#ZeroCovid – Eine solidarische Kritik

Für eine Corona-Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse mobilisieren

Innerhalb weniger Tage ist es den Initiator*innen gelungen, eine #ZeroCovid-Kampagne zu starten, die das Ziel verfolgt einen grundlegenden Wechsel in der Pandemiebekämpfung zu erreichen. Hunderte Aktive aus linken, gewerkschaftlichen und sozialen Bewegungen haben den Aufruf gestartet, der schon über 30.000 Unterschriften und eine gewisse mediale Aufmerksamkeit erreicht hat. Wir teilen viele der Forderungen, die von der Kampagne vertreten werden und hoffen, dass sie einen Beitrag dazu leistet, die Debatte um die völlig unzureichende und verfehlte Corona-Politik der Bundes- und Länderregierungen in die richtige Richtung zu lenken.

Trotzdem haben wir uns entschieden, den Aufruf nicht zu unterzeichnen, weil wir der Meinung sind, dass Linke und Gewerkschaften einen anderen Ansatz im Kampf gegen die Pandemie und ihre dramatischen Auswirkungen für die Arbeiter*innenklasse, die Jugend und sozial Benachteiligte wählen sollten.

Von Sascha Staničić, Sol-Bundessprecher

Die zentrale Forderung der #ZeroCovid-Kampagne ist es durch einen Shutdown (auch „gesellschaftliche Pause“ genannt), der das Wirtschaftsleben einbezieht, die Zahl der Neuinfektionen auf Null zu senken: „Das Ziel darf nicht in 200, 50 oder 25 Neuinfektionen bestehen – es muss Null sein.“ Die Maßnahmen der Regierungen werden als nicht ausreichend bezeichnet und die These vertreten, dass nur eine kurze Zeit (die jedoch nicht näher definiert wird) nötig sei, um das Ziel von null Neuinfektionen zu erreichen. Es wird gefordert, dass dies auf europäischer Ebene koordiniert geschehen müsse.

Infektionen nachverfolgen

Gleichzeitig heißt es in dem Aufruf auch, die Kampagne setze sich dafür ein, „dass die SARS-CoV-2-Infektionen sofort so weit verringert werden, dass jede einzelne Ansteckung wieder nachvollziehbar ist“. Dabei orientiert sich die Kampagne an dem von Wissenschaftler*innen am 19.12. initiierten Aufruf, der ebenfalls fordert, dass eine Strategie eingeschlagen werden müsse, die die Nachverfolgung jeder einzelnen Infektion zum Ziel hat. Die Wissenschaftler*innen legen das Ziel jedoch nicht bei null Neuinfektionen fest, sondern bei zehn auf einer Million Einwohner*innen pro Tag. Die Bundesregierung wiederum verfolgt dasselbe Ziel, behauptet jedoch, dass eine solche Nachverfolgung laut Expertenmeinung bei fünfzig Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner*innen möglich sei, während Karl Lauterbach die Zahl 25 in die Debatte bringt

Wir können darauf keine wissenschaftlich fundierte Antwort geben und bezweifeln, dass eine solche überhaupt möglich ist – denn wir wissen, dass die Frage der Nachverfolgung von Neuinfektionen nicht nur etwas mit der Anzahl derselben zu tun hat, sondern vor allem auch mit der Arbeitsfähigkeit, und damit Personalausstattung, der Gesundheitsämter und mit der angewandten Teststrategie. Wir sind gleichzeitig skeptisch, dass eine Senkung der Neuinfektionen auf Null, auch noch in einem kurzen Zeitraum, eine realistische Zielsetzung ist, solange nicht der Großteil der Bevölkerung geimpft wurde (in Erwägung, dass die Impfungen einen dauerhaften Schutz bieten). Das Virus vollständig auszumerzen erscheint uns unrealistisch, vor allem aber sind wir der Meinung, dass der Kampf gegen die Pandemie nicht mit Scheuklappen geführt werden sollte, sondern die gesellschaftlichen Folgen, insbesondere die ökonomischen und psychosozialen Folgen für die Arbeiter*innenklasse, die Jugend und sozial Benachteiligte mit bedacht werden müssen.

Solidarischer Shutdown?

#ZeroCovid tut das insofern, als dass die Kampagne einen „solidarischen Shutdown“ fordert und viele wichtige soziale Forderungen aufstellt, die wir teilen, wenn sie uns auch vielfach nicht weit genug gehen.

