Zum Kampf gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes
Vorbemerkung: Dieser Artikel erschien in englischer Fassung am 9. März auf socialistworld.net und in gekürzter Fassung in der März-Ausgabe der Solidarität. Aufgrund eines technischen Fehlers wird er erst heute auf solidarität.info veröffentlicht. Seit der Erstveröffentlichung hat die Bewegung gegen das Abtreibungsgesetz in Polen an Dynamik verloren und es finden zur Zeit keine großen Proteste mehr statt.
Trotz des eisigen Wetters und der wütenden Pandemie protestierten in Polen erneut Tausende Frauen, Männer und LGBT-Menschen gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts. Ein ähnlicher Angriff auf die reproduktiven Rechte der Frauen konnte 2016 durch Massenproteste zurückgeschlagen werden. Nun geht der Kampf in die zweite Runde. Die Proteste sind eine Chance für eine starke und breite Offensive gegen die rechte PiS-Regierung – doch die Beschränktheit der Führung der Bewegung ist eine Bremse.
Von Aleksandra Setsumei, Aachen
Am 22. Oktober fiel das Urteil, das die Proteste auslöste: Das von der PiS dominierte Verfassungsgericht entschied, dass Abtreibungen aus Sorge vor schwerer Schädigung des Fötus verfassungswidrig sind. Damit wird das bereits harte Abtreibungsrecht in Polen weiter eingeschränkt. Tage danach gingen Hunderttausende Pol*innen auf die Straße. Bis dato war eine Abtreibung nur dann straffrei, wenn die Schwangerschaft in Folge einer Straftat (zum Beispiel einer Vergewaltigung) entstand, wenn die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr war oder wenn der Fötus voraussichtlich von schwerer Behinderung betroffen sein würde. Gerade der dritte Fall ist der Grund von 98 Prozent der circa eintausend jährlich legalen Abtreibungen, die in Polen durchgeführt werden. Damit werden Frauen weiter in die Illegalität getrieben, denn selbstverständlich wird das Gesetz nichts an der Realität ändern, dass Pol*innen nach Schätzung zwischen 80.000 und 200.000 Abtreibungen jährlich durchführen – illegal oder im Ausland.
Berechtigterweise löste die Verschärfung Entrüstung in breiten Teilen der Bevölkerung aus. Der Angriff auf die reproduktiven Rechte der Frauen stellt den nächsten Schritt der rechtspopulistischen PiS-Regierung dar, Frauen zurück in die Rolle der Mutter am Herd zu degradieren. Die Empörung spiegelt sich unter anderem in dem vorherrschenden Slogan „Wypierdalać“ wider, der als „Verpisst euch!“ übersetzt werden kann. Dies verdeutlicht, dass sich die Wut der Protestierenden nicht nur gegen das neue Gesetz, sondern auch generell gegen die Politik der PiS richtet. Trotz harter Repressionen haben sich landesweit Hunderttausende Pol*innen an Protestaktionen beteiligt. Die Demonstration in Warschau am 30. Oktober war mit den 100.000 Teilnehmenden eine der größten Demonstrationen in der Hauptstadt seit dem Zusammenbruch des Stalinismus.
Der Staat antwortet mit harten Repressionen. Die Polizei geht brutal gegen Protestierende vor. Friedlich Demonstrierende werden auf den Boden gedrückt oder mit Schlagstöcken zusammengeschlagen. Es gibt den Einsatz von Tränengas, Schikanen und Verhaftungen. Im November hat ein Fall Schlagzeilen gemacht, bei dem die Polizei die Wohnung eines 14-jährigen stürmte, weil dieser zuvor einen Aufruf zum Protestspaziergang auf Facebook geteilt hatte. Die Polizisten warfen dem Teenager vor, ein Organisator illegaler Versammlungen zu sein, und drohten mit einer Strafe von bis zu acht Jahren Gefängnis. Doch gerade diese fast absurden Ausmaße von Repressionen verdeutlichen die Schwäche der PiS sowie ihre Furcht vor Massenprotesten und -widerstand.
