Welche Zukunft für die Stahlindustrie?

Vorschlag für ein sozialistisches Programm zur Rettung aller Arbeitsplätze

Die deutsche Stahlproduktion sank 2020 auf den niedrigsten Stand seit elf Jahren. Liegt das an Corona, billigem Importstahl oder zu hohen Umweltauflagen? Und kann die „Wasserstoff-Revolution“ Stahl und Klima retten? Ob die Stahlindustrie und die zigtausenden Arbeitsplätze, die daran hängen, eine Zukunft haben, hängt nicht nur von technologischen und ökonomischen, sondern vor allem von politischen Faktoren ab.

von Sönke Schröder

Trotz vieler Werksschließungen und massenhaften Arbeitsplatzabbaus in den letzten Jahrzehnten hat die deutsche Stahlindustrie eine große Bedeutung. Rund 85.000 Menschen arbeiten in Deutschland direkt in Stahlunternehmen. Hunderttausende weitere Arbeitsplätze in der Zuliefer- bzw. weiterverarbeitenden Industrie hängen am Stahl. Deutsche Stahlkonzerne beschäftigen weltweit Hunderttausende von Arbeiter*innen. Während der größte deutsche Produzent thyssenkrupp in seiner Stahlsparte rund 27.000 Arbeiter*innen und Angestellte beschäftigt, arbeiten mehr als 100.000 Beschäftigte weltweit in den verschiedenen Sparten des Konzerns. Weitere Giganten der Branche sind die Salzgitter AG mit über 25.000 Beschäftigten sowie Saarstahl, Deutsche Edelstahlwerke oder verschiedene mit dem in Luxemburg ansässigen Weltkonzern ArcelorMittal verwobene Betriebe mit jeweils mehreren Tausend Beschäftigten.

Mit einer Produktion von 42 Millionen Tonnen war Deutschland 2018 auf Platz sieben der stahlproduzierenden Länder. Die Europäische Union als Wirtschaftsblock kommt mit insgesamt 168 Millionen Tonnen auf Platz zwei hinter China, das mit über 900 Millionen Tonnen den Weltmarkt mit großem Abstand anführt. In der EU arbeiten mehr als 300.000 Beschäftigte in der Stahlindustrie.

Kapitalistische Wirtschaftskrise

Schon vor der Corona-Pandemie zeichnete sich ab, dass Deutschland und die Welt in eine Wirtschaftskrise eintreten. 2019 sank das deutsche Wirtschaftswachstum von 1,5 auf 0,6 Prozent und Exporte gingen zurück. 2020 sank die deutsche Stahlproduktion auf 35 Millionen Tonnen und damit auf einen Tiefstand, der in dieser Größenordnung zuletzt 2009, während der sogenannten „Finanzkrise“, erreicht wurde. Auch wenn es gewisse konjunkturelle Schwankungen wie den kraftlosen Produktionsanstieg im letzten Quartal 2020 gibt, ist eine nachhaltige Erholung des Stahlmarktes nicht zu erwarten, solange die der allgemeinen Krise zugrundeliegenden Widersprüche der kapitalistischen Weltwirtschaft ungelöst bleiben. Viel zu abhängig ist der Stahl von Wirtschaftszweigen wie der Bau- oder Automobilindustrie, die sich gerade ebenfalls in der Krise befinden.

Schon sehr lange finden in der internationalen Stahlindustrie umfassende Konzentrationsprozesse statt. Nicht nur, dass der Konzern thyssenkrupp 1999 aus der Fusion der Friedrich Krupp AG und der Thyssen AG hervorgegangen ist – diese wiederum hatten in den vorangegangenen Jahrzehnten andere Unternehmen wie Hoesch oder Rheinstahl in ihre Imperien aufgesogen, die ihrerseits bereits aus Fusionen und Übernahmen hervorgegangen waren. Die Salzgitter AG mischt etwa bei den Duisburger Hüttenwerken Krupp Mannesmann (HKM) oder den Klöckner-Werken mit. Die britische Stahlindustrie wurde lange von der staatlichen British Steel dominiert, bis diese unter der neoliberalen Premierministerin Margaret Thatcher privatisiert wurde und nach einer Fusion mit der niederländischen Koninklijke Hoogovens zur Corus Group von der indisch-britischen Tata Steel übernommen wurde. Der weltweit größte Stahlproduzent ArcelorMittal geht auf die Fusion der niederländischen Mittal Steel Company und der luxemburger Arcelor zurück, die wiederum auf eine Kaskade von Fusionen und Übernahmen, etwa der Stahlwerke Bremen oder der nach der „Wende“ privatisierten Werke in Eisenhüttenstadt, zurückblicken. Diese Liste ist längst nicht vollständig.

