Mythos Kronstadt – oder die erfunden Revolution

Über die Kronstädter Rebellion von 1921

Anlässlich des 100. Jahrestags veröffentlichen wir hier eine im Jahr 2011 geschriebene Broschüre von Steve Hollasky über die Kronstädter Rebellion im jungen Sowjetrussland.

Einleitung

Der Kalender zeigte den 31. Mai 1921, selbst der kalte finnische Winter konnte sich nicht mehr gegen das Erwachen des Sommers zur Wehr setzen. Das Eis auf den Flüssen und in den Meerbusen der Ostsee war geschmolzen. An jenem Tag gab ein in armselige Kleidung gehüllter Mann mittleren Alters einen Brief bei der Post von Helsingfors auf. Mit wenigen Worten diktierte er dem Beamten hinter dem Schalter die Anschrift des Umschlags, dann verließ er das wenig einladende Postamt, um im Nebel der Geschichtsschreibung zu verschwinden. Der Mann hieß Stephan Petrichenko, die meisten kennen nur seinen Familiennamen. Er führte die Revolte von Kronstadt, die Klaus Gietinger unlängst zur „Kommune“ adelte.


Der Inhalt seines Schreibens ist bis heute Sprengstoff für die Geschichtsschreibung der Jahre 1917 bis 1923, jene Jahre also, in denen die Sowjetmacht errichtet, bedroht, verteidigt und von der beginnenden stalinistischen Konterrevolution ausgehöhlt wurde.


Petrichenkos Brief wandte sich an einen gewissen Piotr Nikolajewitsch Wrangel, einen konterrevolutionären, „weißen“ General, dessen Männer tausende Arbeiter-Innen und Bäuerinnen und Bauern des jungen Sowjetstaates ermordeten. Warum stand ein erklärter Revolutionär mit einem weißgardistischen Mörder in Briefkontakt? Was hatte ein Anarchist einem Reaktionär zu sagen? Die Antwort auf diese Fragen liegt hinter einer jener Windungen, die die Straße historischer Ereignisse so gern nimmt.

Die Mythen um Kronstadt

„Kronstadt war der erste volksmäßige und ganz unabhängige Versuch einer Befreiung vom Joch des Staatssozialismus – ein direkt vom Volk, von den Arbeitern, Soldaten und Matrosen selbst gemachter Versuch. Es war der erste Schritt zur Dritten Revolution […]“, schließt der russische Anarchist Alexander Berkmann (1870 bis 1936), der zur Zeit der Ereignisse in Kronstadt in Sowjetrussland lebte, seinen Bericht über die Kronstädter Rebellion.


Klaus Gietinger, Drehbuchautor und Verfasser historischer Abhandlungen, beginnt seine siebenteilige Serie über Kronstadt 1997 in der „Jungen Welt“ mit den Sätzen: „Vor 76 Jahren am 16. März 1921 griffen 50.000 Rotarmisten unter General Tuchatschewski die Festung Kronstadt an, in der sich 14.000 Matrosen verschanzt und zweieinhalb Wochen lang zusammen mit der Zivilbevölkerung der Stadt die ‚Dritte Revolution‘ gelebt und verkündet hatten. Es waren jene Matrosen, die von Trotzki einmal als ‚Schönheit und Stolz der Oktoberrevolution‘ gepriesen worden waren, weil sie über drei Jahre zuvor den Bolschewiki zum Sieg verholfen hatten.“ Jene Sätze lassen erahnen, welche Mythen selbst nach nunmehr 90 Jahren das Bild der Ereignisse in Kronstadt überzeichnen oder komplett verfälschen.


Um allen Irrtümern vorzubeugen: Der ehrliche und mutige Kampf ungezählter AnarchistInnen – auch der Alexander Berkmans – gegen Unterdrücker, Tyrannen, Monarchen, Faschisten und Nazis, gegen Kapitalismus und Krieg sollen hier genauso wenig in Zweifel gezogen werden wie die zahlreichen Opfer dieser Kämpfe.

Angesichts der Tatsache, dass sich die Schilderungen der bürgerlichen und anarchistischen Literatur über die Ereignisse in Kronstadt derart ähneln und seit gut 90 Jahren offenkundige Legenden gestrickt und ständig von Neuem wiedergegeben werden, ist auf Seiten der Anarchisten ein offener und streitbarer, statt heroisierender, Umgang mit der Rebellion von Kronstadt geboten. Wenn nun sogar marxistische Gruppen auf den Zug des Herrn Klaus Gietinger aufspringen, der seine Junge-Welt-Serie aus dem Jahr 1997 in neuem Aufguss als Buch präsentiert, so macht das die Notwendigkeit eines fairen Umgangs mit der Politik der Bolschewiki deutlich.

Zeitenwende: Die Oktoberrevolution 1917

Drei Jahre waren vergangen seit der russische Zar die Bauern und Arbeiter zum großen Sterben ins Feld schickte, welches später den Namen erster Weltkrieg erhielt. Beinahe zwei Millionen sollten auf den Schlachtfeldern bleiben. Weit mehr kehrten für immer an Körper und Seele gezeichnet zurück. Der Krieg von 1914 bis 1918 ist bis heute einer der bittersten Auswüchse der kapitalistischen Welt geblieben. Er erschütterte die Legitimität der bürgerlichen Herrschaft für lange Zeit. In ganz Europa erhoben sich Arbeiterinnen und Arbeiter, um für immer eine Welt ohne Kriege, ohne Ausbeutung und Unterdrückung zu schaffen. Doch dies war schon das zweite Kapitel, das erste schrieb man ausgerechnet im unterentwickelten Russland.


Für die Millionen Menschen in Russland war der erste Weltkrieg nur eine weitere Episode der blutrünstigen zaristischen Herrschaft. Erst 1905 ließ der Zar eine Prozession, die zu ihm kam, um ihn um Veränderungen zu bitten, niederschießen. Die zwei Jahre danach wurde das riesige Reich von revolutionären Wellen erschüttert. Schon damals waren die Ereignisse, insbesondere die Bildung von Arbeiterräten, für revolutionäre MarxistInnen wie Rosa Luxemburg ein Hinweis auf die Form, die eine sozialistische Revolution annehmen wird. Der Terror der zaristischen Geheimpolizei „Ochrana“, Armut und Not – gerade auf dem Lande, aber auch in den wenigen, doch immer schneller wachsenden Industriegebieten –, die blutige Niederschlagung der Revolution von 1905 bis 1907 und die Schlächterei des Weltkriegs – all das brachte das Fass zum Überlaufen.

Im März 1917 (laut dem damals in Russland noch geltenden julianischen Kalender Februar 1917) war es soweit: Die Arbeiterinnen in Petrograd – und ihnen folgend ihre Männer – erhoben sich. Überall übernahmen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte die Macht und verjagten die Handlanger des alten Regimes von ihren Posten. Der Zar musste abdanken.

Die provisorische Regierung aus kleinbürgerlichen und rechtssozialistischen Kräften versuchte zu retten, was zu retten war. Selbst den Krieg gedachte sie fortzusetzen. Die Regierung, zuletzt unter Ministerpräsident Kerenski – ein rechter Sozialrevolutionär –, war keineswegs vom Glück verfolgt. Was sie anfasste, misslang ihr. Nicht ohne Grund: Die russischen Massen wollten wirkliche Veränderungen, sie wandten sich mehr und mehr von einer Regierung ab, die auf Seiten der Großgrundbesitzer und der Kapitalisten stand.


Die Forderungen der Massen drückten nach Lenins Ankunft in Russland aus dem Exil vorrangig die Bolschewiki aus. Sie waren nicht einfach die radikalste und entschlossenste Kraft der russischen Revolution. Das allein hätte kaum ausgereicht, um die Macht zu ergreifen. Sie forderten eine Aufteilung des Großgrundbesitzes an landarme BäuerInnen und LandarbeiterInnen, die Übernahme der Betriebe durch die Beschäftigten, das Ende des Krieges und die Übergabe der Macht an die Räte der ArbeiterInnen, Bäuerinnen und Bauern und Soldaten. Und damit vertrat das bolschewistische Programm die Interessen der russischen Bevölkerung.


