20 Jahre ver.di – eine kritische Bilanz

Organisatorische Maßnahmen können politische Probleme nicht lösen

Dieser Tage wird in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) der Gründung der Organisation vor zwei Jahrzehnten erinnert. Was ist von den damaligen Hoffnungen geblieben?

Von Torsten Sting, Rostock, Betriebsrat und ver.di-Vertrauensmann*

Im Jahre 2001 fusionierten fünf Gewerkschaften mit unterschiedlichen Traditionen. Die ÖTV war mit Abstand die größte der Beteiligten und organisierte in erster Linie die Kolleginnen und Kollegen im Öffentlichen Dienst, aber auch die Beschäftigten der Häfen, Airlines usw.. Klein, aber mit kämpferischer Tradition ausgestattet war die IG Medien, die im Bereich der Drucker*innen zusammen mit der IG Metall die 35-Stunden-Woche in den 1980ern erkämpft hatte. Die Deutsche Postgewerkschaft (DPG) und die HBV, die den Bereich des Handels und der Versicherungen abdeckte, rundeten jene Gewerkschaften ab, die sich unter dem Dach des DGB zusammengeschlossen hatten. Hinzu kam die Deutsche Angestellten Gewerkschaft (DAG), die einer anderen, konservativeren Tradition entsprang und getreu ihrem Namen, nur angestellte Beschäftigte organisierte aber keine Arbeiter*innen in der Produktion. Dies war eine Quelle von Konflikten in den Betrieben gewesen und die DAG wurde zu Recht von vielen Aktiven als Spaltergewerkschaft angesehen. Mit der Fusion war unter anderem die Hoffnung verbunden, dass dieses Problem nun überwunden werde und die insgesamt drei Millionen Mitglieder umfassende, neue Großorganisation so stark sei, dass sie den Arbeitgebern ordentlich kontra geben könne.

Hintergrund der Fusion

Ausgangspunkt des Zusammenschlusses war eine Schwächung der Gewerkschaften in Deutschland und international. Der Zusammenbruch des Stalinismus 1989/90 hatte eine politisch-ideologische Offensive der herrschenden Klasse zur Folge. Jeder Bezug zu einer Vorstellung wie die Gesellschaft jenseits von Privateigentum an den Produktionsmitteln funktionieren könnte, stand unter heftigem Beschuss. Davon betroffen waren nicht nur explizit linke, sozialistische Organisationen, sondern auch die Gewerkschaften, die bis dahin einen staatlichen Sektor in der Wirtschaft verteidigten. Es gab von der Führung zunehmend ein Nachgeben gegenüber diesem Druck der Kapitalist*innen und Grundsatzpositionen flogen über Bord. So wurden Privatisierungen bisweilen entweder unterstützt oder unkritisch „begleitet“. Dies hatte zum einen zur Folge, dass viele Mitglieder der Gewerkschaften politisch desorientiert wurden und die Gefahren, die mit dieser Entwicklung einher gingen, immer wieder nicht erkannten.

Zum anderen gab es in Folge dessen den Abbau von Hunderttausenden Arbeitsplätzen, zum Beispiel bei der Deutschen Post, die in drei Teile zerschlagen wurde – Gehälter, Sozialleitungen und Arbeitsbedingungen wurden deutlich verschlechtert. Am Schluss dieser Entwicklung stand der Verlust von vielen Mitgliedern sowie die organisatorische und politische Schwächung der Gewerkschaften, die sich gesellschaftlich zunehmend in der Defensive befanden.

Die Globalisierung der Finanzmärkte und der Produktion übte zudem einen objektiven Druck auf die erkämpften gewerkschaftlichen Standards aus. Die Erpressung mit einer möglichen Abwanderung nach Osteuropa oder China war häufig genug kein Bluff. Die neoliberale Offensive mit Steuersenkungen für die Reichen und Sozialabbau führte auf staatlicher Ebene zum Aushungern der Haushalte und setzte die Gewerkschaften auch von dieser Seite aus unter Druck. Zusammenfassend kann man feststellen, dass die althergebrachten Methoden der Gewerkschaftsführungen, die bis zur Wende 1989/90 im Rahmen des sozialpartnerschaftlichen Modells dazu führten, dass es nennenswerte Zugeständnisse des Kapitals in einem bestimmten Rahmen gab, nicht mehr funktionierte. Dass lag auch daran, dass parallel zur Rechtsverschiebung der Gewerkschaften, sich die SPD hin zu einer bürgerlichen Partei entwickelte, die immer mehr ihre historischen Bindungen zur Arbeiter*innenklasse kappte und zunehmend eine neoliberale Politik betrieb, an dessen Ende die Agenda 2010 stand: Der größte Angriff auf die sozialen Sicherungssysteme und damit auch auf die Rechte der Gewerkschaften.

„Einheit“ als Allzweckwaffe?