Die aktuelle Krise könnte aber auch zu einer Zersplitterung einzelner Konzerne führen. Beispiel thyssenkrupp: Der Konzern vereint verschiedene Sparten unter seinem Dach. Der Vorstand verscherbelte die als sehr profitabel geltende Aufzugssparte (Elevator) mit rund 50.000 Beschäftigten im vergangenen Jahr in der Hoffnung, mit den Erlösen von rund 17 Milliarden Euro die Profitabilität anderer Sparten wieder herzustellen – diese Rechnung geht offenbar nicht auf, das Geld gilt als überwiegend verpulvert. Nun ist neben einem Verkauf der Stahlsparte auch im Gespräch, Bereiche wie die Bergbausparte abzustoßen.

Die Corona-Pandemie wirkt sich wie ein Brandbeschleuniger auf die aktuelle Wirtschaftssituation aus. Der Brand selbst – die Wirtschaftskrise – hat aber seine tieferen Ursachen im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Nach OSZE-Schätzungen bestehen auf dem globalen Stahlmarkt Überkapazitäten von fast dreißig Prozent. Die Überproduktion führt international – nicht nur in der Stahlindustrie – zu einem verschärften Kampf um Marktanteile. Das Kapital will um jeden Preis seine Profite sanieren. Für den Stahl bedeutet dies einerseits Dumpingpreise auf dem Weltmarkt, zum anderen den Abbau von Überkapazitäten – und das bedeutet, dass die Bosse Arbeitsplätze vernichten und ganze Werke schließen oder abstoßen wollen. Wenn dem nicht mit entschlossener gewerkschaftlicher Gegenwehr Einhalt geboten wird, ist die Zukunft für die Kolleg*innen zappenduster.

Als thyssenkrupp-Vorstandschefin Martina Merz im Jahr 2019 die Strategie „#newtk“ vorstellte, kündigte sie die Vernichtung von 6000 Arbeitsplätzen an. Das Bochumer Stahlwerk und das Duisburger Grobblechwerk sollten ganz geschlossen werden. Im Herbst 2020 kam dann die Ankündigung, dass dies nicht reiche: Nicht weniger als 11.000 Jobs sollen abgebaut werden! Auch bei Saarstahl wurde der Abbau von 1500 und die Auslagerung weiterer eintausend Arbeitsplätze angekündigt. Außerdem droht in europäischen Nachbarländern Arbeitsplatzabbau in der Stahlindustrie. So will ArcelorMittal in Luxemburg über 500 Arbeitsplätze abbauen und ganze Standorte schließen.

Stahl und Staat

Die Stahlindustrie gehört zu den Industriezweigen, mit denen der bürgerlich-kapitalistische Staat strategische Interessen verknüpft. Neben der Bedeutung des Materials Stahl in der kapitalistischen Wertschöpfungskette sind gerade in Zeiten internationaler Krisen und imperialistischer Spannungen große Infrastrukturprojekte oder die Rüstungsindustrie, die neben der ökonomischen auch eine militärische Bedeutung hat, auf eine nationale Stahlproduktion angewiesen, die trotz aller internationalen Verflechtung von Kapitalströmen und Arbeitsprozessen unter einem gewissen Einfluss des jeweiligen Nationalstaates steht. Im Gegenzug haben die Kapitalisten der Stahlindustrie traditionell einen großen Einfluss auf die bürgerliche Politik. Nicht zuletzt geht die EU auf die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) zurück, von der sich die Ruhrbarone nach dem Zweiten Weltkrieg eine Rückkehr auf die internationale Bühne versprachen.