Aber Forderungen nach Lohnfortzahlung im Falle von Betriebsschließungen durch einen Shutdown, nach Lohnerhöhungen für die Beschäftigten im Gesundheitswesen, nach Rücknahme der Privatisierungen und Schließungen von Krankenhäusern und der Abschaffung des Fallpauschalensystems in denselben sind völlig richtig und stellen wir schon lange auf, wie auch die Forderung danach, dass die Reichen und Vermögenden durch eine Sonderabgabe für die Kosten der Pandemiebekämpfung aufkommen sollen.

Wir teilen aber nicht die Auffassung, dass der Lockdown des Privatlebens, der von den Regierenden verhängt wurde einfach „nicht ausreicht“ und durch einen Lockdown der Wirtschaft erweitert werden muss. Auch wir fordern schon lange, dass alle Wirtschaftsbereiche, die nicht zur Aufrechterhaltung der Grundversorgung nötig sind geschlossen werden sollten und Ausnahmen nur mit Zustimmung der Beschäftigten und bei bestehenden wirksamen Hygienekonzepten erlaubt sein dürfen. Wir sind aber auch der Meinung, dass die Einschränkungen im Privatleben, im Bildungswesen und anderen gesellschaftlichen Bereichen auf der Basis anderer Maßnahmen schon jetzt flexibler gestaltet werden könnten.

Wirkungsvolle Maßnahmen nötig und möglich

Diese Maßnahmen müssten zum einen in Investitionen in Gesundheitsschutz, massenhafte Tests, kostenloser Vergabe von FFP2-Masken, Ausstattung von Schulen, anderen öffentliche Gebäuden und Betrieben mit Luftfiltern, Ausstattung von Bussen und Bahnen mit UV-Filtern, Personalausbau im Gesundheitswesen etc. beinhalten.

#ZeroCovid steht aber für einen „harten Shutdown“ und scheint nicht wahrzunehmen oder bewusst zu ignorieren, welche hohe Belastung der Lockdown jetzt schon für große Teile der Bevölkerung bedeutet und wie groß der Unmut mit vielen der Lockdown-Maßnahmen ist, die oftmals willkürlich, nicht durchdacht und unsinnig sind. Das gilt insbesondere für die Situation von Schülerinnen und Schüler. Hier ist es auch nicht damit getan zu fordern, dass Eltern dann für die Betreuung ihrer Kinder im Homeschooling frei gestellt werden sollen. Die traurige Wahrheit ist, dass viele Familien kein sicherer Platz für Kinder sind, dass viele Eltern kaum in der Lage sind, Homeschooling mit ihren Kindern zu machen, die Wohnverhältnisse und technische Ausstattung digitales Lernen erschweren, dass migrantische Kinder im Erlernen der deutschen Sprache massiv zurückfallen, wenn sie wochen- und monatelang keine adäquate Unterstützung von ausgebildetem Lehrpersonal erhalten – von anderen psychosozialen Folgen ganz abgesehen.

Wir sind der Überzeugung, dass die Linke in der gegenwärtigen Situation konkrete Forderungen in den Mittelpunkt stellen sollte, die zum einen ein wirksames Zurückdrängen des Virus einschließlich der Wiederherstellung der Nachvollziehbarkeit der Infektionsketten zum Ziel haben sollte und andererseits die sozialen und ökonomischen Interessen der Arbeiter*innenklasse und sozial Benachteiligten in den Mittelpunkt rücken. Wir haben das in unserem letzten Artikel und unserem aktualisierten Corona-Programm vom 7. Januar ausführlich dargelegt.

Was fordern?

