Wirtschaftliche Erholung mit großen Fragezeichen

Die wirtschaftliche Besserung kann nicht über die fortbestehende Instabilität hinwegtäuschen

In den letzten Monaten gab es eine deutliche Erholung der deutschen Wirtschaft, vor allem der Industrieproduktion. Aber aus verschiedenen Gründen ist die wirtschaftliche Erholung viel unsicherer, viel mehr von außerökonomischen Faktoren (dem weiteren Pandemieverlauf, dem Klimawandel, politischen Maßnahmen etc.) abhängig, als es bei Wirtschaftsaufschwüngen in der Vergangenheit üblich war.

Von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart

Mitte Juni wurde veröffentlicht, dass die Auftragsbestände der Industrie im April 11,4 Prozent höher als vor der Coronakrise (Februar 2020) waren. Die deutsche Industrie hatte sich im Winter 2019/20 in einer ernsthaften konjunkturellen Krise befunden, die dann durch die Coronapandemie massiv verschärft wurde. Zwar wurde viel von Lockdown geredet, aber die herrschende Klasse versuchte, die Industrieproduktion trotzdem möglichst ungebremst fortzusetzen. Aber das gelang nur teilweise. Unterbrechungen internationaler Lieferketten führten im ersten Lockdown zu beträchtlichen Produktionsausfällen, auch wenn den Arbeiter*innen weithin zugemutet wurde, trotz Pandemie für die Profite weiter zu schuften und in öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren. Fälle von Arbeitsplätzen als Corona-Hotspots wurden oft vertuscht.

Im zweiten Lockdown im Winter gelang es dann der herrschenden Klasse wesentlich besser, die Industrieproduktion aufrechtzuerhalten, während das Freizeitleben der arbeitenden Bevölkerung massiven Einschränkungen ausgesetzt wurde, die auch zu beträchtlichen Einbrüchen im Dienstleistungssektor führten. Die Erholung der Industrie war zum Teil eine normale Reaktion auf den tiefen Einbruch der Monate vorher. Sie wurde aber deutlich verstärkt durch die wirtschaftliche Erholung des wichtigsten deutschen Absatzmarktes: Chinas. Durch das starke Gewicht der Industrie und der Exporte für die deutsche Gesamtwirtschaft führte das zu Wachstumszahlen und Wachstumsprognosen, die über den Zahlen lagen, die die deutsche Wirtschaft in den meisten Jahren nach der Weltwirtschaftskrise von 2007-2009 erreicht hatte.

Fragezeichen

Tatsächlich hängen aber über der weiteren Entwicklung der deutschen Wirtschaft mehrere große Fragezeichen.

Das erste Fragezeichen betrifft den weiteren Pandemieverlauf. Nachdem die Impfkampagne nach beträchtlichen Startschwierigkeiten in Gang gekommen war, verbreitete die herrschende Klasse Optimismus, dass Corona die deutsche Wirtschaft bald kaum noch in Mitleidenschaft ziehen werde. In den letzten Wochen hat die schnelle Ausbreitung der Delta-Variante des Virus in verschiedenen Ländern – und schließlich auch in Deutschland – zu Warnungen (z.B. des Ifo-Instituts) geführt, dass die weitere Entwicklung des Virus durchaus das Potenzial haben könnte, die wirtschaftliche Erholung zu verhageln.

Das zweite Fragezeichen hängt damit zusammen, dass es in den letzten Monaten Fälle von Kurzarbeit, insbesondere in der Autoindustrie, gab, die nichts mit Corona zu tun hatten, sondern mit Engpässen in der Belieferung mit Computerchips. Grund dafür waren Produktionsausfälle in Taiwan, die mit einer starken Trockenheit dort und mit dem globalen Klimawandel in Verbindung standen. Solche Ereignisse sind ein drastischer Hinweis darauf, dass die globale Erwärmung (oder weniger verniedlichend: Überhitzung) eine Bedrohung ist, die auch die kapitalistische Wirtschaft in vielfältiger Weise in Mitleidenschaft zieht. Auch Zufuhrprobleme bei Bauholz und anderen Baumaterialien führten zu wirtschaftlichen Engpässen.