Bundeswirtschaftsminister Altmaier, die Ministerpräsidenten Laschet und Weil – viele Politiker*innen standen gerade in den letzten Krisenmonaten in engem Austausch mit den Stahlvorständen. Das Land Niedersachsen hält 26,5 Prozent der Anteile an der Salzgitter AG, die saarländische Stahlindustrie (SHS, Saarstahl, Dillinger Hütte) ist über die Montan-Stiftung Saar eng mit der Landespolitik verflochten. Tata Steel Europe ist unter anderem aus der Privatisierung des Staatskonzerns British Steel hervorgegangen. Auch die schwedische SSAB blickt auf eine Geschichte von Staatsbeteiligung und Privatisierung zurück und kooperiert eng mit dem staatlichen Energiekonzern Vattenfall.

Diese Unternehmen sind weit davon entfernt, sich in „Volkseigentum“ zu befinden. Sie wirtschaften auf dem Weltmarkt nach dem kapitalistischen Profitprinzip und schütten Milliarden an private Investoren aus. Die verschiedenen Staaten bürgen aber einerseits mit Steuergeldern für deren ökonomische Stabilität und verfolgen als „ideeller Gesamtkapitalist“ mit ihren Beteiligungen die oben genannten strategischen Interessen. Über den Charakter des bürgerlichen Staates als ideellem Gesamtkapitalisten schrieb Friedrich Engels im „Anti-Dühring“ (1877):

„Aber weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften und Trusts noch die in Staatseigentum hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf. Bei den Aktiengesellschaften und Trusts liegt dies auf der Hand. Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist.“ (MEW 19, S. 222)

Aus dieser Erkenntnis heraus ist vor einem „Staatseinstieg“, wie ihn die Führung der IG Metall für thyssenkrupp Steel fordert, zu warnen. IGM-Hauptkassierer Jürgen Kerner erklärte: „Wir lehnen eine Übernahme aus dem Ausland […] ab. Um die vielfältigen Probleme zu lösen, braucht thyssenkrupp steel keinen neuen Eigentümer, sondern Kapital. Insbesondere die Umstellung auf klimaneutrale Stahlproduktion erfordert Investitionen, die kein Unternehmen der Branche stemmen kann.“ So richtig es ist, dass ein staatliches Eingreifen nötig ist, so falsch ist es auf einen begrenzten Einstieg des Staates oder auf staatliche Geldspritzen zu setzen. Solche Maßnahmen können zwar für einzelne Unternehmen kurzfristige Wettbewerbsvorteile bieten – aber solange pro-kapitalistische Parteien an der Macht sind, droht die Gefahr von Staatseingriffen nach dem Prinzip „Verluste vergesellschaften, Gewinne privatisieren“. Das Beispiel Lufthansa zeigt, dass die Unternehmer gerne staatliche Gelder annehmen, aber keine Einmischung des Staates ins Geschäft wollen. Investoren wie der Milliardär Heinz Hermann Thiele (Hauptaktionär bei Lufthansa, Vossloh und Knorr-Bremse) sanieren ihre Profite mit den Steuer-Milliarden des Bundes – und bauen trotzdem zigtausende Stellen ab. Eine “stille” oder auch begrenzte Beteiligung des Staates bei thyssenkrupp oder anderen Metallunternehmen würde bedeuten, dass mit Steuergeldern die Profite der Großaktionäre saniert werden, während es keinerlei verlässliche Garantien für die Rettung von Produktionsstandorten, Arbeitsplätzen und Löhnen gibt! Deshalb forderte die Sol beim IGM-Aktionstag am 16. Oktober in Düsseldorf die Verstaatlichung der Stahlindustrie unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung.

Wunderwaffe Wasserstoff und „grüner Stahl“?

Ob Bundeswirtschaftsminister Altmaier (CDU), Arbeitgeberverbände oder die Spitzen der Industriegewerkschaft Metall (IGM), sie alle betonen: Wenn es der deutschen Stahlindustrie gelingt, vom CO₂-intensiven Koks auf Wasserstoff als Energieträger umzusteigen, steht ihr eine glänzende Zukunft bevor und Deutschland würde zum Vorreiter einer klimafreundlichen und innovativen Stahlproduktion werden.