Der Sturm auf das Winterpalais im November 1917 (laut julianischem Kalender Oktober 1917) war nur der Schlusspunkt eines monatelangen Ringens der Bolschewiki um die Mehrheit innerhalb der Arbeiterklasse und in den wichtigsten Sowjets. Diese eroberten sie in Petrograd, in Moskau, zahlreichen anderen russischen Großstädten und auch im Allrussischen Sowjetkongress. Das revolutionäre Militärkomitee des Petrograder Sowjets eroberte unter Trotzkis Führung die Macht in Petrograd und im Anschluss daran im ganzen Land, um diese an die ArbeiterInnen und Bäuerinnen und Bauern zu übergeben. Sowjetrussland war geboren, die kapitalistische Kette an ihrem schwächsten Glied gerissen. Eine Ermutigung für Millionen Unterdrückte weltweit, selbst für jene, die wesentlich kräftigere Glieder zu sprengen hatten.


Doch trotz der großen Solidarität hatte sich die Sowjetmacht von Beginn an zahllosen Angriffen zu stellen: Konterrevolutionäre Generäle, Invasionstruppen, Anschläge – nicht zuletzt auch anarchistisch gesinnten Kämpfern – auf Repräsentanten des neuen Systems. Ein schrecklicher Bürgerkrieg verwüstete das Land, fraß Ressourcen, verschlang Menschen, erschöpfte die ArbeiterInnen, die TrägerInnen der Revolution.

Das Jahr 1921 hätte eine Atempause in diesem Ringen sein können. Die ersten konterrevolutionären Truppen waren geschlagen. Die Rote Armee errang Stück für Stück die strategische Initiative an allen Fronten zurück. Doch nun erschütterten allerorten Bauernaufstände und Unruhen das Land, ein Ausdruck der enormen Erschöpfung der Massen. Sie waren am Ende ihrer Kräfte, sie hatten es satt. Die weltweite Revolution, auf die man so gehofft hatte und die zunächst auch Wirklichkeit zu werden schien, ließ auch im Jahre Vier nach der Revolution auf sich warten.


In dieser Situation rebellierte vom 28. Februar bis zum 18. März 1921 die Kronstädter Garnison auf der Ostseeinsel Kotlin. Unter dem Matrosen Petrichenko meuterten erst die Besatzungen der Kriegsschiffe Petropawlowsk und Sewastopol und schließlich die ganze Garnison. Bis heute ein umstrittenes Ereignis, vor dem sich 1994 auch Boris Jelzin, vormals überzeugter Stalinist und zeitweise Mitglied des Politbüros der KPdSU, später Präsident im kapitalistischen Russland, verneigte. Umrankt von allerlei Legenden und Mythen, stilisiert zur antikommunistischen, bürgerlichen Freiheitsrevolution oder zur anarchistischen „Dritten Revolution“ – je nachdem, welchem politischen Lager der Betrachter gerade nahe steht.

Doch was sind nun die Mythen von Kronstadt und was steckt hinter ihnen?

Mythos 1: In Kronstadt rebellierten 1921 Jene gegen die Bolschewiki, die sie 1917 unterstützt hatten

Die Kronstädter Garnison konnte sich mit Fug und Recht als Eliteeinheit der Revolution betrachten. In allen wichtigen Kämpfen der Revolution stellte sie die Stoßtruppen. Schon im Juli 1917 nahmen Kronstädter Soldaten an proletarischen Erhebungen in Petrograd teil. Gemeinsam mit den Bolschewiki kämpften sie gegen den Putschversuch des konterrevolutionären Generals Kornilow, und unter Führung Leo Trotzkis halfen sie bei der Ergreifung der Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte.

Schon kurz nachdem die Bolschewiki (gemeinsam mit den linken Sozialrevolutionären) die Regierung Sowjetrusslands bildeten, begannen von allen Seiten konterrevolutionäre Generäle mit eilig zusammengestellten Heeren gegen die revolutionären Zentren zu marschieren. Während ihrer Vorstöße plünderten und mordeten sie. Bald schon befand sich der neue Rätestaat in einem grausamen Bürgerkrieg, an dem sich auch gut ein Dutzend ausländische Regierungen beteiligten. Für Anhänger der Bolschewiki gab es kein Erbarmen. Fielen sie nicht im Kampf gegen die Gegner der Revolution, waren sie dem Zorn der Sieger in der Gefangenschaft ausgeliefert. Ganze Regimenter der neu entstandenen Roten Armee wurden, noch nachdem sie sich ergeben hatten, ausgelöscht.


Obwohl das Gebiet, welches die Rote Armee hielt, im Verlauf des Bürgerkrieges auf einen nur sehr kleinen Bereich um die Städte Moskau, Petrograd und Wolgograd zusammenschmolz, wendeten die revolutionären Truppen im Verlauf des Jahres 1920 das Blatt. Ihr verbissener, heroischer Kampf zwang die zahlenmäßig überlegenen, modern ausgestatteten konterrevolutionären Truppen nacheinander in die Knie. Erst fallen 1919 Koltschaks Brigaden, dann, 1920, schlägt die Rote Armee Judenitsch und Denikin.


Grundlage dieses Sieges war nicht zuletzt das Bündnis zwischen ArbeiterInnen und Bäuerinnen und Bauern. Letztere hatten nicht nur mit ansehen müssen, wie die weißen Horden in eroberten Dörfern und Kleinstädten hausten, sie hatten auch das ihnen durch die Revolution übereignete Land an die alten Großgrundbesitzer zurückgeben müssen, nachdem die Truppen der konterrevolutionären Generäle die revolutionäre Ordnung in ihren Siedlungen gestürzt hatten. Die Wahl fiel ihnen nicht schwer: Auf der einen Seite die weißen Truppen, die ihnen das Land abnahmen und blutige Gräuel an denen verübten, die ihnen das Land gegeben hatten. Der Weg der Bauern zu den Bolschewiki war mit den Knochen von beiden gepflastert.

Die Folgen für das Leben in Sowjetrussland waren unbeschreiblich. Die Industrieproduktion sank auf zwölf Prozent des Vorkriegsniveaus. Der Hunger nahm katastrophale Ausmaße an.

Die weit überwiegende Mehrzahl der Kronstädter Matrosen meldete sich freiwillig zum Kampf gegen die Konterrevolution. Sie waren Regiment auf Regiment in den Krieg geführt worden. Nur wenige revolutionäre Matrosen wurden zurück auf ihren alten Stützpunkt verlegt. Diejenigen, die nicht gefallen waren, übernahmen Kommandos über revolutionäre Einheiten, bildeten sie aus, oder wurden nach Ende der Kämpfe – der Maxime von der Militarisierung der Arbeit folgend – in den wenigen noch intakten Industriebetrieben vor Ort eingesetzt.


Kronstadt vollständig zu entblößen hätte allerdings dessen militärstrategische Bedeutung nicht erlaubt. Mehrmals während der Bürger- und Interventionskriege wurde der Marinestützpunkt Ziel feindlicher Attacken. Beispielsweise 1919, als britische Torpedoschnellboote ein russisches Kriegsschiff versenkten. Nein, Kronstadt musste besetzt werden – und sei es auch mit weniger verlässlichen Truppen. Bald wimmelte es in der Garnisonsstadt von jungen frustrierten Männern, die im Gegensatz zu ihren Vorgängern der Sowjetregierung mit wenig Enthusiasmus gegenüberstanden: Studierende, deren Abschluss durch den langen und harten Bürgerkrieg verhindert wurde. Bauernsöhne, deren Väter über die Getreiderequirierungen ebenso klagten wie darüber, dass sie im Austausch für ihre Lieferungen auf den städtischen Märkten kaum noch brauchbare industrielle Erzeugnisse erhielten.


Je länger der Krieg dauerte, desto mehr wandelte sich Kronstadt von der Heimstätte einer Eliteformation in die Unterkunft einer besseren Wachmannschaft, die sich aus den Angehörigen sozialer Schichten speiste, die den Bolschewiki traditionell wenig aufgeschlossen entgegentraten. Auf seine unverwechselbare Art erkannte selbst der begeisterte Anhänger der Kronstädter Revolte, Volin, diesen Umstand an: »Mit einer Reihe getarnter Maßnahmen beraubten sie [die Bolschewiki – S.K.] Kronstadt seiner besten Kräfte, zogen seine kämpferischsten Elemente ab, um es zu zerbröckeln und schließlich auszulöschen.«1 Was Volins Fantasie übersteigt, war die einfache Einsicht in die Tatsache, dass die Bolschewiki objektiv kein Interesse daran haben konnten, die Kronstädter Garnison zu schwächen. Sie zogen ihre verlässlichsten Truppen ab, um einen ihnen aufgezwungenen Bürgerkrieg möglichst erfolgreich zu führen.

