Kabul fällt

Eine demütigende Niederlage für die USA und den westlichen Imperialismus

Am Sonntag, dem 15. August, erreichten die Taliban die Hauptstadt Kabul und zwangen die von den USA unterstützte Regierung von Ashraf Ghani aus dem Amt. Tausende von Einwohner*innen versuchten verzweifelt, in Flugzeuge zu steigen, um vor der islamistischen Hardliner-Truppe zu fliehen. Nachdem Ghani aus dem Land geflohen war, übernahmen Taliban-Kämpfer die Kontrolle über den leeren Präsidentenpalast und die verlassenen Polizeiposten in Kabul. Die Taliban entließen Tausende von Häftlingen aus dem berüchtigten Gefängnis des Luftwaffenstützpunkts Bagram, einem verhassten Symbol der westlichen Besatzung.

von Niall Mulholland, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale

Nach jahrzehntelanger militärischer Besatzung durch westliche Imperialisten, die Marionettenregime unterstützten, fiel die Hauptstadt kampflos. So gering war die Unterstützung des Ghani-Regimes in der Bevölkerung insgesamt und so unpopulär war die jahrzehntelange Anwesenheit westlicher Truppen vor Ort.

Es liegt auf der Hand, dass die Mehrheit der Afghan*innen die Rückkehr der Taliban-Herrschaft in Afghanistan nicht begrüßen wird. Die Taliban haben sich jedoch die Demoralisierung eines Großteils der Massen angesichts der grausamen Zustände sowie die große Wut über die Korruption zunutze gemacht. Die Islamisten-Hardliner versprechen, für “Recht und Ordnung” und “Sicherheit” zu sorgen, nach denen sich so viele sehnen.

Der Fall von Kabul ist ein verheerender Schlag für die USA und alle in der Nato zusammengeschlossenen Mächte, die 2001 in Afghanistan einmarschiert sind. Er ist ein demütigendes Debakel für den westlichen Imperialismus. Die Fernsehbilder aus Kabul zerstören die von den kapitalistischen Ideolog*innen seit dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime in der ehemaligen Sowjetunion und in Osteuropa sorgfältig propagierte Vorstellung, dass die militärische Macht der USA unaufhaltsam sei und die “Neue Weltordnung” überall durchsetzen könne. Der “Nation-Building”-Plan für Afghanistan liegt in Trümmern, während die Taliban kurz vor dem zwanzigsten Jahrestag der Anschläge vom 11. September an die Macht zurückkehren.

Wochenlang eroberten die Taliban weite Teile Afghanistans, ihnen stellte sich kaum Widerstand entgegen. Die afghanische Nationalarmee war nicht bereit, für das äußerst unpopuläre und repressive Ghani-Regime zu kämpfen und zu sterben. Wie alle Institutionen von Marionettenregimes der USA war auch die afghanische Armee von Bestechung und Korruption durchsetzt. In vielen Fällen waren die Soldaten halb verhungert und verfügten nur über geringe Bestände an Waffen und Munition.

Die Warlords schlossen Deals mit den vorrückenden Taliban ab und stellten sich nicht hinter die “verlorene Sache” der angeschlagenen Regierung Ghani, nicht einmal im traditionell talibanfeindlichen Norden des Landes.

Angst und Schrecken in Kabul

Mit der Ankunft der Taliban in Kabul sind viele Einwohner in Angst und Schrecken versetzt worden. Als die Taliban Afghanistan zuletzt von 1996 bis 2001 regierten, setzten sie ihre strenge Auslegung des islamischen Rechts durch. Dazu gehörten das Verbot für Frauen, eine Ausbildung zu absolvieren oder zu arbeiten, die Steinigung von Frauen, die des Ehebruchs beschuldigt wurden, öffentliche Hinrichtungen und das Abhacken der Hände von mutmaßlichen Dieben.

In der Zeit vor ihrem Sieg haben die Taliban angedeutet, dass sie ihre Herrschaft “mäßigen” werden. Einer ihrer führenden Köpfe, Mullah Baradar, erklärte, dass sie mit “anderen afghanischen Führern” Gespräche über die Bildung einer “offenen, integrativen islamischen Regierung” führten. Mullah Baradar räumte ein, dass “wir einen Sieg errungen haben, mit dem wir nicht gerechnet haben… jetzt geht es darum, wie wir unserem Volk dienen und es schützen und seine Zukunft und ein gutes Leben nach besten Kräften sichern können”.

Inwieweit es sich dabei lediglich um bequeme Propaganda der Taliban-Führer handelt, bleibt abzuwarten. “Zu Beginn dieses Übergangs [zur Macht]”, kommentiert der erfahrene Korrespondent Patrick Cockburn, “könnte es im Interesse der Taliban sein, ein gemäßigtes Gesicht zu zeigen und nicht durch öffentliche Hinrichtungen und Prügel die Opposition im In- oder Ausland zu schüren” (Independent, London, 16/08/21). Doch selbst ein vermeintlich “gemäßigtes” Taliban-Regime wird gegenüber Frauen und anderen Menschen zutiefst reaktionär und unterdrückerisch sein.