Hintergrund sind Pläne der EU-Kommission für ein „klimaneutrales Europa“ bis zum Jahr 2050. Globale Erwärmung, Zerstörung ganzer Ökosysteme, Artensterben, Hungerkatastrophen und Überflutungen sind für die Kapitalisten bis zu einem gewissen Punkt akzeptable Nebenwirkungen ihres Wirtschaftsprozesses. Inzwischen erreicht die Zerstörung der Natur jedoch ein Ausmaß, das die Profitbedingungen des Kapitalismus selbst gefährdet und für ökonomische, soziale und schließlich politische Instabilität sorgt. Deswegen haben inzwischen auch bürgerliche Staaten und Institutionen wie die EU Initiativen zur Begrenzung der exzessiven Umweltzerstörung ergriffen, etwa zur Reduktion des Treibhausgases Kohlenstoffdioxid (CO₂). Da diese Initiativen die kapitalistische Produktionsweise stabilisieren und nicht in Frage stellen wollen, greifen sie nicht radikal in Produktionsabläufe ein. Extrem langfristige und vage Ziele wie die „Klimaneutralität“ bis 2050 oder das System des Emissionshandels, bei dem CO₂-intensive Industriezweige durch den Kauf von Zertifikaten etwa aus wirtschaftlich schwächeren Ländern ihre Ökobilanz schönrechnen können, sind völlig unzureichende Maßnahmen gegen die dramatische und rapide Zerstörung unseres Planeten durch die Konzerne.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Vision der „Wasserstoffrevolution“ in der europäischen Stahlindustrie zu betrachten. Die Stahlindustrie verursacht immerhin rund dreißig Prozent des industriellen CO₂-Ausstoßes. Die Entwicklung wasserstoffgestützter Stahlproduktionstechnologien und der Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur sind schon an sich attraktive neue Märkte für die Kapitalanleger, die unter anderem auf Milliardeninvestitionen der öffentlichen Hand setzen. Hinzu kommt ein Element des Protektionismus, also der Ausgrenzung internationaler Konkurrenz aus den heimischen Märkten zugunsten der eigenen Profitinteressen. Bereits seit 2017 bestehen in der EU Einfuhrbeschränkungen für „Billigstahl“ aus Ländern wie China. Mit gesetzlichen Vorgaben der CO₂-Reduktion und entsprechender Bezugsquellen für stahlverarbeitende Branchen wie die Automobil- und Rüstungsindustrie ist außerdem die Hoffnung verbunden, dass deutsche bzw. europäische Stahlkonzerne durch einen (staatlich massiv geförderten) Technologievorsprung die Vorherrschaft auf dem europäischen Markt sichern und sich somit auch in eine stärkere Position auf dem Weltmarkt bringen, um den billigen Massenproduzenten wie China das Wasser abzugraben.

Die „Wasserstoffrevolution“, die auf den ersten Blick wie ein Großprojekt zur Rettung der Umwelt erscheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung in weiten Teilen als aggressive imperialistische Handelspolitik.

Und selbst innerhalb Deutschlands tobt ein erbitterter Kampf darum, welcher Konzern das Rennen um den „grünen Stahl“ macht. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) als Vertreter der Salzgitter AG (deren größter Anteilseigner mit 26,5 Prozent das Land Niedersachsen ist) spricht von einem „Survival of the fittest“ und spielt damit auf einen knallharten „darwinistischen“ Konkurrenzkampf zwischen den deutschen Stahlunternehmen an.

Der Weg zum „grünen Stahl“ ist allerdings unter derzeitigen Bedingungen ein steiniger. Abgesehen davon, dass es noch keine ausgereifte und bewährte Technologie gibt (die meisten Unternehmen peilen einen Technologiestart nicht vor Mitte des Jahrzehnts an), sind selbst die Perspektiven des Wirtschaftsministeriums recht bescheiden: Bis 2030 soll gerade einmal ein Fünftel des für die Stahlproduktion benötigten Wasserstoffs in Deutschland produziert werden können. Außerdem bedeutet der Energieträger Wasserstoff noch längst nicht, dass die in ihm gespeicherte Energie klimafreundlich produziert wird – Braunkohle und andere klimaschädliche Energiequellen spielen in Deutschland nach wie vor eine große Rolle und die Pläne für den Umstieg auf Wasserstoff gehen bereits davon aus, dass jahrzehntelang fossiles Erdgas als Brückentechnologie zur Anwendung kommen wird. Ein gelungener Wandel zu klimaneutral produziertem Wasserstoff ist nicht garantiert.

