“Irische Einheit”?

Antwort von irischen Sozialist*innen auf eine Erklärung der Europäischen Linksjugend

Vorbemerkung: Anfang April veröffentlichte die linksjugend [‘solid] eine gemeinsame Erklärung der Europäischen Linksjugend (European Left Youth Network). Diese forderte ein vereintes Irland und eine entsprechende Abstimmung auf der Insel als Weg, die konfessionellen Konflikte hinter sich zu lassen. Junge Sozialist*innen von Militant Left (Schwesterorganisation der Sol und Teil des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale CWI), die auf beiden Seiten, im Norden und im Süden, aktiv im Kampf gegen Kapitalismus und Unterdrückung sind, haben auf diese Erklärung geantwortet, um die Unzulänglichkeit dieser Forderung und die Aufgaben von Sozialist*innen in dieser Situation zu erklären. Wir veröffentlichen hier diese Antwort. Die ursprüngliche Erklärung ist unten dokumentiert.

Liebe Genoss*innen,

Wir, junge Mitglieder von Militant Left in Irland, schreiben in Erwiderung auf die Erklärung der Jungen Europäischen Linken zu einem vereinigten Irland. Wir sind der Meinung, dass die von euch vertretene Position die historische Spaltung, Ungerechtigkeit und Unterdrückung in Irland nicht überwinden kann und auch die Aufgaben außer Acht lässt, die Sozialist*innen und die Arbeiter*innenbewegung in dieser Situation zu bewältigen haben.

Als Sozialist*innen, die in Irland, im Norden und im Süden, leben, wollen wir ein Ende aller Spaltungen auf der Insel und die echte Einheit der Arbeiter*innenklasse, der katholischen und der protestantischen, sehen. Wir wollen, dass sich die Arbeiter*innen vereinigen, damit sie für die Umwandlung der Gesellschaft entlang sozialistischer Linien kämpfen können, was der einzige Weg zu einem wirklich dauerhaften Frieden ist.

Während wir verstehen können, dass viele junge Menschen in der Linken in ganz Europa hoffen, dass eine Abstimmung über die Grenze die jahrhundertealten Konflikte und Spaltungen in Irland beseitigen kann, zeigt ein genauerer Blick, dass die Situation viel komplizierter ist. Wir betrachten die aktuellen Vorschläge für eine “Grenzabstimmung” nicht als Mittel zur Lösung der nationalen Frage in Irland.

Obwohl die Arbeiter*innenklasse im Norden die Chance auf Frieden 1998 begrüßte, haben das Karfreitagsabkommen und die daraus resultierende “Versammlung zur Teilung der Macht” sie Spaltung in Wirklichkeit institutionalisiert. Und das Abkommen brachte weder den katholischen noch den protestantischen Arbeiter*innenvierteln die viel versprochene wirtschaftliche “Friedensdividende”. Diese Gebiete leiden weiterhin unter einem hohen Maß an wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung. Sogenannte “Friedensmauern” trennen große Teile der katholischen und protestantischen Wohngebiete. Staatliche Repression ist in vielen Arbeiter*innenvierteln immer noch präsent. Paramilitärs operieren weiterhin auf beiden Seiten.

Diese Faktoren, zusammen mit dem spalterischen Ansatz und der marktfreundlichen Politik der wichtigsten politischen Parteien – die Demokratische Unionistische Partei und Sinn Fein teilen sich seit Jahren die Macht in der Lokalregierung und führen kapitalistische Sparmaßnahmen und finanzkapitalistisch getriebene Teilprivatisierungen durch, die sich zum Beispiel negativ auf Arbeiter*innen und Jugendliche aus allen Gebieten auswirken – bedeuten, dass konfessionelle Spaltungen vor Ort fortbestehen.

Viele Katholik*innen aus der Arbeiter*innenklasse im Norden sehen in einer Grenzabstimmung und einem “Ja” zur Wiedervereinigung eine Möglichkeit, die Ungerechtigkeiten, Unterdrückung und Armut zu beenden, die sie erlitten haben und weiterhin mit dem nordirischen Staat verbinden.

Im krassen Gegensatz dazu sehen Protestant*innen aus der Arbeiter*innenklasse eine Grenzabstimmung als ein Mittel, um sie in ein vereinigtes Irland zu zwingen, wo sie befürchten, dass sie zu einer diskriminierten und zum Sündenbock gemachten Minderheit werden würden.

Unter diesen Umständen würde eine Grenzabstimmung entlang religiöser Linien extrem polarisiert sein. Sie würde keine grundlegende Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen – ein sozialistisches Irland – darstellen, sondern die schiere “Wahl” zwischen einer Fortsetzung des repressiven, verarmten kapitalistischen Nordirlands oder einem “vereinigten” Irland, das immer noch von irischen Bossen und gierigen multinationalen Konzernen beherrscht wird, mit prekärer Arbeit und Krisen im Wohnungs-, Bildungs- und Gesundheitswesen.

Eine Grenzabstimmung würde in diesem Zusammenhang von vielen Arbeiter*innen als ein Versuch angesehen werden, den einen oder anderen Teil der Bevölkerung zu einem Arrangement zu zwingen, das sie nicht wollen. Dies würde die konfessionellen Spannungen und Spaltungen nur weiter verstärken und zu Gewalt und Konflikten führen, die die Arbeiter*innenklasse am meisten schaden werden.