Mythos 2: Die Kronstädter Meuterei als „(Dritte) Revolution“

In diese umkämpfte Zeit platzte jene Versammlung auf den Schlachtschiffen Petropawlowsk und der Sewastopol, wo Petrichenko seine Resolution beschließen ließ. Einen Tag später, am ersten März, füllten circa 15.000 Menschen den Kronstädter Jakornyplatz und verabschiedeten unter dem Protest anwesender KommunistInnen ein 16 Punkte umfassendes Programm, auf dessen Inhalt und auf die Zusammensetzung der Versammlung wir später noch eingehen werden.


Damit begann eine Rebellion, von der es im Sowjetrussland des Jahres 1921 viele gab. Die Tscheka meldete allein über 100 kleinere und größere Unmutsbekundungen der Bäuerinnen und Bauern. Die Sowjetregierung sah sich mit verschiedenen Phänomenen konfrontiert, die allesamt ein- und derselben Grundstimmung entsprangen: Das russische Volk war völlig verausgabt. Drei Jahre Weltkrieg (gut zwei Millionen Tote), Revolution und drei Jahre Bürgerkrieg (acht Millionen Tote), der überdies noch immer nicht enden wollte, forderten ihren Preis.


Hoffte man in den ersten Monaten der Revolution noch, dass der Belagerungszustand durch erfolgreiche Revolutionen in Ungarn, Österreich und besonders in Deutschland durchbrochen werden könnte, war doch spätestens 1920 klar, dass vor allem der Verrat der sozialdemokratischen Führung das Übergreifen der Revolution noch weiter hinauszögern würde. Vorerst würde man mit allen Schwierigkeiten vorrangig allein fertig werden müssen.


Das Ausbluten des Proletariats als Klasse schwächte die Stellung der Bolschewiki noch zusätzlich. Fällt es heute auch schwer, das zu begreifen beziehungsweise in seiner Gänze zu erfassen: Die Arbeiterklasse verschwand einfach weitgehend vom Schauplatz. Mehrheitlich hielten die ArbeiterInnen 1917 zu den Bolschewiki. Somit waren sie auch die Ersten, die an die Front eilten, um die konterrevolutionären Heere zu stoppen.

Sie bildeten militärische Verbände aus oft im Kampf gänzlich unerfahrenen KommunistInnen. Scharenweise fielen sie den erprobten und von ausländischen Regierungen unterstützten weißgardistischen Armeen zum Opfer und wurden selbst noch in der Gefangenschaft abgeschlachtet. Allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 1918 halbierte(!) sich die Zahl der russischen ArbeiterInnen. Die Überlebenden waren über ganz Russland verstreut. Die Sozialstruktur Russlands hatte sich vollkommen verändert: Nicht nur die revolutionärsten und am besten ausgebildeten ArbeiterInnen waren gefallen; Die Arbeiterklasse an sich war zu großen Teilen vernichtet worden.

Nicht nur der Einfluss der Bolschewiki innerhalb der russischen Bevölkerung musste so zwangsläufig sinken, was es ihnen unmöglich machte, der um sich greifenden Frustration entgegen zu wirken. Sie mussten nun auch noch das Kunststück vollbringen, ein neues Proletariat zu herauszubilden, um die industrielle Produktion anzukurbeln und aus diesem Milieu neue Aktivisten zu gewinnen. Den Prozess, der unter kapitalistischen Verhältnissen in Deutschland gut 70 Jahre, von den preußischen Reformen bis zur Bildung der SPD, gedauert hatte, mussten die Bolschewiki im Zeitraffer ablaufen lassen, wollten sie das Land nicht auf ewig dem Hunger und dem Elend preisgeben.


Unter diesen Umständen erschien die Militarisierung der Arbeit alternativlos, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und den revolutionären Staat zu verteidigen. Bauernregimenter kamen nach dem Ende der Kampfhandlungen nicht wieder in ihre Heimatgebiete, sondern wurden an Ort und Stelle in Betriebe geschickt. Sie mussten fernab der Heimat Arbeiten verrichten, die sie nicht beherrschten und nicht machen wollten. Sie lebten mit Hunger und Mangel – konnte es etwas Frustrierenderes geben?


Streiks wurden ausgerufen. Ermüdete Regimenter, die noch immer um die Befreiung Sibiriens rangen, verweigerten Befehle, murrten, weigerten sich zu kämpfen. Kann man es ihnen verdenken – nach sieben Jahren Krieg? Bäuerliche Kleinbetriebe verweigerten die Getreideabgaben. Erstmals seit der Niederlage der weißen Heere in Westrussland schien es die klare Frontstellung – entweder Bolschewiki und Land oder Weißgardisten und alte Besitzverhältnisse – nicht mehr zu geben. Bäuerinnen und Bauern glaubten vielfach, sie könnten sich der Politik der Bolschewiki widersetzen, ohne der Konterrevolution automatisch zu helfen.


Unter diesem Gesichtspunkt: Was war da Kronstadt anderes als eine weitere Unmutsbekundung unter vielen? Was waren die Ereignisse in der Garnisonsstadt anderes als eine Meuterei einer militärischen Einheit in Divisionsstärke?


Wie sollten die Bolschewiki darauf reagieren? Die Ablieferungspflicht der Bauern abschaffen und damit die Stadtbevölkerung dem sicheren Hungertod ausliefern? Die Streiks erdulden und den ArbeiterInnen eine bessere Versorgung garantieren, wenn man doch gleichzeitig die Bauern von der Abgabepflicht befreit hatte? Militärische Einheiten an strategisch bedeutsamen Punkten rebellieren lassen, wenn man doch mitten im Bürgerkrieg stand?


Was hätte das Bündnis „Dresden nazifrei“ am 19. Februar 2011 tun sollen, wenn eine Gruppe von 30 DemonstrantInnen, die berechtigte Kritik an der Organisation der Blockaden äußern, mitten in den Auseinandersetzungen mit Polizei und Nazis die Übertragung der Demoleitung gefordert hätten? Aufgeben? Auf Probe die Leitung der Blockaden übergeben? Hätten die Anarchisten das richtig gefunden?

Mythos 3: Das demokratische Kronstadt und die undemokratischen Bolschewiki

Die Forderung der Kronstädter nach Demokratisierung der Sowjets, gekleidet in die Worte der „Sowjets ohne Bolschewiki“, mutet umso komödiantischer an, wenn man sich genau ansieht, wie „demokratisch“ die angebliche „Kommune von Kronstadt“ selbst war.

Stephan Petrichenko war weder Mitglied des gewählten(!) Kronstädter Sowjets, in dem die Bolschewiki die Mehrheit hielten, noch wurde er im Verlauf der knapp dreiwöchigen Ereignisse durch irgendein Gremium je demokratisch legitimiert. Gewiss, das Provisorische Revolutionäre Exekutivkomitee wählte Petrichenko am 3. März zum Vorsitzenden, doch dieses Komitee wurde auf einer selbst von Anhängern der Kronstädter Rebellion als chaotisch geschilderten Versammlung per Zuruf ernannt. Abstimmung, oder Wahl? Fehlanzeige!

Wie war das mit der Pariser Kommune, mit der die Kronstädter wiederholt verglichen wurden, zuletzt von Klaus Gietinger? Mitten im Bürgerkrieg mit den feindlichen Versaillern organisierten die Kommunarden von Paris in nur acht Tagen Wahlen! Eigentlich sollten sie bereits früher stattfinden, aber die Kommunarden hofften auf eine Verhandlungslösung mit den Versaillern, so verschoben sie die Wahlen mehrmals.


Dass es ein Fehler war, den Kommunerat zu diesem Zeitpunkt zu wählen, weil dies von den tatsächlichen Aufgaben – Sturz der Regierung, Organisation des Aufstandes im ganzen Land – ablenkte, ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend. Außerdem war die Erhebung an sich durch die Massen, die an ihr teilnahmen, legitimiert und durch das demokratisch gewählte Zentralkomitee der Nationalgarde. Diese revolutionäre Streitmacht wählte die Befehlsgeber der Einheiten demokratisch. Derartig legitimiert waren die Kronstädter Komitees und Troikas – sofern es sie wirklich gab, denn auch das ist umstritten – nie.