Hinzu kommt, dass selbst eine Stärkung der deutschen Stahlkonzerne durch die Einführung von Wasserstofftechnologien noch längst nicht die Rettung von Arbeitsplätzen in den Stahlwerken bedeutet. Gerade hat Siemens Energy wenige Monate nach seinem Börsengang trotz schwarzer Zahlen die Vernichtung von 7800 Arbeitsplätzen angekündigt und rechtfertigt dies ausgerechnet mit der Abkehr von fossiler Energie.

In diesen Krisenzeiten des kapitalistischen Profitsystems kommt erschwerend hinzu, dass für die „Wasserstoff-Revolution“ Milliardeninvestitionen erforderlich sind. Viele Werke und Produktionsanlagen leiden aber schon unter konventionellen Bedingungen unter einem jahrzehntelangen Investitionsstau. Aufgrund der hohen Überkapazitäten und Verluste sind die Anleger kaum investitionsfreudig. Groß war die Empörung der thyssenkrupp-Aktionäre über die ausbleibende Dividende für das Geschäftsjahr 2019 – die Investoren blieben nur bei der Stange, weil der Konzernvorstand um Martina Merz versprach, durch den Verkauf der Aufzugssparte (Elevator) und Massenentlassungen im Zuge der Strategie „#newtk“ die Profite zu sanieren. Es ist unklar, ob sich in der Diskussion der Stahlbosse und pro-kapitalistischen Politiker*innen Staatshilfen, Fusionen zu einer „Deutschen Stahl AG“ oder ein knallharter Wettbewerb bis hin zu feindlichen Übernahmen und Insolvenzen durchsetzen. In jedem Fall müssen die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, jetzt den Kampf darum aufnehmen, dass das Kapital seine Krise nicht auf dem Rücken der Beschäftigten austrägt!

Stahlwerke – Bastionen der Arbeiter*innenbewegung

Große Belegschaften, die kollektiv Knochenarbeit leisten, ein hohes Bewusstsein der eigenen Stärke, ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad, die wirtschaftliche Bedeutung der Branche als Schlüsselindustrie und damit eine zentrale Stellung im Produktionsprozess – die Stahlwerke zählen zu den starken Bastionen der Arbeiter*innenbewegung in Deutschland, in denen Arbeitsniederlegungen große Teile der Wirtschaft lahmlegen können.

Und die Erfahrung vergangener Kämpfe in industriellen Großbetrieben zeigt, wie sehr diese die ganze arbeitende Bevölkerung mit sich reißen können. Ob der Arbeitskampf im Krupp-Stahlwerk Duisburg-Rheinhausen 1987/88 oder der wilde Streik im Bochumer Opel-Werk 2004 – in beiden Fällen schwappte eine Welle der Solidarität durch das Ruhrgebiet und die Bundesrepublik, zigtausende Menschen fieberten mit den Kolleg*innen. Wenn betriebliche Kämpfe entschlossen geführt werden, können sie zum Ausgangspunkt für Bewegungen werden, die das Kräftegleichgewicht zwischen Kapitalisten- und Arbeiter*innenklasse entscheidend verändern. Diese Lehre ist heute, wo unzählige Betriebe, nicht nur in der Metallindustrie, Arbeitsplatzvernichtung angedroht haben, von unglaublichem Wert. Die Gewerkschaftsführungen müssen mit ihrem Kurs des Co-Managements brechen und in eine Offensive gegen kapitalistische Arbeitsplatzvernichtung gehen. Selbst an kleineren Standorten oder Werksteilen können entschlossene Aktionen wie Arbeitsniederlegungen oder Besetzungen wie ein Funken wirken, der ganze Konzerne, Branchen und Regionen mitreißt. Aber das nimmt die Gewerkschaftsführungen nicht aus der Pflicht, ihrerseits breite und offensive Kampfmaßnahmen einzuleiten, zu unterstützen und in die Öffentlichkeit zu tragen. Mit Symbolpolitik und lauter Rhetorik ist diese Aufgabe längst nicht erfüllt, wenn gleichzeitig der Kurs auf Sozialpartnerschaft beibehalten wird. Denn die beste Bastion kann keine Siege erringen, wenn sie nicht unter einem entschlossenen Kommando steht.