Macht der PiS
Trotz ihrer chauvinistischen Politik wird die rechtsradikale PiS-Partei weiterhin von einem großen Teil der Pol*innen unterstützt. PiS kam 2015 an die Macht, nachdem die vorige neoliberale PO-Regierung mit einem Angriff auf die Rentenversicherung Wut ausgelöst hatte. Die PiS hat mit ihren sozialen Versprechungen – unter anderem die Rentenreform zurückzunehmen – Unterstützung in breiten Schichten gewinnen können. So ist die PiS als erste Partei seit dem Zusammenbruch des Stalinismus in Polen mit einer absoluten Mehrheit in das Parlament eingezogen. Und dann geschah etwas, das viele nicht erwartet hatten: Die PiS tat, was sie versprochen hatte. Sie hat das Rentenalter gesenkt, Kindergeld von 500 Zloty (circa 110 Euro) eingeführt und den Mindestlohn erhöht. Damit stellt die PiS die erste polnische Regierung seit 1989, die zumindest einen Teil ihrer sozialen Versprechen erfüllt.
Dabei darf man keine Illusionen über den Charakter der PiS haben: Diese sozialen Maßnahmen setzte sie nicht deswegen um, weil sie eine soziale Partei ist. Im Gegenteil, sie hat in ihrer Regierung 2005 bis 2007 bewiesen, dass sie eine Partei der Banken und Konzerne ist. Die Maßnahmen sind Zugeständnisse an die polnische Arbeiter*innenklasse. Um sich an der Macht zu halten, wendet die PiS eine Mischung aus sozialen Maßnahmen, Nationalismus, Repression und Spaltung an. Dabei spielt insbesondere die Hetze gegen LGBT-Personen und Polarisierung der politischen Debatte entlang kultureller Fragen eine wichtige Rolle. Des Weiteren kann die PiS auf die Unterstützung der Kirche und leider auch der ehemals kämpferischen, aber religiösen und nationalistischen Gewerkschaft Solidarność zählen.
Das Fehlen einer linken Alternative
Dass die PiS ihre Unterstützung über so lange Zeit aufrechterhalten kann, ist unter anderem Folge der schwachen Opposition und insbesondere des Fehlens einer kämpferischen, linken Alternative. Die einzige Partei, die in Polen als links bezeichnet werden kann, ist die 2015 gegründete Partei Razem („Gemeinsam“). Diese begann jedoch den Fehler, ein Teil des Bündnisses Lewica („Die Linke“) zu werden. Neben Razem besteht Lewica aus der ex-stalinistischen, sozialdemokratischen SLD, die durch jahrelange Regierungspolitik diskreditiert ist, und der linksliberalen Partei Wiosna („Frühling“).
Das Wahlbündnis versagt vollständig, eine attraktive Alternative zum PiS-Regime anzubieten. Statt die Bedürfnisse der polnischen Arbeiter*innen wahrzunehmen und sie mit dem Kampf gegen Diskriminierung zu verbinden, wiederholt Lewica nur die leeren Phrasen der Liberalen, die an abstrakte Rechte appellieren. Diese identitätspolitische Handhabung führt zu einer Polarisierung der Debatten an falschen Fragen. Gerade deshalb kann sich die PiS als die Vertretung der „kleinen Leute“ und der Familien darstellen.
Viele Menschen wählen die PiS nicht vor allem aus Zustimmung zu ihren repressiven, demokratiefeindlichen oder sexistischen Ansichten, sondern weil sie die Rücknahme ihrer sozialen Maßnahmen fürchten, sollte die PiS abgewählt werden. Auch deshalb blieb der Protest gegen die demokratiefeindlichen Maßnahmen, die die Regierung kurz nach ihrer Wahl durchführte, weitgehend isoliert – obwohl die Mehrheit von Pol*innen sie ablehnte. Viele hatten Angst, dass durch die Proteste die PiS-Regierung geschwächt und damit die Grundlage für ein Comeback der liberalen Parteien gelegt würde.
Für viele Pol*innen sind soziale Leistungen wie das Kindergeld entscheidend – schlicht, weil sie darauf angewiesen sind. Seit der Restaurierung des Kapitalismus in Polen wurde die Armut für Massen betoniert. Vierzig Prozent der Pol*innen leben unter dem „sozialen Minimum“. Das Medianeinkommen liegt bei 913 Euro brutto (Stand Ende 2018) – und das bei ähnlichen Lebenshaltungskosten wie in Deutschland. Dies verdeutlicht, wie wichtig eine linke, kämpferische und sozialistische Opposition ist, die die soziale Frage anspricht und eine Alternative zu der Hetze und Spaltung der Rechten anbietet. Eine sogenannte Linke, die sich an die liberalen und bürgerlichen Kräfte anbiedert, wird nur erreichen, dass sich viele Arbeiter*innen von ihr abwenden und von PiS abgefangen werden.
