitalismus beenden und mit sozialistischen Maßnahmen das Land grundlegend verändern wird. Die DSM gründete zusammen mit anderen die Sozialistische Partei Nigerias als eine Kraft, die beginnen kann, die prokapitalistischen Parteien herauszufordern und für die Schaffung einer Massenpartei der Werktätigen einzutreten.

Denn die wiederholten vertanen Gelegenheiten bedeuten nicht, dass die Arbeiter*innenklasse schwach ist. Der Generalstreik 2012 war ein Beispiel dafür, wie Arbeiter*innen und Jugendliche eine Bewegung anführen können, die die erforderliche sozialistische Revolution hätte durchsetzen können.

Die EndSARS-Bewegung gab einen Schimmer von dem, was ein Kampf bewirken kann. Ihre Stärke zwang die Regierung, Zugeständnisse zu machen. Aber es ist klar, dass die herrschende Klasse lediglich eine Atempause suchte. Gegenwärtig, da die Bewegung nachlässt, beginnt die Regierung Drohungen auszustoßen. Sie bereitet damit Repression gegen die Proteste vor.

Die Herausforderung besteht nun darin, jeder Repression zu widerstehen, die gewonnenen Errungenschaften zu konsolidieren, die Lehren aus der EndSARS-Bewegung und dem abgesagten Generalstreik vom September zu diskutieren und sich gleichzeitig auf die unvermeidlichen zukünftigen Kämpfe vorzubereiten, um für eine Veränderung der Gesellschaft zu kämpfen.