Gewerkschaften: Entschlossener Kampf statt fauler Kompromisse!

Die Führung der IG Metall setzt überwiegend nicht auf eine Konfrontation, sondern auf Sozialpartnerschaft und Co-Management. Dieser Kurs rührt auch daher, dass angepasste Gewerkschaftsfunktionär*innen in den Unternehmen richtig Karriere machen können. Die sogenannte Montanmitbestimmung regelt, dass Kapital und Arbeit gleich viele Vertreter*innen in die Aufsichtsräte entsenden und die Gewerkschaften in der Regel den Arbeitsdirektor im Konzernvorstand stellen. So hat es Oliver Burkhard von der NRW-Bezirksleitung bzw. dem Bundesvorstand der IG Metall zum Arbeitsdirektor bei thyssenkrupp gebracht. In dieser Position kassiert er jährlich 4,2 Millionen Euro – das sind über 11.000 Euro am Tag!

Dass Leute, die mehr als das hundertfache eine*r normalen Arbeiter*in in der Produktion „verdienen“ oder zumindest die Aussicht auf einen solchen Posten haben oder sich im Umfeld solcher Funktionär*innen befinden, nicht mehr die Interessen der lohnabhängig Beschäftigten vertreten, ist klar. Eine gewerkschaftspolitische Folge ist, dass sich Spitzenfunktionär*innen dem Profitprinzip unterordnen, Arbeitsplatzabbau und Lohnsenkungen mittragen und darauf verzichten, ernsthafte Kämpfe zu organisieren.

Ein bitteres Beispiel für diese Politik: Im thyssenkrupp-Werk Olpe (Federn und Stabilisatoren) handelten IGM und Betriebsrat mit dem Konzern einen Sanierungstarifvertrag aus, der über Jahre jeden Samstag sechs Stunden unentgeltliche Mehrarbeit beinhaltete. Nach dessen Auslaufen wird das Werk nun trotzdem Ende 2021 geschlossen. Die Kolleg*innen traten in den Arbeitskampf – nach wenigen Stunden sah sich das Unternehmen zu einer Verbesserung des Sozialplans gezwungen. Die Stimmung in der Belegschaft war kämpferisch, aber die IG Metall versäumte, die Verlängerung des Arbeitskampfes zu genehmigen. Dabei hätte durch einen entschlossenen Kampf mindestens ein deutlich besserer Sozialplan erreicht werden können, denn aktuell steht ein Teil der Kolleg*innen vor dem Existenzverlust – vielleicht hätte sogar die Verschiebung oder Rücknahme der Schließungspläne erreicht werden können. Stimmen aus der Belegschaft deuten darauf hin, dass dies nicht an der Kampfbereitschaft gescheitert wäre.

Und immer wieder zeigen die Kolleg*innen, dass sie bereit sind, zu kämpfen. Am Duisburger thyssenkrupp-Grobblechwerk kam es Anfang 2020 unmittelbar nach Ankündigung der beabsichtigten Werksschließung zu Protesten während der Arbeitszeit – der Konzern lenkte sofort ein und verlängerte die Galgenfrist bis 2022. Bei der darauf folgenden Betriebsversammlung wurden Mitglieder der Unternehmensleitung ausgepfiffen, Kolleg*innen erklärten gegenüber der Sol, sie wären bereit, zu streiken, wenn Gewerkschaft oder Betriebsrat zu Aktionen aufriefen – und wären sich sicher, dass es möglich wäre, auch an anderen Standorten in den Arbeitskampf zu treten und gemeinsam in kürzester Zeit Schließungspläne vom Tisch zu fegen. Leider wurden von der Gewerkschaftsführung keinerlei ernsthafte Initiativen zur Konfrontation mit Vorstand und Aktionären ergriffen.