Begrenztheit der Bewegung
Leider korrigiert die Bewegung gegen die Verschärfung der Abtreibungsrechte nicht die Fehler der Opposition. Obwohl sie radikal klingt, beschränkt sie sich weitestgehend auf die Forderungen nach der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und der Unabhängigkeit der Justiz. Das Recht auf Abtreibung ist eine offensive Forderung, aber spricht keine sozialen Probleme an – und damit zum Beispiel nicht die Tatsache, dass durch Armut, prekäre Beschäftigung etc. sich für viele Menschen die Frage stellt: „Kann ich mir überhaupt ein Kind leisten?“ Obwohl Legalisierung der Abtreibung für viele attraktiv ist und sicherlich eine enorme Verbesserung darstellen würde, ist sie keine Lösung für die soziale Misere der polnischen Beschäftigten, Rentner*innen, Jugendlichen und Kinder. Zurzeit stellen sich wahrscheinlich viele Pol*innen die Frage: „Was kommt nach der PiS?“ und „Bekomme ich dann mein Kindergeld weiter?“
Diese Ignoranz gegenüber den Anliegen der Arbeiter*innenklasse wird dadurch verstärkt, dass es keine Versuche gab, in der Bewegung demokratische Strukturen oder Diskussionen zu etablieren. Stattdessen wurde ein „Beratungsrat“ ernannt, zu denen die Prominenten der Bewegung, eine Reihe von „Expert*innen“ sowie Personen mit „Erfahrungen demokratischer Opposition“, das heißt liberale Politiker*innen, gehören. Das Rat soll Vorschläge zu insgesamt 13 Themen erarbeiten, zu denen beispielsweise LGBT-Emanzipation, Arbeitsmarkt oder Bildung zählen. Die Erweiterung der Themen ist ein guter Schritt, allerdings ist der Rat von den Aktivist*innen weitgehend abgekoppelt und ihre erste Veröffentlichungen ernteten heftige Kritik. Die Ernennung des Rates sowie seine Zusammensetzung deutet darauf hin, dass die Führung der Bewegung keine Vorstellung hat, wie weitere Mobilisierungen zum Erfolg führen können und sie stattdessen einen parlamentarischen Weg einschlagen werden. Dies ist verheerend, denn damit übergibt die Spitze der Bewegung bereitwillig das Los der Frauen in die Hände der Politiker*innen, die vor wenigen Jahren das Renteneintrittsalter für sie um sieben Jahre erhöht haben und für ihre Situation verantwortlich sind.
Offensive notwendig
Die Massenproteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechtes machen eines deutlich: Die Pol*innen lassen sich nicht alles von der PiS gefallen. Im Gegenteil, viele der Regierungsaktionen lösen Unzufriedenheit aus. Die Massenbewegung kann als Grundlage für eine linke Offensive dienen. Jedoch durch die Schwäche und Planlosigkeit der Führerinnen der Bewegung wird eine Chance verspielt. Damit die Bewegung stärker und erfolgreich wird, ist es notwendig, breite Schichten der Arbeiter*innenklasse in den Kampf einzubeziehen. Dazu ist es notwendig, ein Programm zu diskutieren, das Arbeiter*innen anspricht.
Eine Voraussetzung dafür ist eine Demokratisierung der Bewegung sowie eine breite Diskussion über Ziele, Strategien und Aktionsweise. Die Forderung nach kostenloser Abtreibung ohne Angabe von Gründen sollte im Mittelpunkt stehen. Allerdings muss klar sein, dass selbst mit einem Recht auf Schwangerschaftsabbruch noch keine Entscheidungsfreiheit darüber herrscht, ob man Kinder haben oder nicht haben kann. Dafür müssen weitere Forderungen aufgestellt werden, die auf die Verbesserung der Lage der Beschäftigten, der Rentner*innen, der Jugendlichen und der Kinder abzielen. Deshalb sollten auch soziale Themen in die Diskussion aufgenommen werden. Damit schwindet die Trennung zwischen sozialen und kulturellen Fragen, beide verknüpfen sich in einem linken Programm im Interesse der Arbeiter*innenklasse. Mit einem solchen Programm kann der rechten PiS die Basis entzogen werden.