Solche Engpässe führen unter kapitalistischen Bedingungen nicht nur zu Lieferengpässen, sondern vor allem zu Preiserhöhungen für einzelne Produkte. Die weltwirtschaftliche Erholung nach dem tiefen coronabedingten Einbruch 2020 führte aber nicht nur bei einzelnen Produkten zu Preiserhöhungen, sondern zu einem spürbaren Anstieg der Durchschnittspreise. Nachdem die Inflation jahrelang deutlich unter der Zielmarke der Europäischen Zentralbank EZB von zwei Prozent im Jahr lag, betrug sie im Mai 2,5 Prozent und im Juni immer noch 2,3 Prozent. Die Folge war eine Debatte über eine mögliche Inflationsgefahr in der herrschenden Klasse. Auch wenn die Maßnahmen der quantitativen Lockerung, die Zentralbanken in vielen Ländern in den letzten Jahren ergriffen haben, weniger zu einer Steigerung der Produktion und mehr zur Aufblähung von Spekulationsblasen geführt haben, dürfte eine Abkehr von dieser Politik hin zu Zinserhöhungen trotzdem negative Folgen auf die Wirtschaft haben. Das Platzen von Spekulationsblasen kann drastische Folgen für die reale Wirtschaft haben, höhere Zinsen verteuern den Schuldendienst sowohl für Staaten als auch für Unternehmen als auch für Privathaushalte. Das ist das dritte Fragezeichen.

Folgen des Lockdowns

Das vierte Fragezeichen betrifft die Folgen der Pandemie für den Dienstleistungssektor und den privaten Konsum. Auch wenn in der deutschen Wirtschaft Industrie und Exporte ein hohes Gewicht haben, ist dieser Sektor natürlich nicht gleichgültig. Werden die Menschen wieder einkaufen gehen, wenn der Lockdown endet, oder wird ein Gefühl der Unsicherheit bleiben, das die Menschen veranlasst, mehr zu sparen als vor der Krise? Wie viele Arbeitsplätze in verschiedenen Dienstleistungsbranchen sind durch den Lockdown dauerhaft weggefallen und wie wird sich das auf Einkommen und Nachfrage auswirken? Der Lockdown war historisch beispiellos und für seine mittel- und langfristigen Folgen gibt es daher kaum historische Vergleichsmöglichkeiten.

In den letzten Monaten haben staatliche Maßnahmen (auch wenn sie zum Großteil den Konzernen und nicht der Masse der Bevölkerung zugute gekommen sind) die negativen Auswirkungen von Pandemie und Lockdown zu beträchtlichen Teilen aufgefangen. Aber wie lange werden diese Maßnahmen fortgesetzt werden und wann werden die politischen Vertreter*innen der herrschenden Klasse beginnen, das Geld, mit dem sie die Konzerne gepäppelt haben, von der arbeitenden Bevölkerung zurückzuholen? Wir rechnen nicht damit, dass die Regierungsparteien vor den Bundestagswahlen solche Maßnahmen beschließen (oder auch nur ernsthaft diskutieren). Sie sind bereits im Wahlkampfmodus und beginnen schon mit sozialer Demagogie auf Wählerfang zu gehen. Etwas anders ist aber die Lage auf Landes- und kommunaler Ebene, wo die finanziellen Spielräume geringer sind. Auch bürgerliche Regierungsberater haben bereits eine Debatte über die Anhebung des Renteneintrittsalter auf 68 Jahre begonnen. Schon jetzt können viele Arbeiter*innen das offizielle Rentenalter nicht erreichen und sind gezwungen, mit Abschlägen früher in Rente zu gehen. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalter bedeutet für viele nicht, dass sie länger arbeiten, sondern dass die Abschläge größer (und damit die tatsächlichen Renten niedriger) sein werden. Wie sich solche Debatten und Maßnahmen (nach den Wahlen auch auf Bundesebene) auf die Stimmung, den Konsum etc. auswirken werden, ist das fünfte große Fragezeichen, das über den wirtschaftlichen Perspektiven schwebt.

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