Mythos 4: Kronstadt als Ausdruck der Erhebung in Petrograd

Am 1. März 1921 verlas auf dem Jakornyplatz in Kronstadt eine Abordnung von Matrosen, die Petrograd besucht hatten, ihren Bericht. Dieser „[…] bestätigte die schlimmsten Befürchtungen Kronstadts. Die Versammlung sprach ihre Entrüstung über die Methoden der Kommunisten bei der Niedertretung der bescheidenen Forderungen der Petrograder Arbeiter unverhohlen aus.“ Diese Zeilen verdanken wir Alexander Berkmann, dessen ganzer „Bericht“ über Kronstadt in jeder Zeile die Weisheit des Zeitzeugen atmet. Eines Zeitzeugen allerdings, der nie in Kronstadt war und sich auch nach den Tagen der Revolte nie mit einem der Teilnehmer unterhielt. Sein ganzes Wissen über Kronstadt ist zusammengekratzt aus Gerüchten, zwei Ausgaben der Zeitung der Kronstädter und insgesamt drei weiteren Dokumenten.

Posthum verwandelte er die kollektive Befehlsverweigerung der Kronstädter Garnison in einen Akt der Solidarität mit den Streikenden in Petrograd: „Die Matrosen von Kronstadt wurden durch die Petersburger Vorgänge sehr aufgeregt. Sie betrachteten die drastische Behandlung der Streikenden durch die Regierung mit finsteren Blicken. […] Die Matrosen waren in Geist und Tat durch und durch revolutionär, sie waren die festesten Stützen des Sowjetsystems, aber sie waren Gegner der Diktatur irgendeiner politischen Partei.“ Volin und jüngst Klaus Gietinger folgten seinem Beispiel.

Und wie revolutionär es war, die Streikenden in Petrograd zu unterstützen, liest man am besten an den Forderungen der Streikenden ab: „Wir wissen, wer sich vor der Konstituierenden Versammlung fürchtet. Das sind die, die nicht länger imstande sein werden, das Volk zu plündern. Statt dessen werden sie sich vor den Volksvertretern zu verantworten haben für ihren Betrug, ihre Räubereien und all ihre Verbrechen. Nieder mit den verhassten Kommunisten! Nieder mit der Sowjetregierung! Es lebe die Konstituierende Versammlung!“


War das die Revolution, die Kronstadt wollte? Diese „Revolution“ war nichts anderes als das, was man in Sowjetrussland seit drei Jahren unter riesigen Opfern bekämpfte. Es war ein „Rollback“ in Richtung eines bürgerlichen Staates. Eine Absage an das mit dem Blut ungezählter ArbeiterInnen und Bäuerinnen und Bauern verteidigte Sowjetsystem.

Es war die Konterrevolution unter dem Deckmantel pseudo-demokratischer Forderungen. Es war der Ruf nach dem bürgerlichen Parlamentarismus. Denn – und das darf insbesondere im Vergleich zur gesellschaftlichen Situation Sowjetrusslands unter dem Stalinismus nicht vergessen werden – die Not der Bevölkerung erwuchs nicht aus einer Bereicherung der Führung der bolschewistischen Partei, die 1921 noch nicht von materiellen Privilegien korrumpiert war.


Berkmann, und mit ihm all die anderen Kronstadt-Apologeten, loben die Kronstädter für ihren Akt der Solidarität mit diesen Streiks, obwohl sie deren Forderungen kannten. Berkmann zitiert sie selbst in seiner Arbeit und bezeichnet sie sogar als „reaktionär“.

Wenn aber die Kronstädter Rebellen im Endeffekt „reaktionäre“ Forderungen unterstützten, waren sie dann nicht selbst auch Teilnehmer einer reaktionären Erhebung?

Tatsache ist, wenn die Kronstädter die Streiks in Petrograd unterstützten, ihre Forderungen anerkannten, dann waren sie keine Revolutionäre! Wenn sie sich hingegen von diesen abgegrenzt hätten, müssten Berkmann, Volin und Giesecke einräumen, dass Kronstadt mitnichten über eine urbane Basis verfügte. Beides wäre störend: Für den herbeigeschriebenen Heroismus der Kronstädter ebenso wie für die Argumentation gegen die Bolschewiki.

Für dieses offenkundige Problem findet sich in der Pro-Kronstadt-Literatur eine sehr einfache und ebenso plumpe Rechtfertigungsstrategie. Berkmann macht es vor. Ohne auf das beschriebene Spannungsverhältnis einzugehen, postuliert er einfach: „Die Matrosen waren in Geist und Tat durch und durch revolutionär, sie waren die festesten Stützen des Sowjetsystems, aber sie waren Gegner der Diktatur irgendeiner politischen Partei.“ Wasch mir den Pelz, aber vermeide es bitte, mich dabei auch nur anzufeuchten!

Mythos 5: Die Bolschewiki haben Petrograd „gekauft“

So ganz scheint aber selbst erklärten Kronstadt-Bewunderern diese lapidare Floskel nicht zu genügen. Selbst Klaus Gietinger muss zugeben, dass es nach dem Ende der Streiks in Petrograd und dem damit verbundenen Verschwinden der reaktionären Forderungen absolut ruhig blieb. Und das obwohl – wie auch Gietinger einräumt – die Straßenblockaden aufgehoben wurden, der polizeiliche Druck also nachließ.


Argumentativ beginnen die Pro-Kronstadt-Literaten spätestens an dieser Stelle zu schwimmen, denn nachdem jene Streiks zur Durchsetzung klar reaktionärer Forderungen beendet waren, erhob sich in Petrograd niemand mehr. Kronstadt blieb isoliert. Es war nicht so, wie gern dargestellt, dass aufrechte Revolutionäre aus Petrograd den Schulterschluss mit Kronstadt gesucht hätten. Wenn überhaupt, so gab es eine politische Nähe zwischen Petrograd und Kronstadt während der verhängnisvollen Tage im Februar und März 1921 nur während der Zeit der reaktionären Streikbewegung. Das zu erklären vermag keiner der Kronstadt-Freunde!


Also benötigt man auch hier eine Strategie zur Reparatur des eigenen Weltbilds, und diesmal verdanken wir sie Klaus Gietinger. „[Es wurden] für mehrere Millionen Rubel Lebensmittel im Ausland gekauft und nach Petrograd geschafft. Sogar Schokolade, für Rußland schon immer ein absoluter Luxus, war dabei.“ Die Folge laut Gietinger ganz logisch: „Die Bolschewiki hatten ihr erstes Etappenziel erreicht. Das Proletariat von Petrograd reichte den Rebellen auf der Insel Kotlin nicht die Hand […]“


Sehen wir einmal davon ab, dass die Bolschewiki auch in den Jahren des Bürgerkrieges bei jeder Beruhigung der Situation versucht haben, die Versorgungslage zu verbessern und allein das eine Erklärung für die Erhöhung der Lebensmittelrationen war. Sehen wir einmal davon ab, dass das Ausbleiben einer Erhebung der Petrograder auf der Seite der Kronstädter mit dem einfachen Gemüt der BewohnerInnen dieser Stadt begründet wird. Nach dem Motto: Erst das Fressen, dann die Moral. Sehen wir einmal davon ab, dass die Kronstädter als moralisch höher stehend dargestellt werden, denn sie hatten ja begriffen, gegen wen man zu kämpfen hatte, während sich die leichtgläubigen Petrograder täuschen, ja bestechen ließen.


Stellen wir einfach nur die Frage: Was taten die Kronstädter? Da sie Militärangehörige waren, fielen ihre Rationen größer als die der Bevölkerung aus – auch das aus der Logik des aufgezwungenen Bürgerkrieges geboren. Sie versprachen daher den Petrogradern Lebensmittelspenden. War das ein Akt der Nächstenliebe oder der Versuch die Petrograder zu kaufen?

Welch eigenartiges Bild vermitteln die Kronstadt-Liebhaber doch von den EinwohnerInnen Petrograds, die schon so viele Entbehrungen auf sich genommen hatten, um die Revolution siegen zu sehen: Sie ließen sich scheinbar von den Bolschewiki „kaufen“, weil die eben sogar Schokolade boten. War der Preis der revolutionären Petrograder so niedrig?


Ganz nebenbei schlägt Berkmann übrigens ein anderes Vorgehen der Kronstädter betreffs der Nahrungsmittelfrage vor. Diese seien eben wie die Kommunarden 1871 viel zu weichherzig gewesen. Sie hätten ruhig verschiedene Forts besetzen sollen, in denen Getreide lagerte, um ihre eigene Versorgung zu sichern. Nur, dieses Getreide war für Petrograd und für die umliegenden Städte gedacht. Die Aufforderung, diese Forts zu besetzen, kommt der Aufforderung zu einer Hungerblockade gleich. Welch „libertärer“ Geist doch den Herren Berkmann beseelte!