Die Sol schrieb damals in Extrablättern der „Solidarität“, die vor den Werkstoren und auf Kundgebungen verteilt wurden: „Was wäre möglich, wenn es eine entschlossene gewerkschaftliche Offensive mit Streiks und Betriebsbesetzungen gegen alle geplanten Entlassungen und Werksschließungen gäbe?“

Und weiter: „In allen Werken des Konzerns sollte auf Versammlungen von Vertrauensleuten und Gewerkschaftsmitgliedern über Verstaatlichung und dafür nötige Kampfmaßnahmen diskutiert werden. So könnte nicht nur ein konkretes Programm zu Verstaatlichung im Interesse der Arbeitenden entwickelt werden, sondern auch Protestaktionen, Streiks oder sogar Besetzungen von von Schließung bedrohten Werksteilen vorbereitet werden. Konzern- und branchenweite Vernetzungskonferenzen könnten zum Austausch und zur Koordination von Forderungen und Kampfmaßnahmen dienen. So könnte  auch Solidarität zwischen bedrohten und profitablen Konzernbereichen organisiert werden.

Denn eins ist klar: Die IGM sollte auf keinen Fall weiter für die ‚Salami-Taktik‘ der Konzernspitzen zur Verfügung stehen, eine Betriebsstätte nach der anderen zu schließen, immer wieder Kolleg*innen in Altersteilzeit zu schicken oder sonstwie den scheibchenweisen Abbau von Arbeitsplätzen zuzulassen. Diese Politik hat in der Vergangenheit keine langfristige Sicherheit gebracht und wird es in diesen Krisenzeiten erst recht nicht tun.

Statt Co-Management ist jetzt die Aktivierung der Kolleg*innen an der Basis und die Vorbereitung von Arbeitskämpfen das Gebot der Stunde! Nur mit entschlossenen, gemeinsamen Aktionen, die die Bosse schmerzlich bei den Profiten treffen, kann die Zukunft der Kolleg*innen gesichert werden.“

Kolleg*innen, die dem sozialpartnerschaftlichen Kurs der IGM-Führung kritisch gegenüberstehen und für einen ernsthaften gewerkschaftlichen Kampf um den Erhalt von Werken und Arbeitsplätzen sind, sollten sich vernetzen und gemeinsam für einen Kurswechsel eintreten.

Ein sozialistisches Programm für die Stahlindustrie

Es ist klar, dass Veränderungen in der Stahlindustrie notwendig sind, um eine ausreichende Versorgung der Gesellschaft mit hochwertigem Stahl für Infrastruktur, Wohnungsbau, Verkehrsmittel usw. zu gewährleisten, die Zerstörung der Umwelt zu beenden und den Beschäftigten eine langfristige Perspektive für gute Arbeitsbedingungen und Lebensstandards zu bieten.

Die kapitalistische Wirtschaftsweise, bei der sich die Produktionsmittel – in diesem Fall Rohstoffquellen und Stahlwerke – im Privateigentum profitorientierter Kapitalanleger befinden, zeigt sich Tag für Tag unfähig, diese Herausforderungen zu meistern. Für ihre Profite sind die Kapitaleigner, ihre Konzernvorstände und Aufsichtsräte bereit, Kolleg*innen, die sich jahrzehntelang kaputt geschuftet haben, auf die Straße zu werfen.

Deswegen schlägt die Sozialistische Organisation Solidarität (Sol) ein sozialistisches Programm für die Stahlindustrie vor, das die Bedürfnisse von Mensch und Natur in den Mittelpunkt stellt und mit der kapitalistischen Profitlogik bricht.

Die Stahlindustrie muss aus den Händen der Kapitalisten genommen und in öffentliches Eigentum überführt werden. Dabei müssen die Klein- und Belegschaftsaktionär*innen, die ihre Ersparnisse in die Unternehmen investiert haben, voll geschützt werden – während die Großanleger enteignet und nur bei erwiesener Bedürftigkeit entschädigt werden dürfen. Betriebsrenten und andere erkämpfte Errungenschaften der Belegschaften müssen garantiert werden.