Einen Vorgeschmack auf das potenzielle Ausmaß der Spaltung haben wir bereits in den Unruhen der letzten Wochen gesehen; diese sind entstanden, als die Spannungen wegen der “harten Seegrenze” nach dem Brexit zugenommen haben.

Wir stehen in der revolutionären sozialistischen Tradition, die zur Einheit der Arbeiter*innen aufruft und sich der Idee widersetzt, Katholik*innen oder Protestant*innen in eine “konstitutionelle Regelung” zu zwingen, der sie nicht zustimmen. Dass solch eine Einheit erreicht werden kann, zeigen Beispiele aus der Vergangenheit.

Unserer Ansicht nach kann eine dauerhafte Lösung der nationalen Frage in Irland durch die Einheit der Arbeiter*innenklasse, katholisch und protestantisch, im Norden und im Süden, in einem gemeinsamen Kampf gegen die Bosse (seien sie “protestantisch”-Orange und “katholisch”-Grün) gefunden werden, um Armut, Ausbeutung, Unterdrückung und Ungleichheit zu beenden und für eine echte sozialistische Gesellschaft.

Die Erfahrung des gemeinsamen Kampfes ist das, was die “grundlegende und radikale” Veränderung erreichen wird, die notwendig ist, um die Situation zu verändern und eine einvernehmliche Lösung der Arbeiter*innenklasse, katholisch und protestantisch, zur “Verfassungsfrage” auf die Tagesordnung zu setzen.

Dies erfordert den Aufbau von Einheit und Organisation der Arbeiter*innenklasse unter Einbeziehung von Gewerkschaften, echten Gemeindegruppen, Jugend-, Studierenden-, Antirassismus- und Umweltaktivist*innen und anderen, um eine neue Massenpartei der Arbeiter*innenklasse mit einem mutigen sozialistischen Programm zu schaffen.

Wir fordern junge Sozialist*innen in ganz Europa auf, diese Ziele zu unterstützen und Solidarität zu zeigen.

Leider denken wir, dass eure Erklärung eine Position fördert, die nicht berücksichtigt, wie sie die Spaltung der Arbeiter*innen in Irland vertiefen kann. Darüber hinaus kann sie Illusionen in die Vorstellung nähren, dass es eine friedliche Lösung der nationalen Frage in Irland auf der Grundlage des Kapitalismus geben kann. Militant Left in Irland glaubt, dass nur ein sozialistisches Irland, eine demokratisch geführte Gesellschaft zum Wohle aller, in der volle Rechte für Minderheiten garantiert sind, als Teil einer freiwilligen und gleichberechtigten sozialistischen Föderation von Irland, Schottland, England und Wales und einem sozialistischen Europa, der Weg ist, alle sektiererischen, religiösen, nationalen und ethnischen Spaltungen und nationale Unterdrückung zu beenden.

Deshalb hoffen wir, dass ihr Eure Positionen in dieser lebenswichtigen Frage noch einmal überdenkt.

Solidarische Grüße!

Dokumentiert: Erklärung des European Left Youth Network

Fast hundert Jahre währt schon die Teilung Irlands – doch nun stellen wir fest: der Wunsch nach irischer Einheit war nie stärker. Seit der Ausrufung der irischen Republik im Jahr 1916 haben die Menschen Irlands Schwierigkeiten damit, ihr fundamentales Recht auf Selbstbestimmung durchzusetzen. Die Teilung im Jahr 1921 führte zur Schaffung eines unterdrückerischen und sektiererischen nördlichen Staates, der die fremde, imperiale Herrschaft (zum Nachteil der irischen Bevölkerung) fortführte. Die aufgedrängte Teilung hat das wirtschaftliche Wachstum zerstört, Familien geteilt und Leid über Millionen von Menschen gebracht. Das Karfreitagsabkommen von 1998 beendete schließlich die jahrzehntelangen Konflikte und bietet eine vorher nie da gewesene Möglichkeit die britische Herrschaft in Irland zu beenden. Ein Referendum wäre eine friedliche und demokratische Methode mit der dieses Ziel erreicht werden kann. Dieses Referendum ist ein erreichbares Ziel, welches auch erfolgreich sein kann. Aus kürzlichen Umfragen ist bekannt, dass nur eine Minderheit der Menschen in Nordirland explizit für den Verbleib im Vereinigten Königreich ist. Das zeigt die aktuell schwächelnde Unterstützung für Pro-britischen Parteien, die unlängst nur wenige Sitze in den Parlamenten verteidigen konnten. Gepaart mit dem desaströsen Brexit, der den demokratisch geäußerten Wünschen von Menschen in Nordirland entgegensteht, und der erhöhten Wahrscheinlichkeit einer Sinn-Féin-Regierung in Dublin, ist eines klar: die Tage der britischen Herrschaft in Irland sind gezählt. Die Vereinigung Irlands eröffnet die Möglichkeit für eine fundamentale und radikale Veränderung in Irland. Wir, das European Left Youth Network, geben der irischen Wiedervereinigung unsere vollste Unterstützung und rufen die irische Regierung dazu auf echte Schritte in Vorbereitung eines Referendums zur irischen Wiedervereinigung zu unternehmen.

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