Mythos 6: Die guten Kronstädter und die hinterhältigen Bolschewiki

Die Versammlung am 2. März 1921 beschloss auch, dass eine 30-köpfige Kommission nach Petrograd reisen sollte, um die beschlossenen Forderungen der Petrograder Bevölkerung vorzustellen. Gesagt, getan: Die Matrosen reisten in die Sowjetmetropole und wurden dort prompt verhaftet.


Ein Aufschrei erfüllt die libertäre und bürgerliche Literatur: Wie kann man nur! Diese Methode war den Kronstädtern übrigens nicht fremd. Bereits an jenem 2. März nahmen sie neben Kalinin, der zu Verhandlungen nach Kronstadt gekommen war, Kusmin und Wasiljew, den Vorsitzenden des regulär gewählten Kronstädter Sowjets, fest und griffen so als erste zum Mittel der Verhaftungen. „Mehr Kommunisten aber auch nicht!” beeilen sich die Kronstadt-Freunde zu sagen, und wissen, dass sie damit lügen, denn Fakt ist: Ein Kommunist, der sich weigerte sein Parteibuch zu zerreißen, fand sich sehr schnell im Kronstädter Kerker wieder.


Die Petrograder Bolschewiki reagierten mit Sippenhaft und erklärten, wenn ihren Genossen in Kronstadt ein Leid geschehe, so werde dies Konsequenzen für die festgenommenen Kronstädter haben.


Eine erste Eskalation, allerdings betrieben durch die Kronstädter! Dennoch machten die Petrograder ein zweites Verhandlungsangebot und boten an, eine Abordnung des örtlichen Sowjets zu entsenden, um sich über die Lage in Kronstadt zu informieren. Da den Bolschewiki klar war, dass zwischen ihnen und der Garnison von Kronstadt jedes Vertrauensverhältnis zerrüttet war, boten sie sogar an, parteilose Sowjetmitglieder zu schicken. Die Antwort aus Kronstadt kam über Morsegerät: „Der Parteilosigkeit eurer Parteilosen trauen wir nicht. Wir schlagen vor, dass aus den Betrieben und aus den Kreisen der Rotarmisten und Matrosen Vertreter der Parteilosen in Anwesenheit unserer Delegierten gewählt werden. Außerdem könnt ihr noch 15 Prozent Kommunisten schicken.“

Die Kronstädter lehnten das zweite Verhandlungsangebot mittels unerfüllbarer Gegenforderungen ab, dennoch meint Gietinger, die Bolschewiki trügen die Verantwortung für das Scheitern der Verhandlungen. Wieso stellt Gietinger nicht die Frage, warum die Kronstädter zwar auf der freien Wahl von Sowjets bestanden, dergleichen aber in Kronstadt selbst nicht durchführten? Wieso hinterfragt Gietinger diese Doppelmoral nicht, angesichts der Forderung nach Neuwahl von Deputierten in Petrograd unter Überwachung durch Kronstädter Matrosen? Warum stellt er nicht einfach die Frage, welche Handlungsalternativen den Bolschewiki angesichts der brüsken Zurückweisung des Verhandlungsangebots noch blieben? Weil dann die Ereignisse in Kronstadt in einem anderen Licht erscheinen würden!

Übrigens waren die Bolschewiki in den Anfangstagen der Revolte sogar zu weitgehenden Zugeständnissen bereit. Wie Gietinger selbst feststellt, fuhr täglich ein Laster durch die Straßen Petrograds, der Flugblätter und Zeitungen der Kronstädter an die Bevölkerung verteilte. Derartige Zugeständnisse gab es auf Seiten der Kronstädter nicht, sie verboten jede kommunistische Propaganda in den Grenzen der Garnisonsstadt.

Mythos 7: Die Kronstädter hatten keine Verbindung zur weißen Konterrevolution

„Die Matrosen werden sich einmütig den Aufständischen anschließen, wenn eine kleine Gruppe mit einer Reihe entschlossener und schneller Aktionen in Kronstadt die Macht ergreift. Eine solche Gruppe, die zu den energischsten Aktionen fähig und bereit ist, wurde inzwischen unter den Matrosen gebildet.” Diese Worte aus einem Memorandum eines weißen Emigranten, des Professors Zeidler, erschienen Anfang Februar 1921, also gut vier Wochen vor Beginn des Aufstands. Sie lassen deutliche Zweifel an der Darstellung aufkommen, die Führer des Kronstädter Aufstandes hätten keine Verbindung zu den Kräften der Weißen gehabt. Das Memorandum breitet im Weiteren militär-strategische Pläne für den Fall einer erfolgreichen Erhebung in Kronstadt aus und sinniert über die überlegene Bewaffnung Kronstadts.

Etwa zur selben Zeit veröffentlichte die Berliner Exilzeitung geflohener Kadetten (konstitutionelle Monarchen), der „Ruf“, einen Artikel, in dem ein Aufstand in Kronstadt innerhalb der nächsten Wochen angekündigt wird. Zufall? Vielleicht. Man darf nicht vergessen, dass weiße Emigranten gern derartige Gerüchte streuten, um sich psychologisch aufzubauen, um die Bolschewiki zu verwirren, oder weil auch sie Gerüchten aufgesessen waren.


Dennoch bleibt der Tatbestand, dass Petrichenko nach seinem Austritt aus den Bolschewiki mehrfach versuchte, mit weißgardistischen Organisationen Kontakt aufzunehmen. Diese hatten eine Zusammenarbeit wegen seiner früheren Mitgliedschaft in den Bolschewiki stets abgelehnt. All dies sind Fakten, die ein anarchistischer Autor, der US-amerikanische Historiker Avrich, zusammentrug! Sie mögen Berkmann und Volin nicht bekannt gewesen sein, als sie ihre Arbeiten über Kronstadt veröffentlichten; Gietinger hätte sie kennen müssen, doch er hielt am Mythos von der durch und durch revolutionären Erhebung in Kronstadt fest. Er geht sogar so weit, den ehemals zaristischen General Koslowski, der eine führende Rolle im Aufstand spielte, indem er zum entschiedenen Vorgehen gegen die Kommunisten aufrief, als völlig unschuldig an den Ereignissen in Kronstadt zu bezeichnen. Auch dies eine offensichtliche Lüge, die Avrich bereits 1970 entlarvt hatte.


Selbst in der Zeit des Aufstandes kamen von Seiten der Führung der Aufständischen bestenfalls halbherzige Versuche, sich von den konterrevolutionären Weißen zu distanzieren. Bereits in den ersten Tagen des Aufstandes entboten die rechten Sozialrevolutionäre, die ganz offen und gerade heraus mit konterrevolutionären Generälen wie Denikin und Wrangel paktiert, ihre Truppen mit aufgebaut und mit ihnen gekämpft hatten, Unterstützungsangebote an die Kronstädter: „Die Sozialrevolutionäre Delegation im Ausland […] im jetzigen Augenblick, wo der Becher des Volkszorns überfließt, bietet an, mit all ihren Mitteln zu helfen im Kampf für Freiheit und Volksregierung. Teilt mit, welcher Art Hilfe gewünscht wird. Es lebe die Volksrevolution! Es leben die freien Sowjets und die Konstituierende Versammlung!“


Was war Petrichenkos Reaktion darauf? Ein klares Nein? Ein „lasst uns zufrieden, wir stehen ganz klar auf der Seite der Revolution, deshalb haben wir mit Weißgardisten nichts am Hut? Wir lehnen die Konstituierende Versammlung als bürgerlich-kapitalistisches Parlament ab, wir wollen die Sowjets“? Ein „Wir Anarchisten haben mit pro-kapitalistischen Kräften wie Euch nichts zu schaffen“? Nein, Petrichenko schickte eine andere Antwort an Tschernow, den Führer der rechten Sozialrevolutionäre: „Das Provisorische Revolutionäre Komitee von Kronstadt drückt all unseren Brüdern im Auslande seine tiefe Dankbarkeit für ihre Sympathie aus. Das Provisorische Revolutionäre Komitee ist dankbar für das Angebot des Genossen Tschernow, aber es hält sich für jetzt zurück, das heißt, bis die Entwicklung sich klarer abzeichnet. Einstweilen wird alles in Erwägung gezogen werden.“ Petrichenko sah sich nicht bemüßigt den konterrevolutionär agierenden Weißgardisten eine klare Absage zu erteilen – die hätte anders ausgesehen.