Aus unserer Sicht sollten Kernforderungen einer Kampagne von Gewerkschaften und Linken sein:

  1. Statt Komplett-Lockdown im Privatleben und Fortsetzung unnötiger Produktion: Schließung aller Fabriken und Betriebe, die nicht zur Aufrechterhaltung der Grundversorgung nötig sind, es sei denn Belegschaften, Gewerkschaften und Betriebsrät*inne stimmen einem Weiterbetrieb auf Basis funktionierender Hygienekonzepte bzw. durch Homeoffice zu; Garantierte Lohnfortzahlung im Falle von Schließungen
  2. Statt gesundheitsgefährdender Schulöffnungen: Voraussetzungen für sicheres und stressfreies Lernen schaffen – Ausstattung aller Schulklassen mit Luftfiltern; Kostenlose Bereitstellung von Masken für alle Schüler*innen und Lehrer*innen; Einstellung von Personal um die Betreuung der Schüler*innen zu gewährleisten, wenn sie nicht am Unterricht teilnehmen können; Nutzung von Kongresszentren, Hotels etc. für diejenigen Schulen, der räumliche Verhältnisse zu beengt sind, um Abstandsregeln einzuhalten; Vervielfachung der Schulbusse, um Abstandsregeln auch beim Schulweg einhalten zu können; Investitionsprogramm Bildung für Lehrer*innen-Neueinstellungen, Digitalisierung, Laptops für alle Schüler*innen, Gebäudesanierung. Auf dieser Basis: Halbierung der Klassen – Entscheidung von demokratisch gewählten Vertreter*innen von Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen über Schulschließungen bzw. -öffnungen und Aussetzen von Prüfungen, Sitzenbleiben und Hochschulzugangsbeschränkungen in diesem Schuljahr
  3. Maximale Beschleunigung der Impfkampagne und Medikamentenentwicklung: Impfstoffe müssen patentfrei sein und dürfen nicht das Privateigentum einiger Weniger sein. Nötig ist jetzt eine unmittelbare Steigerung der Produktion von Impfstoffen unter staatlicher Kontrolle und mit staatlichen Anordnungen. Dazu müssen vorhandene Produktionskapazitäten auf Basis eines Gesamtplans für die Herstellung notwendiger medizinischer Produkte unter staatliche Kontrolle gestellt und eingesetzt werden. Sollten diese nicht ausreichen, müssen unmittelbar staatliche Produktionskapazitäten errichtet werden. Gleichzeitig muss massiv in die Entwicklung eines wirksamen Covid-Medikaments investiert werden – in öffentlicher Hand und auf Basis einer Offenlegung alles Forschungsergebnisse.
  4. Testen, testen, testen: Massive Ausweitung der Corona-Tests. Kombination von flächendeckenden Schnelltests und Labortests. Ausarbeitung und Umsetzung einer verbindlichen Teststrategie, um Risikogruppen, Krankenhaus- und Pflegepersonal, Schüler*innen, Lehrer*innen, Erzieher*innen etc. ausreichend und kostenlos zu testen; Schnelltests für alle, um soziale Kontakte zu ermöglichen – private Labore unter demokratische, öffentliche Kontrolle – Preisobergrenzen für Corona-Tests einführen
  5. Ausbau der Gesundheitsämter und Krankenhäuser: massive Neueinstellungen, die es ohne Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich nicht geben wird; massive staatliche Investitionsprogramme; privatisierte Krankenhäuser in öffentliches Eigentum zurückführen und das Fallkostenpauschalensystem abschaffen
  6. Lohn- und Arbeitsplatzgarantie für alle Beschäftigten; staatliche Unterstützungsprogramme für kleine Gewerbetreibende
  7. Finanzierung aller nötigen Maßnahmen durch die Vermögen der Reichen und die Profite der Banken und Konzerne.

Solidarität mit wem?

Der #ZeroCovid-Aufruf erweckt leider zwangsläufig den Eindruck, dass es nicht die Klassenpolitik der Regierenden im Interesse der Kapitalistenklasse ist, die kritisiert wird, sondern dass die Regierenden mit ihren Maßnahmen nicht weit genug gehen. Dass der Aufruf keinen Klassenstandpunkt einnimmt, zeigt schon die Art und Weise, wie er den Begriff „solidarisch“ verwendet. Mit diesem Begriff werfen bürgerliche Politiker*innen gerade um sich und meinen damit, dass die Arbeiter*innenklasse Einschränkungen und Einkommenseinbußen hinnehmen soll. #ZeroCovid findet es solidarisch, wenn die Reichen eine Corona-Abgabe zahlen sollen. Solidarität ist aber nie eine Einbahnstraße …. welche Solidarität wird dann von den Beschäftigten und Erwerbslosen eingefordert und für wen? Für die Krankenhäuser dann eine „solidarische Finanzierung des Bedarfs“ zu fordern, wird bei Lohnabhängigen eher Alarmglocken läuten lassen – bedeutet solidarische Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme doch nicht zuletzt auch immer einen, wachsenden, Arbeitnehmer*innenanteil. Es geht nicht um Solidarität der Kapitalisten und Superreichen mit den Armen und Ausgebeuteten, sondern um die Durchsetzung einer Politik, die den Reichen nimmt, um der Gesellschaft zu geben. Das geht nur durch Kämpfe und Mobilisierungen.