Die Taliban werden höchstwahrscheinlich direkte Zusammenstöße mit dem westlichen Imperialismus vermeiden wollen, während sie ihre Herrschaft konsolidieren. Ihr schneller Sieg bedeutet nicht, dass die Taliban tief verwurzelt sind und im ganzen Land Unterstützung finden. Afghanistan besteht aus verschiedenen ethnischen und Stammesgruppen, darunter Tadschiken, Usbeken, Hazara und Paschtunen, aus denen die Taliban die meiste Unterstützung beziehen. Die Taliban müssen versuchen, mit vielen dieser Gruppen Vereinbarungen zu treffen, wenn sie an der Macht bleiben wollen. Gelingt ihnen dies nicht, könnte der Weg frei sein für einen erneuten Konflikt und eine weitere Runde blutiger Bürgerkriege, die möglicherweise zum Auseinanderbrechen des Landes führen.

Ein Anstieg der islamistischen Terroranschläge infolge des Sieges der Taliban ist für die regionalen und westlichen Mächte ein dringendes Problem. Die Taliban haben Fraktionen, die eher mit Al Qaida verbunden sind. Es ist jedoch keineswegs sicher, dass die Taliban Afghanistan erneut zum Ausgangspunkt für Anschläge islamischer Terrorgruppen gegen ihre vermeintlichen Feinde machen werden. Die Taliban könnten versuchen, dschihadistische islamische Kräfte davon abzuhalten, Afghanistan für die Planung von Anschlägen zu nutzen, die westliche Militärs zu Angriffen einladen könnten. Das Verhältnis zwischen den Taliban und ISIS ist angespannt, und es ist nicht klar, wie weit sich die islamistische Terrorgruppe in Afghanistan entwickeln kann. Dennoch sind die westlichen Regierungen ernsthaft besorgt über eine neue Welle von Terroranschlägen in ihren Ländern, da der Sieg der Taliban zumindest als Ansporn für verschiedene islamische Terrorgruppen in der ganzen Welt wirkt.

Westliche Mächte uneins

Die westlichen Mächte reagieren nun verzweifelt auf die Machtübernahme der Taliban und versuchen herauszufinden, ob es einen Modus Operandi gibt, den sie mit den neuen Machthabern in Kabul haben können. Immerhin zählen sie das repressive saudi-islamische Regime als Verbündeten. Seit Trump seinen “Deal” mit den Taliban gemacht und Biden den vollständigen Abzug aller US-Truppen bis zum 11. September angekündigt hat, hatten die USA bei den gescheiterten Gesprächen in Doha auf eine Einigung der afghanischen Parteien unter Einbeziehung der Taliban gedrängt. Es ist klar, dass die westlichen Mächte mit reaktionären, frauen- und arbeiter*innenfeindlichen islamischen Regimen, wie ihre engen Verbündeten in den Golfstaaten es sind, leben können, solange diese ihren vitalen Interessen in der Region oder weltweit nicht im Wege stehen.

Der “Krieg gegen den Terror” war lediglich der Vorwand für die imperialistische Invasion in Afghanistan im Jahr 2001. Die Entstehung von Al-Qaida geht schließlich auf die Unterstützung der USA für die Mudschaheddin-Kämpfer gegen die Streitkräfte der Sowjetunion in Afghanistan in den 1980er Jahren zurück. Die Besetzung Afghanistans durch westliche Streitkräfte im Jahr 2001 war ein entscheidender Teil der Bemühungen der USA und anderer “Koalitionspartner” wie Großbritannien, ihren Einfluss und ihre Kontrolle über Zentralasien auszubauen.

Weitreichende Auswirkungen

Der Sieg der Taliban wird weitreichende Folgen für die Region haben. Eine unmittelbare Auswirkung kann eine neue Flüchtlingswelle sein, die die Nachbarländer destabilisieren kann und schließlich auch Europa betreffen wird.

Die Machtübernahme durch die Taliban ist ein Segen für das pakistanische Militär und die Geheimdienste, die sehr enge Beziehungen zu den Taliban unterhalten. Jahrzehntelang diente Pakistan als Stützpunkt für Taliban-Führer. Die pakistanische Regierung wird nun jedoch mit einem destabilisierenden und unberechenbaren Regime an ihren Grenzen konfrontiert sein.

China und Russland werden froh sein, wenn die westlichen Streitkräfte aus Afghanistan abziehen. Die Taliban haben den chinesischen und russischen Staaten versichert, dass ihre Botschaftsangehörigen in Kabul sicher sind. Doch sowohl China als auch Russland werden befürchten, dass ein von den Taliban regiertes Afghanistan als Impuls für abtrünnige islamische Minderheiten in ihren Ländern dienen und islamische Terrorgruppen zu Terroranschlägen im eigenen Land anspornen könnte.

Während die Ereignisse in Kabul einen schweren Schlag für das Prestige und den Einfluss der USA, der Nato und des westlichen Imperialismus bedeuten, müssen die Arbeiter*innenklasse und die Armen Afghanistans die schrecklichen Folgen der jahrzehntelangen Besatzung und jetzt der Rückkehr der Taliban ertragen. Es gibt nichts auch nur im Entferntesten Fortschrittliches an den Taliban oder den Kriegsherren und Stammes- und ethnischen Führern, mit denen die Taliban versuchen werden, Vereinbarungen zu treffen, um zu regieren.

Das CWI hat immer argumentiert, dass eine unabhängige Selbstorganisation und Aktion der Arbeiter*innenklasse in Afghanistan unerlässlich ist. Dazu gehört der Aufbau von Massenorganisationen der Arbeiter*innenklasse und der Armen mit einem Programm für grundlegende sozialistische Veränderungen, die um die Macht kämpfen, um den Alptraum von Kriegen, Invasionen, Armut und Unterdrückung zu beenden.