Mythos 8: Das Programm der Kronstädter war revolutionär

Im Grunde hatten die Forderungen der Kronstädter drei Stoßrichtungen: Pseudo-demokratische (1, 2, 3, 4), Einschränkung des Einflusses der Bolschewiki und die Duldung kapitalistischer Eigentums- und Produktionsformen, was durch eine Beendigung des Zwangsabgabensystems begleitet sein sollte. Auch hier fiel die enorme Verflechtung zwischen massenwirksamen Ideen wie Demokratisierung des Sowjetsystems und klar kleinbürgerlichen Forderungen nach kapitalistischen Versatzstücken in der Wirtschaft auf. Ein abstraktes, im Endeffekt pro-kapitalistisches Programm, welches am 6. März durch die Forderung „Sowjets ohne Bolschewiki“ ergänzt wurde.

Dieser Satz jedoch war schon seit 1917 eine grundlegende Forderung der Konterrevolution gewesen. Begründet wurde dies von Kronstädter Seite mit dem Aussetzen der Sowjetwahlen durch die Bolschewiki, die auf diese Weise ihre Mehrheit in den meisten Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten zementierten. Offenkundig verstießen sie damit gegen den von ihnen selbst im April 1917 formulierten Grundsatz, nach dem die Sowjets jederzeit wähl- und abwählbar sein sollten. Die Bolschewiki taten dies inmitten des Bürgerkrieges. Sie waren im ganzen revolutionären Russland die einzige Gruppierung, die rückhaltlos den Gedanken eines Rätesystems verteidigte. Menschewiki und Sozialrevolutionäre wollten bürgerlich-kapitalistischen Parlamentarismus.

Hätten sie, was angesichts der Frustration innerhalb der russischen Bevölkerung wahrscheinlich schien, die Wahlen zu den Sowjets gewonnen, so hätten sie ihre neugewonnene Mehrheit nur dazu genutzt, die Sowjets abzuschaffen. Somit entschlossen sich die Bolschewiki schweren Herzens, für die Zeit des Bürgerkriegs die Wahl zu den Sowjets auszusetzen.


Freie Sowjetwahlen zu fordern war formal richtig und auch innerhalb der Bolschewiki eine oft zu hörende Forderung, aber unter den konkreten Bedingungen hätte die Umsetzung derselben das Ende der Räte bedeutet, denn es bestand keine in den Betrieben zusammen gefasste Arbeiterklasse, die solche freien Wahlen hätte mit Inhalt füllen können. Genau das drückten die Sozialrevolutionäre in der oben erwähnten Note an Kronstadt aus, wenn sie von „Sowjets und Konstituierender Versammlung“ sprachen. Dies hätte bedeutet, die Staatsmacht an eine bürgerliche konstituierende Versammlung abzugeben und die Sowjets zu Mitbestimmungsorganen vergleichbar deutscher Betriebsräte zu machen. Sie hatten sich mehr als einmal als Feinde der Sowjets erwiesen.


Kronstadt wollte ein Ende der Getreideablieferungspflicht und mehr privaten Spielraum für bäuerliche Betriebe sowie eine Zulassung der privat-kapitalistischen Kleinproduktion. Doch die Städte hatten aufgrund des Niedergangs der Industrieproduktion dem Land nichts zu bieten. Sie hätten also kein Getreide gegen andere Produkte tauschen können. Die Erfüllung dieser Forderung hätte zu einer weiteren Verschärfung der russischen Hungerkatastrophe geführt. Verbunden mit den anderen Forderungen Kronstadts hätten nur die Kulaken (Großgrundbesitzer) profitiert. Ihr Besitz wäre gewachsen, während ringsum Millionen in Hunger und Elend hätten dahinsiechen müssen. Dies alles vor dem Hintergrund von Sowjets, die in der Hand pro-kapitalistischer Gruppen gewesen wären, hätte nur zu einer Restauration des Kapitalismus führen können.


Das bäuerlich-kleinbürgerliche Programm der Kronstädter war in letzter Instanz konterrevolutionär, weil es der konkreten Situation keine Rechnung trug, sondern die Interessen einzelner Bevölkerungsschichten über die Interessen der Verteidigung der Revolution stellte.

Mythos 9: Die auf Basis der Forderungen geeinten Kronstädter

Im Jahre 1921 lebten in Kronstadt gut 60.000 Menschen. Etwa ein Viertel von ihnen waren Matrosen und Soldaten. Liest man Volin, Berkmann oder Gietinger, so erhält man den Eindruck, dass die 45.000 anderen BewohnerInnen der Garnisonsstadt komplett hinter der Revolte standen. Nach allem, was man heute weiß, ist das nicht haltbar. Der Großteil der zivilen EinwohnerInnen Kronstadts beteiligte sich weder an den Zusammenkünften der meuternden Matrosen und Soldaten, noch später an den Kampfhandlungen.

Schon an der Versammlung vom 2. März auf dem Jakornyplatz nahmen kaum ArbeiterInnen teil. Sie standen abseits und dem Geschehen eher skeptisch gegenüber. Als fast die gesamte Garnison Kronstadts bei Ende der Kämpfe ins finnisches Exil floh, blieben sie in Kronstadt und wurden auch nicht Opfer irgendwelcher Repressionen seitens der Geheimpolizei Tscheka, eines während des Bürgerkriegs gegründeten Komitees mit Sonderbefugnissen, welches Anschläge und konterrevolutionäre Terrorakte gegen Zivilisten und gewählte Sowjetrepräsentanten verhindern oder wenigstens aufklären sollte.

Mythos 10: Das an Kronstadt verübte Massaker

Am 7. März, nach Ablauf des von den Bolschewiki gestellten Ultimatums, versuchte das erste Mal ein Aufgebot aus 25.000 Rotgardisten Kronstadt im Sturm zu nehmen. Der Angriff wurde von Tuchatschewski geführt und war ein unbeschreibliches Desaster! Die Rotarmisten gingen ohne jede Deckung über offenes Eis vor. Sie waren leichte Beute für die Kronstädter Maschinengewehre.


Wie oft hatte die Besatzung der Garnisonsstadt von den roten Soldaten in ihrer Propaganda als ihren Brüdern gesprochen. Doch was sich in den Stunden des Angriffs auf dem Eis abspielte, zeigte, was hinter diesen Schwüren stand. Die Kronstädter ließen ihre Schiffsartillerie aufs Eis feuern, damit es brach. Tausende Rotarmisten ertranken im nur wenig über Null Grad kalten Wasser. Wer vorwärts lief, wurde Opfer der Kronstädter Gewehre. Das Massaker an den Rotgardisten und Bolschewiki dauerte über Stunden.


Und dennoch erhoben sie sich immer wieder. Formierten sich neu, stürmten vor, obwohl die Kälte durch jede Ritze ihrer Uniformen drang. Diese bejammernswerten Kreaturen, nicht die Kronstädter, waren die wirklichen Verteidiger der Sowjetmacht. Sie waren die Kämpfer für eine neue Welt, doch sie ließen ihr Leben zu tausenden auf dem Eis vor Kronstadt. Selbst den Abtransport der Verwundeten verhinderte das Sperrfeuer der Kronstädter.


Wer noch immer daran zweifelte, dass Trotzki diesen Angriff nicht führte, der musste sich im Angesicht dieses Kampfes davon überzeugen lassen. Eine derart verbrecherisch-dumme Angriffstaktik hätte Trotzki niemals gewählt. Er, den seine Gegner im Bürgerkrieg auch gern den „Fuchs“ nannten.


Immer wieder stürmten Rotarmisten in den nächsten Tagen gegen die Festung. Doch erst am 16. März, unter dem Einsatz von 50.000 Soldaten und 320 Delegierten des zehnten Parteitages (was zeigt, dass die Parteifunktionäre zu diesem Zeitpunkt noch keine abgehobene und privilegierte Schicht darstellten) und horrenden Verlusten gelang der Einbruch in die Linien der meuternden Garnison, wo die Kämpfe am 18. März auf den Schiffen endeten, wo die Erhebung begonnen hatte.

