Ausnahmesituation: Unterricht

Die rasante Zunahme von Infektionen stellt Schulen vor ungeahnte Herausforderungen

Dreimal in der Stunde lüften, Abstand halten, Maske tragen, Verzicht auf Gruppenarbeit und ähnliche Sozialformen – Schulen stehen mitten in der Coronakrise und werden allein gelassen. 

von Steve Hollasky

Seit der ersten Welle von Infektionen mit dem Coronavirus im Frühjahr diesen Jahres, hat sich in den Schulen nicht viel verändert. Nun erleben Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern, dass die zweite Welle in Deutschland weitaus dramatischere Fallzahlen produziert als die erste. Dennoch scheinen die Kultusminister*innen der Länder ratlos. Im Moment erwägt man nicht einmal die Rückkehr zum Wechselmodell. 

Eltern sind sauer

Im Oktober unterbreitete eine Stuttgarter Elterninitiative der Kultusministerkonferenz (KMK) in einem Brief den Vorschlag, die Bildungsminister der Länder sollten ihre „wohltemperierten, klimatisierten Schreibtische oder Konferenzräume“ verlassen und ihre Sitzungen in einem „durchschnittlich großen Klassenzimmer einer durchschnittlich ausgestatteten deutschen Schule“ abhalten. Die Eltern empfehlen den Minister*innen „unbedingt in öffentlichen Verkehrsmitteln“ anzureisen. Sie sollten sich, so der durchaus provokant gehaltene Brief, keine Sorgen machen, es werde regelmäßig gelüftet und ohnehin hätten sich „in keiner Studie“ Bildungsminister als „Treiber der Infektion“ herausgestellt.

Die Zeilen schildern auf satirische Art die Sorge vieler Eltern, die ihre Kinder in voll besetzte Busse und Straßenbahnen setzen und in Schulen mit überfüllten Klassenzimmern unterrichten lassen. Es ist die Angst vor dem Coronavirus. Dass das kaputtgesparte Gesundheitswesen immer mehr an seine Belastungsgrenzen gerät, wird sein Übriges zu dieser Angst dazu tun.

Die Antwort der Minister*innen gab sich verständnisvoll und verwies auf die Bedeutung des Präsenzunterrichts. Mit anderen Worten, es soll so bleiben, wie es ist.

Schüler*innen in Sorge

Wie sehr auch Schüler*innen über die Zustände verunsichert sind, zeigt der vom Stadtschüler*innenrat in Frankfurt/Main organisierte Streik am 30. November. Mehrere hundert Teilnehmende forderten dort nicht nur strengere Hygieneregeln, sondern auch den Übergang zum Wechselmodell. In ihrem größten Kurs sitze sie „mit 27 weiteren Schülerinnen und Schülern“, erklärte Narissa Benguerich, eine der Organisator*innen, der Frankfurter Neuen Presse Ende November. Sie habe „keine 30 Zentimeter Abstand“ zu ihren Nachbarn, beschrieb sie eine Situation, die so oder so ähnlich für die meisten Schulen charakteristisch sein dürfte.  

In Kassel protestiert die Schüler*inneninitiative „unverantwortlich“ und fordert mit einer Fotoaktion die „Einhaltung der empfohlenen Maßnahmen des Robert-Koch-Instituts“ (RKI) und die Installation von Luftfiltern in Klassenräumen als Alternative zum „Dauerlüften“. 

Wer einmal erlebt hat, wie eine ganze Klasse friert, nachdem das dritte Mal in neunzig Minuten gelüftet wurde, kann diese Forderung gut verstehen.

Laut einer Ausgabe des ARD-Magazins Monitor würde die Anschaffung von Luftfiltern für alle Klassenräume gut eine Milliarde Euro kosten. Es sind die häufig bemühten Peanuts, verglichen mit den 200 Milliarden an staatlichen Coronahilfen für deutsche Großunternehmen. 

Überarbeitete Lehrer*innen und Erzieher*innen

Nach einer Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26. November machen sich 65 Prozent der Lehrer*innen Sorgen um ihre Gesundheit. Jede*r vierte Kolleg*in zeige Anzeichen von Burnout und emotionaler Erschöpfung. Zudem fürchten viele Lehrkräften auch, Schüler*innen anzustecken. 

Die Stadt Dresden verringert derweil die Arbeitszeit zahlreicher Erzieher*innen auf 32 Stunden und den Lohn um 20 Prozent – mitten in der Coronakrise!  

Trotz dieser dramatischen Situation übt sich die KMK in Zurückhaltung. Groteskerweise sehen sich jetzt Schüler*innen gezwungen, für die Umsetzung des vom RKI empfohlenen Wechselunterrichts auf die Straße zu gehen. 

Was müsste jetzt passieren?

Das, was Schüler*innen und auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unter anderem mit einer Petition in Hessen, die inzwischen 12.000 mal unterschrieben wurde, fordern, muss sofort umgesetzt werden: Der Übergang zum Wechselunterricht (wenn von Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern gewollt), um damit eine Halbierung der Klassen und Kurse und damit die Einhaltung von Abstand zu ermöglichen. Auch dann bleibt die Ausstattung aller Klassenräume mit Luftfiltern und die Bereitstellung kostenloser Masken für alle Schüler*innen, Lehrer*innen, pädagogisches Personal, Hausmeister*innen und Sekretär*innen unerlässlich. 

Um die Betreuung der Schüler*innen, die nicht am Unterricht teilnehmen, zu gewährleisten, müssen dringend tariflich bezahlte Stellen geschaffen werden. Die bauliche Enge vieler Schulen macht die Nutzung  von Kongresszentren, Hotels für Unterricht und Betreuung erforderlich. So kann auch die Einhaltung von Abstandsregeln ermöglicht werden.

Auf dem Weg hin zur Schule können Abstandsregeln nur eingehalten werden, wenn deutlich mehr Schulbusse und andere öffentliche Beförderungsmittel eingesetzt werden. All das kostet Geld. Geld, das da ist, wenn man bedenkt, dass die Bundesregierung mitten in der Coronakrise für 5,5 Milliarden Euro neue Kampfflugzeuge ordert. Doch eben auch Geld, das wir nur erhalten, wenn wir es gemeinsam erkämpfen. Dafür braucht es die Vernetzung bereits bestehender Eltern-, Schüler*innen- und Lehrer*inneninitiativen. Eine Vernetzung, die gerade die GEW herstellen müsste. Eines der ersten Ziele des Kampfes müsste ein Investitionsprogramm für Bildung sein, mit dem Neueinstellungen von Personal, die Digitalisierung der Bildungseinrichtungen und dringend nötige Gebäudesanierungen ermöglicht werden sollten.

Steve Hollasky ist Lehrer und GEW-Mitglied in Dresden. Der Artikel erschien Anfang Dezember in der “Solidarität” und verarbeitet den aktuellen Lockdown daher nicht.

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