Durch eine Verstaatlichung könnte das Gebot der Profitmaximierung ausgehebelt werden. Es muss aber verhindert werden, dass konzernfreundliche Politiker*innen und Bürokrat*innen die Kontrolle über die Stahlproduktion übernehmen. Alle Konzern- und Sparten-Vorstände gehören fristlos und ohne Abfindung entlassen – lange genug haben sie sich die Taschen auf Kosten der Belegschaften voll gemacht. An ihre Stelle gehören demokratisch gewählte, rechenschaftspflichtige und jederzeit abwählbare Gremien, die sich aus Delegierten der Belegschaften, Gewerkschaften und arbeitender Bevölkerung zusammensetzen. Ihre Angehörigen dürfen keine Privilegien erhalten und sollen einen durchschnittlichen, branchenüblichen Facharbeiter*innenlohn erhalten. Es müsste diskutiert werden, inwiefern Wissenschaftler*innen, Anwohner*innen, Umwelt- und Verbraucherschützer*innen und Staatsvertreter*innen in diese Gremien einbezogen werden.

Auf unterer und mittlerer Führungsebene müsste das Personal einer strengen Prüfung durch die Belegschaften unterzogen werden: Haben sich bspw. Abteilungsleiter*innen in der Vergangenheit für die Belange der Kolleg*innen stark gemacht? Stehen sie für eine gesellschaftlich sinnvolle Organisation der Produktion? Oder haben sie „nach oben gebuckelt und nach unten getreten“, Arbeitshetze betrieben und sich an den üblen Machenschaften der Kapitalisten beteiligt? In diesem Fall gehören sie abgesetzt und ebenfalls durch gewählte Vertreter*innen aus den Abteilungen und Werken ersetzt.

Die komplette Stahlindustrie und alle Werke sollten verstaatlicht werden. Es darf nicht sein, dass der Staat mit Steuergeldern für marode und heruntergewirtschaftete Betriebsteile einspringt und das Kapital die profitablen Häppchen behält. Koordinierungsräte sollten den gesellschaftlichen Bedarf nach Stahlprodukten ermitteln und die Produktion unter demokratischer Beteiligung der Arbeiter*innenklasse demokratisch planen und organisieren. Eine verstaatlichte Stahlindustrie wirft die Frage nach demokratischer Verstaatlichung anderer Branchen – etwa der Autoindustrie – und der Planung der gesamten Wirtschaft auf, und zwar nach dem Prinzip: so zentral wie nötig, so dezentral wie möglich. Beispiel: Produktionsziele für den rapiden Ausbau des Schienenverkehrs oder den flächendeckenden Bau günstiger und hochwertiger Wohnungen sollten zentral festgelegt werden. Wie vor Ort Arbeitsabläufe koordiniert werden, kann aber am besten auf Werks- oder Abteilungsebene diskutiert, beschlossen und umgesetzt werden.

Dass „Konkurrenz das Geschäft belebt“ ist ein kapitalistischer Mythos. Demokratische Planung und gesamtgesellschaftliche Harmonisierung der Wirtschaftsprozesse hingegen können technologische Fortschritte erzielen, für die die Kapitalisten Ewigkeiten brauchen. Bei der Entwicklung umweltverträglicher Produktionsprozesse arbeiten die verschiedenen Konzerne derzeit gegeneinander, in der Hoffnung, sich gegenseitig auszustechen. Eine demokratisch geplante Stahlindustrie in Staatseigentum könnte die verschiedenen Ansätze, etwa zur Entwicklung von Wasserstoff-Verfahren, zusammenführen und einen kooperativen Weg zur besten Lösung für Mensch und Umwelt organisieren. Das Knowhow der Kolleg*innen an der Basis könnte viel besser eingebracht werden, wenn niemand darum fürchten müsste, durch technologische Entwicklungen den Arbeitsplatz zu verlieren – vielmehr würden diese zu einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen aller führen. Produktivitätssteigerungen könnten zur Arbeitszeitverkürzung bei vollem oder steigendem Lohn genutzt werden.

Unser politisches Programm kann keine technischen Detailfragen klären – entscheidend ist, dass alle Angelegenheiten der Produktion von Belegschaften und arbeitender Bevölkerung demokratisch diskutiert und beschlossen werden. Solange sich die Stahlindustrie im Privateigentum der Großaktionäre befindet, sind die Zukunftsaussichten: Werksschließungen, Arbeitsplatzvernichtung, Lohnsenkungen und Misswirtschaft. Nur eine demokratische Verstaatlichung eröffnet den Weg in eine sichere Zukunft für Beschäftigte, Gesellschaft und Umwelt.

Sönke Schröder ist Mitglied des Sol-Bundesvorstands und aktiv in der Sol Bochum.