Die Solidarität macht in dem Aufruf leider auch an den Grenzen Europas halt, wie auch der Kampf gegen die Pandemie. Es wird zwar in allgemeiner Form gefordert, dass Impfstoffe „globales Gemeingut“ sein sollen, aber es wird nicht einmal konkret gefordert, dass die Verteilung der real zu produzierenden Impfstoffe weltweit gerecht verlaufen soll und die Südhalbkugel nicht abgehängt werden darf. Aber auch unabhängig davon wird nur eine europäische Strategie gefordert (ohne zu definieren, was mit Europa gemeint ist). Auch wenn das nicht so gesagt wird, wird aber in den Köpfen vieler Menschen, die den Aufruf lesen, eine Vorstellung entstehen, dass eine erfolgreiche europäische Strategie dazu führen kann, die Grenzen innerhalb Europas offen zu lassen, aber nicht die europäischen Außengrenzen.

Massenmobilisierungen nötig

Wir sind davon überzeugt, dass der #ZeroCovid-Aufruf aus den genannten Gründen einen falschen Ansatz verfolgt und auch keine mobilisierende Wirkung in die Arbeiter*innenklasse ausstrahlen kann, weil er keine Antwort auf die vielfältigen konkreten Probleme der Menschen angesichts des Lockdowns des Privatlebens und des Bildungswesens gibt. Ohne eine Massenmobilisierung der Lohnabhängigen und sozial Benachteiligten ist jedoch eine Korrektur der Corona-Politik undenkbar.

Eine solche wäre möglich, wenn Gewerkschaften und DIE LINKE für eine Corona-Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse, wie wir sie vorschlagen, informieren, organisieren und mobilisieren würden. Da die Führungen in diesen Organisationen dies zur Zeit nicht tun, sollten sich Aktive an der Basis zusammenschließen, Aktionen von unten organisieren und für einen Kurswechsel in ihren Organisationen eintreten.

Gleichzeitig muss klar sein: der Kapitalismus erzeugt nicht nur Pandemien aufgrund des Raubbaus an der Natur, er garantiert auch, dass diese nicht effektiv bekämpft werden und die Arbeiter*innenklasse und die Armen auf der ganzen Welt die Zeche dafür zahlen müssen.

Kapitalismus bekämpfen

Deshalb ist auch dringend nötig, eine Perspektive für eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft aufzuzeigen. Das ist keine Aufgabe, die auf das nächste Jahrhundert verschoben werden darf. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, die Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung auf dem Planeten zu befriedigen, auch nicht die Umwelt zu erhalten.

Das Privateigentum an Energie-, Pharma-, Auto- und anderen Konzernen und Banken, die Profitlogik und Marktkonkurrenz sind die systemischen Ursachen für das Leid auf der Welt und müssen überwunden werden.

Deshalb tritt die Sol für ein sozialistisches Programm zur Bekämpfung der Pandemie ein, das unter anderem die Überführung von Pharmakonzernen und privaten Krankenhäusern in öffentliches Eigentum bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung vorsieht (hier geht es zum Forderungsprogramm der Sol).

Wir erwarten von einer breiten Initiative wie #ZeroCovid zum jetzigen Zeitpunkt nicht, dass sie unsere sozialistischen Schlussfolgerungen teilt, denken aber, dass ein Ansatz der die Corona-Politik deutlich als Klassenpolitik versteht und die Interessen der arbeitenden Klasse in den Mittelpunkt rückt, der sinnvollere wäre als eine solche Fokussierung auf einen harten Shutdown.

Gleichwohl hoffen wir, dass die Initiative dazu beitragen wird, dass die Debatte um eine nötige Korrektur der Corona-Maßnahmen an Fahrt aufnimmt und in die richtige Richtung gelenkt wird – weg von der vermeintlichen Hauptverantwortung der Einzelnen hin zur Verantwortung von Wirtschaft und Politik.

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