Alle Gewerkschaften hatten viele Mitglieder und Einfluss verloren, nun sollte also die Vereinigung von fünf einzelnen Organisationen zu einer Großen, die finanziellen Probleme überwinden und so den Apparat finanzieren und damit letztlich wieder an politischer Schlagkraft gewinnen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dieser Tage mal wieder eine Organisationsreform ein großes Thema ist in der deutschen Gewerkschaftsbewegung und es erneut zu einer Fusion kommen wird. Mit einem Unterschied zu damals: Diesmal findet dieser Prozess in ver.di selbst statt. In den letzten zwanzig Jahren hat die Organisation knapp eine Million Mitglieder verloren und wieder mal soll eine Umstrukturierung das Problem lösen. Doch die letzten zwei Jahrzehnte sind schon Beweis genug für die alte Erkenntnis, dass politische Probleme nicht mit organisatorischen Maßnahmen gelöst werden können. Kommt die Zusammenlegung der Fachbereiche so wie geplant, wird dies zur Folge haben, dass sich die Mitglieder in der Großorganisation noch weniger wiederfinden und der Kontakt der Gewerkschaftssekretär*innen zur Basis weiter leiden wird. Die Aussichten, neue Mitglieder von der gewerkschaftlichen Sache zu begeistern werden schlechter und damit droht sich die Negativspirale zu verstetigen, wenn sich nicht die politische Ausrichtung von ver.di verändert.

Politische Probleme

Unter den oben geschilderten Gegebenheiten wird es zunehmend schwierig mit sozialpartnerschaftlichen Methoden erfolgreich zu sein. Dennoch überwiegen in weiten Teilen der Gewerkschaften in Deutschland und auch in ver.di noch immer diese Vorstellungen. Als die Agenda 2010 mit aller Konsequenz von dem damaligen Kanzler Schröder (SPD) durchgezogen wurde, war es die typische Haltung am Anfang dieses Prozesses „das Schlimmste“ zu verhindern. Eine hohe Funktionärin von ver.di war Teil der Hartz-Kommission, die die Blaupause für Schröder lieferte. Als sich dann die Proteste gegen die Agenda 2010 entwickelten, haben alle Gewerkschaftsführungen die Chance vertan, durch einen ernsthaften Widerstand das Projekt zu stoppen. Am 3. November 2003 gab es eine von unten organisierte Demonstration von 100.000 Menschen, zu der unter anderem Mitglieder der heutigen Sol die Initiative ergriffen hatten und auch eine Unterstützung, wenn auch keine ernsthafte Mobilisierung, durch ver.di erreichten. In den Wochen und Monaten danach gab es die Montagsdemos gegen Hartz IV und im April organisierten die Gewerkschaften eine Massenmobilisierung von Hunderttausenden – und das war’s. Davon hat sich die Schröder-Regierung und die sich hinter ihr versammelte herrschende Klasse, natürlich nicht stoppen lassen. Nötig wäre es gewesen mit Aktionen während der Arbeitszeit, bis hin zu einem eintägigen Generalstreik, massiven, wirtschaftlichen Druck zu entwickeln. Das hätte aber eine grundlegende Konfrontation mit dem „Sozialpartner“ und eine von oben wohl möglich kaum mehr zu kontrollierende Massenbewegung zur Folge gehabt. Und diese Entwicklung machte der Gewerkschaftsführung mehr Angst, als eine Niederlage, an deren Ende das drastische Wachstum von Leiharbeit und Niedriglöhnen stand. Diese Niederlage wirkt aber bis heute nach, hat sie doch gesellschaftlich und in den Betrieben, dass Kämpfen erschwert. Als Folge der Agenda 2010 haben wir heute in vielen Firmen verschiedene Beschäftigungsformen nebeneinander: Fest angestellte Kolleg*innen, befristet Beschäftigte, Werkverträge und Leiharbeit.

Lichtblicke

Dennoch gibt es Entwicklungen, die Mut machen. Zum Beispiel die verschiedenen Arbeitskämpfe in den Krankenhäusern. Noch vor knapp zehn Jahren haben es viele Gewerkschaftsfunktionäre*innen nicht für möglich gehalten, dass man dort für einen Streik mobilisieren könnte. Insbesondere die Erfahrungen an der Charité in Berlin haben in der Praxis bewiesen, dass es geht. Eine Lehre dieser Entwicklung war aber auch, dass dies kein Selbstläufer war, sondern aktive Linke und Sozialist*innen in ver.di einen entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hatten.

Opposition aufbauen

Umso wichtiger ist es daraus Schlussfolgerungen für die gesamte Organisation zu ziehen. Erfolgreiche Kämpfe sind möglich, auch zu Zeiten der Corona-Pandemie. Dafür ist aber Druck von unten nötig. Damit sich dieser auch durchsetzen kann, müssen sich kritische Kolleginnen und Kollegen an der Basis zusammenschließen. Dafür gibt es mit dem Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di, sowie der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG), wichtige Bezugspunkte.

Grundlegende Alternative nötig

Darüber hinaus, brauchen wir auch in den Gewerkschaften wieder grundlegende Debatten über die wirklichen Ursachen der Misere. Sei es der skandalöse Umgang mit der Corona-Pandemie durch die Bundesregierung, die großen Missstände im Gesundheitswesen, Umweltschutz der gegen Arbeitsplätze ausgespielt wird, die zunehmenden Gegensätze zwischen Arm und Reich – es gibt eine gemeinsame Ursache der Probleme und diese trägt den Namen Kapitalismus. Historisch waren immer jene Kolleginnen und Kollegen die entschiedensten und erfolgreichsten Kämpfer*innen in den Gewerkschaften, für die klar war, dass dieses System nicht das Ende ist, sondern der Ausgangspunkt für eine wirklich demokratische Gesellschaft sein muss, die den menschlichen Bedürfnissen gerecht wird und den Namen Sozialismus zu recht tragen wird.

  • * = Funktionsangaben dienen nur zur Kenntlichmachung der Person
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