Wie viele überzeugte Kommunisten waren diesem Massaker zum Opfer gefallen? Wie wichtig wären sie in den nächsten Jahren gewesen, in denen es nicht nur um weitere Kämpfe im Bürgerkrieg, oder den Aufbau des Landes, sondern ganz konkret um den Kampf gegen die sich formierende stalinistische Konterrevolution ging? Mehr als 10.000 Rotgardisten und Bolschewiki waren gefallen. Auf Seiten der Kronstädter waren die Verluste wesentlich geringer: 600 Gefallene, etwa 2.000 Verwundete und 2.500 Gefangene.


Bis heute wehklagen die Pro-Kronstadt-Literaten über den Blutzoll der Meuterer, sprechen gar von einem Massaker, verübt durch die Bolschewiki, nach Ende der Kämpfe. Beweise konnten sie für dieses „Massaker“ nicht vorlegen. Szenen wie nach der Niederlage der KommunardInnen in Paris spielten sich in Kronstadt nicht ab. Ein Abschlachten der Zivilisten, die sich ohnehin so gut wie gar nicht an der Rebellion der Garnison beteiligt hatten, gab es durch die Rote Armee nicht.
Wenn es ein Massaker gab, dann war es jene Art der Kriegsführung auf dem Eis zwischen Petrograd und Kronstadt, verübt von den Meuterern in der Garnison!

Mythos 11: Die übergelaufenen Rotarmisten

Zu jeder Revolution zählt der Zusammenbruch der bewaffneten Macht der Herrschenden. Zweifelsohne war dies auch für den Sieg der Februarrevolution von Bedeutung. Soldaten und ArbeiterInnen verbrüderten sich und auch 1871 in Paris liefen Soldaten auf die Seite der Pariser ArbeiterInnen und Nationalgardisten über. Also, schlussfolgern die Pro-Kronstadt-Autoren, muss dies ja wohl auch bei der „Revolution“ von Kronstadt der Fall gewesen sein.


Allen voran Gietinger und Berkman sprechen gern von den übergelaufenen Rotarmisten. Die Tatsachen sprechen hingegen eine andere, ernüchternde Sprache: Ein Bataillon der Roten Armee war tatsächlich übergelaufen. Es bestand aus Soldaten, die einst für Denikin, einen konterrevolutionären General, gekämpft hatten. Wie bestialisch waren doch die Bolschewiki! Exekutierten sie die konterrevolutionären Soldaten? Warfen sie sie ins Lager? Nein, sie reihten sie in die Rote Armee ein.


Dennoch, derartige Einheiten – und es gab einige von ihnen – blieben stets unzuverlässig. Und so nahm eine von ihnen die erstbeste Gelegenheit wahr und lief auf die Seite der Kronstädter über.


Folgten ihrem Beispiel andere Einheiten? Nein. Selbst Gietinger muss einräumen, dass beim zweiten großen Sturmangriff keine Rotarmisten mehr überliefen. Er tut es allerdings auf seine ganz eigene Art: „Doch diesmal blieben die Soldaten taub [für die Parolen der Kronstädter – S.K.] – manche verstanden vermutlich nicht einmal die russische Sprache […]“ Weshalb russische Soldaten der russischen Sprache nicht mächtig gewesen sein sollten bleibt indes Gietingers Geheimnis. Aber wahrscheinlich war ja auch dieser Umstand dem „verderblichen Einfluss“ der Bolschewiki geschuldet!


Doch fragen wir mit dem gesunden Menschenverstand: Warum hätten Rotarmisten überlaufen sollen zu einem Gegner, der zwar von Brüderlichkeit sprach, aber das Eis unter ihnen brechen und sie so ertrinken ließ? Wieso hätten sie zu einem Gegner überlaufen sollen, der eine Streikbewegung unterstützt, die konterrevolutionäre Losungen aufstellt?

Mythos 12: Die Kronstädter, die Kommunarden Sowjetrusslands

Wir haben schon viel zu diesem Punkt gesagt. Nur eines sei noch ergänzt. Petrichenko und Koslowski waren keine Kommunarden! Was geschah mit den KommunardInnen, die 1871 den ersten Arbeiterstaat errichteten? Sie wurden nach einem heldenhaften Kampf von den konterrevolutionären Truppen Versailles dahingeschlachtet.

Louis Eugene Varlin, der tapfere Linksproudhonist, der sich den Ideen von Marx und Engels sehr weit angenähert hatte, kämpfte auf den Barrikaden bis zum letzten Tag der Kommune. Am 28. Mai, nach Ende der Kämpfe, wurde er erschlagen. Dombrowski, der schlaue polnische Militär, kämpfte an der Seite der französischen ArbeiterInnen und bezahlte das mit seinem Leben. Louise Michel, die aufrechte Anarchistin, die den Abtransport der Kanonen aus Paris durch die konterrevolutionären Soldaten verhinderte, wurde mehrmals angeboten ihre Haftstrafe zu verkürzen, wenn sie doch nur öffentlich von den Ideen der Kommune abschwören würde – sie lehnte ab.


Was war mit den Führern der Kronstädter? Während ihre Mitstreiter noch kämpften, waren Petrichenko und Koslowski mit 8.000 meuternden Matrosen über das Eis nach Finnland geflohen. Sie begaben sich in ein Land, in dem unter der Herrschaft einer grausamen Militärdiktatur Kommunisten verfolgt und ermordet wurden.


Ist es ein Verbrechen, wenn sich Revolutionäre im Angesicht einer drohenden Niederlage in Sicherheit bringen? Bezeugt Lenins Flucht vor der Verfolgung durch die Behörden der provisorischen Regierung dessen fehlende moralische Integrität? Keineswegs. Wenn RevolutionärInnen sich der Ermordung durch die Konterrevolution entziehen, so ist dies, als wenn ein General seine unterlege Truppe zurückzieht, um an anderer Stelle unter besseren Bedingungen von Neuem zum Angriff vorzugehen. Denn ein/e RevolutionärIn stellt nach der Flucht den Kampf gegen Unterdrückung nicht ein.

Viel zu wenigen KommunardInnen gelang die Flucht aus Paris oder das Finden eines sicheren Verstecks. Welch ein Blutzoll! Welche Opfer! Wie wichtig wäre jeder einzelne Kommunarde für den Kampf für eine neue Welt noch gewesen. Doch auch jene KommunardInnen, denen die Flucht gelang, waren der Verfolgung der Konterrevolution ausgesetzt, lebten in ärmlichen Verhältnissen und mussten sich vor der Polizei der herrschenden Klasse eines anderen Landes verbergen.


Wirkliche RevolutionärInnen sind nirgends wirklich sicher. Nach seiner zwangsweisen Ausbürgerung aus der UdSSR führte Trotzkis Odyssee den einstigen Oberbefehlshaber der Roten Armee über den halben Globus bis nach Mexiko, wo er von einem Agenten Stalins ermordet wurde. Überall war er der Willkür der Herrschenden ausgesetzt.


Die Pariser KommunardInnen hatten 1871 nach ihrer Niederlage nur die Wahl zwischen ihrem Tod und der Flucht. In Ruhe leben war für sie zur Unmöglichkeit geworden. Anders jene Meuterer, die Gietinger zu den Kommunarden von 1921 macht. Sie flohen nach Finnland, einem Land wo sich zahlreiche Konterrevolutionäre versammelt hatten. Sie lauerten auf ihre Chance zum Umsturz in Sowjetrussland. Zaristische Generäle, kapitalistische Unternehmer, Großgrundbesitzer hofften auf ihre Rückkehr. In diesem Klima waren KommunistInnen Freiwild. Verfolgt von den finnischen Behörden lebten sie in der Illegalität.


Und was war mit den Kronstädtern? Wurden sie als „wirkliche“, als anarchistische Revolutionäre verfolgt? Weit gefehlt. Sie lebten ohne Probleme oder Angst vor Verfolgung in Finnland. Sollen das Kommunarden sein?

Kronstadt, eine Warnung an die Bolschewiki

Dennoch war Kronstadt stets mehr als nur ein reaktionärer Putsch. Die Vorgänge auf der Insel Kotlin vor Petrograd offenbarten, wie ermattet das russische Volk war. Wie gering der Einfluss der Bolschewiki geworden war und dass es so nicht weitergehen konnte. Der Kriegskommunismus war nicht mehr vermittelbar. Insofern war der Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik auch ein Zugeständnis an die Rebellen von Kronstadt. Die Bolschewiki ließen teilweise kapitalistische Eigentums- und Produktionsformen zu und nahmen alle damit in Verbindung stehenden Risiken in Kauf. Eine solche Politik war aber nur denkbar unter einem Staat, der diese nur als vorübergehende Maßnahme betrachtete und sich die Verteidigung der durch die Revolution geschaffenen neuen Machtverhältnisse auf die Fahne geschrieben hatte. Trotzdem war die Neue Ökonomische Politik ein Faktor, der die stalinistische Konterrevolution in Sowjetrussland erleichtern sollte.


Doch schon 1921 war der Zustand von Partei und Staat von schweren Deformationen gekennzeichnet, wenn auch noch nicht entschieden. Die Verflechtung von Partei- und Staatsapparat war schon weit gediehen. Die Entscheidung zum Sturm auf die Festung wurde nicht etwa im Rat der Volkskommissare, also der Sowjetregierung, sondern im Politbüro der Bolschewiki getroffen. Da die kommunistische Partei mehr und mehr im Staat aufging, wurde es ihr unmöglich, die Bürokratisierung desselben zu verhindern.


Der Aufstieg einer kleinen, bürokratischen und privilegierten Schicht hatte begonnen. Sie entzog sich schon 1921 oft genug der Kontrolle durch die ArbeiterInnen und auch dem Einfluss Lenins, Trotzkis und anderer revolutionärer Führer. Die Bolschewiki, durch die Anstrengungen der letzten Jahre ausgedünnt und durch politisch unerfahrene und karriereorientierte Schichten durchdrungen, verwandelten sich von einer Vereinigung von entschiedenen RevolutionärInnen in ein Werkzeug der aufsteigenden Bürokratie. Mit Hilfe der sich verändernden Partei transformierten sie Sowjetrussland entsprechend ihrer Interessen und sicherten ihre Privilegien gegen jeden Widerstand der ArbeiterInnen und Bäuerinnen und Bauern ab.


Lenin und Trotzki sahen diese Probleme und führten in den nächsten Jahren einen Kampf gegen dieses Phänomen. Doch die Bürokratie sollte gewinnen.


Ach ja, der Brief


Der Brief, den Petrichenko an Wrangel sandte, enthielt eine Darlegung der politischen Ideen der Aufstandsleitung. Es ging ihm darum Anschluss an eine weiße (!) Emigrantengruppe zu bekommen. Was Petrichenko vorschwebte, war eine Art „Volksfront gegen die Bolschewiki“, an der die gemäßigten sozialistischen Parteien und die Reaktionäre beteiligt sein sollten. In diesem Brief sagte Petrichenko ganz offen, dass die Losung „alle Macht den Räten und nicht den Parteien“ ein, und das wörtlich, „politisch bequemes Manöver“ sei, welches den Sturz des Sowjetsystems einleiten sollte. Mehr muss man zu den Kronstädter Ereignissen nicht sagen!

Glossar

Ablieferungspflicht der Bäuerinnen und Bauern:

Durch den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft im Zuge des ersten Weltkriegs und der Bürger- und Interventionskriege lag die sowjetrussische Industrie zu großen Teilen brach. Da sie nicht mehr in der Lage war, die Bäuerinnen und Bauern im Austausch für landwirtschaftliche Erzeugnisse mit Industrieprodukten zu versorgen, kollabierte die Lebensmittelversorgung der Städte. Daher legte die Sowjetregierung 1918 eine Ablieferungspflicht für Bäuerinnen und Bauern fest. Diese waren somit verpflichtet, einen Teil ihrer Erzeugnisse ohne Gegenleistung an die Stadt abzuliefern. Behalten durften sie lediglich Produkte für den Eigenbedarf plus einen Anteil zur Reservenbildung. Dieses System war bei den Bäuerinnen und Bauern äußerst unbeliebt. Auch Lenin und Trotzki waren sich darüber im Klaren, dass die Industriealisierung den Austausch dringend wieder ankurbeln musste, um das restriktive Ablieferungsprinzip zu tilgen.

Erwähnte Forderungen der Kronstädter im Wortlaut (Mythos 8), zitiert nach: Berkman, Alexander: „Die Kronstadt-Rebellion“, www.anarchismus.at, Stand 02.09.2011.:

„1. Angesichts der Tatsache, dass die gegenwärtigen Sowjets den Willen der Arbeiter und Bauern nicht ausdrücken, sofort neue Wahlen mit geheimer Abstimmung abzuhalten, wobei die vorherige Wahlkampagne volle Agitationsfreiheit unter den Arbeitern und Bauern haben muss.

2. Rede- und Pressefreiheit einzuführen für Arbeiter und Bauern, Anarchisten und linksstehende sozialistische Parteien.

3. Versammlungsfreiheit für Arbeitergesellschaften und Bauernorganisationen zu sichern.

4. Eine parteilose Konferenz der Arbeiter, Soldaten der Roten Armee und Matrosen von Petrograd, Kronstadt und der Petrograder Provinz für nicht später als den 10. März 1921 einzuberufen.“

Kriegskommunismus:

Von den Bolschewiki selbst verwendete Bezeichnung der Phase der wirtschaftlichen Entwicklung von 1918-1921. Sie zeichnete sich einerseits durch ausgewiesen sozialistische Maßnahmen aus (Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, Bodenreform, Fabrikkomitees leiten die Produktion), andererseits aber auch aus der Not der Situation heraus geborene Dekrete und Vorschriften (restriktive Arbeitspflicht, Ablieferungspflicht für Bäuerinnen und Bauern). Die Phase des „Kriegskommunismus“ endete mit der Einführung der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NÖP).

Troika (in Abschnitt „Mythos 3“):

Eigentlich russischer Typus von Pferdegespannen, wobei gleichzeitig drei Pferde einen Wagen ziehen und dabei von einem Pferd geführt werden. Hier: Dreierausschüsse, die in der Zeit der Kronstädter Rebellion die Kommandohoheit über militärische Einheiten der Kronstädter übernommen haben. Nach Darstellung der Kronstädter wurden sie von den Mannschaftsdienstgraden gewählt. Die Aussagen der vor Ort befindlichen Bolschewiki ziehen dies jedoch in Zweifel. Wahrscheinlich wurden die Troikas von den maßgeblichen Protagonisten der Rebellion ziemlich willkürlich zusammengestellt.

Tscheka:

(Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage). Gegründet nach der Oktoberrevolution 1917, ursprünglich, um den Streik der zaristisch gesinnten Beamtenschaft zu beenden, hatte das Komitee im Zuge des um sich greifenden Bürgerkrieges die Aufgabe Terrormaßnahmen der Konterrevolution gegen ZivilistInnen und RevolutionärInnen zu unterbinden. Erst während der stalinistischen Konterrevolution pervertierte die Tscheka und wurde dann zum Kampf gegen oppositionelle KommunistInnen und Stalin-GegnerInnen eingesetzt. In dieser Zeit wuchs der Apparat der Tscheka sprunghaft an. Bestand er 1918 noch aus 600 Leuten, so standen Ende der 20er Jahre bereits mehrere hunderttausend MitarbeiterInnen im Dienst der Tscheka.

Verwendete Literatur

  • Berkman, Alexander: „Die Kronstadt-Rebellion“, www.anarchismus.at, Stand 02.09.2011.
  • Brauns; Nick (2006): „Tragisches Dilemma“, in: Verlag 8.Mai GmbH [Hrsg]: „Junge Welt“, Berlin: 25.02.2006, S. 13.
  • Der Funke [Hrsg.]: „Der Matrosenaufstand von Kronstadt 1921“, www.derfunke.at, Stand 02.09.2011
  • Dom, F.; Geyer, C. (Hrsgg.): „Kronstadt. Texte von Lenin, Trotzki und Serge“,Köln: ISP-Verlag, 1981.
  • Gietinger, Klaus: „Die Kommune von Kronstadt“, Berlin: Die Buchmacherei, 2011.
  • Internationale Sozialisten [Hrsg.]: „Kronstadt und die Machno-Bewegung“, ohne Angabe von Autor, Verlag und Erscheinungsjahr.
  • Trotzki, Leo: „Das Zetergeschrei um Kronstadt“, www. marxists.org, Stand 02.09.2011.
  • Ders.: „Streitschrift über Kronstadt“,www.marxists.org, Stand 02.09.2011.
  • Volin: “Der Aufstand von Kronstadt”; Unrast: Münster, 1999.
  • Wright, John G.: „The truth about Kronstadt“, www. Marxists.org, Stand 02.09.2011.

1Volin: Die unbekannte Revolution II