Berliner Krankenhausbewegung – wie weiter?

Streiks bei Verhandlungen aussetzen oder fortsetzen und Solidaritätsaktionen steigern?

Seit Donnerstag, den 9. September, befinden sich in Berlin Kolleg*innen der beiden großen landeseigenen Kliniken Charité und Vivantes sowie der Vivantes-Töchter im Erzwingungsstreik. Im Lauf der Woche hat sich die Zahl der Streikenden auf etwa 1200 erhöht. Seit heute sind auch die Mitarbeiter*innen der ausgegliederten und gemeinsam von Vivantes und Charité geführten Labor GmbH im Ausstand.

Von Angelika Teweleit und Sascha Staničić

Dass tausende Kolleg*innen gemeinsam für ihre Ziele eines Entlastungstarifvertrages und der Angleichung an den TVÖD für die Beschäftigten der Vivantes-Töchter kämpfen, ist ein großer und wichtiger Schritt für die Krankenhausbewegung. Das sollte bundesweit Vorbildcharakter haben. Der Zeitpunkt, kurz vor den Abgeordnetenhaus- und Bundestagswahlen ein Ultimatum zu setzen, war gut gewählt, um den politischen Druck zu erhöhen. Mit einer lang angelegten Organising-Kampagne seit dem Frühjahr ist es gelungen, mehr als zweitausend neue Kolleg*innen für die Gewerkschaft ver.di zu gewinnen, was ein riesiger Erfolg ist. Auf Stationen und in Bereichen wurden Team-Delegierte gewählt, die in enger Absprache mit den betrieblichen Tarifkommissionen stehen. Die Mitglieder der Tarifkommissionen handeln in dem Bewusstsein, dass sie nichts ohne die Zustimmung der Mehrheit der Team-Delegierten beschließen wollen. Das heißt: es ist ein Streik mit einem hohen Maß an Einbeziehung der streikenden Kolleg*innen. Bei den Protesten gab es immer wieder Reden von unterschiedlichen Kolleg*innen aus allen Bereichen. Eine neue Schicht von Aktiven hat sich heraus gebildet.

Harte Arbeitgeberhaltung

Gleichzeitig ist dieser Arbeitskampf alles andere als eine leichte Übung. Die Arbeitgeber, insbesondere die Vivantes-Geschäftsführung, haben eine harte Linie eingeschlagen. Nicht nur, dass keine Notdienstvereinbarung unterschrieben wurde. Vivantes ging beim Warnstreik im August mit einstweiligen Verfügungen gegen den Streik vor. Nachdem das Landesarbeitsgericht zunächst den einstweiligen Verfügungen gegen den Streik stattgegeben hatte, wurden diese letztlich dann doch einkassiert. Dies lag sicher auch an dem politischen Druck, der durch die Bewegung aufgebaut wurde.

Die Vivantes-Geschäftsleitung erklärte öffentlich Verhandlungsbereitschaft. Doch ihr „Angebot“ bezüglich Entlastung war nur eine Absichtserklärung, Leistungen einzuschränken. Weiterhin gibt es keine Bereitschaft für einen Tarifvertrag Entlastung mit entsprechendem Konsequenzenmanagement, wie er gefordert wird. Dieses Konsequenzenmanagement ist nötig, denn im ersten Tarifvertrag Entlastung, der im Jahr 2016 an der Charité durch einen Arbeitskampf erreicht wurde, waren zwar Quoten für verschiedene Stationen und Bereiche festgeschrieben worden, aber es gab keine ausreichenden Konsequenzen, wenn der Arbeitgeber diese nicht erfüllte. Das bedeutete, dass die erwünschte Entlastung in der Realität kaum umgesetzt wurde. In den letzten Jahren gab es eine Reihe von weiteren Entlastungstarifverträgen in verschiedenen Krankenhäusern, wo versucht wurde, daraus Lehren zu ziehen. Modelle sind die aktuellen Tarifverträge aus Jena und Mainz. In Anlehnung an diese wird auch von der Berliner Krankenhausbewegung gefordert, dass nach einem Dienst in einer Überlastungsschicht (also wenn weniger Personal als vereinbart im Dienst war) Punkte gesammelt werden, die dann auf ein Freizeitkonto gehen. Ein Angebot der Charité, solche Überlastungsschichten mit Geld auszugleichen, wurde richtigerweise abgelehnt. Denn es geht den Kolleginnen und Kollegen um Entlastung, nicht um mehr Geld! Zudem soll dies in der Konsequenz dazu führen, dass die Klinikleitungen mehr Personal aufbauen – oder auch Leistungen einschränken.

Herr Kollatz, geben Sie die Gelder frei!

Seit Jahren wird der schwarze Peter zwischen Senat und Klinikleitungen hin und her geschoben. Die Klinikbetreiber sagen, ihnen fehle das Geld für die Erfüllung der Forderungen, inklusive der Angleichung der Tarifverträge in den ausgegliederten Servicebereichen (Reinigung, Küche, Transport usw.). Hier wurde bisher eine Angleichung bis zum Jahr 2028 angeboten – gefordert wird die Angleichung bis zum Jahr 2023.

Zu Beginn der Legislaturperiode hatten die drei Regierungsparteien SPD, Grüne und LINKE noch in ihren Koalitionsvertrag nicht nur die Angleichung, sondern sogar die Rückführung der ausgegliederten Töchter in den landeseigenen Betrieb festgeschrieben. Dass die Kolleg*innen nun kurz vor der Neuwahl in einen unbefristeten Streik treten müssen, allein für das Ziel einer Angleichung an die Arbeitsbedingungen des TVÖD, ist ein Armutszeugnis für diese Landesregierung. Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) hat es noch einmal ausdrücklich gesagt: für die Angleichung an den TVÖD sei kein Geld da. Gereicht hat das Geld aber für den Bau des Berliner Schlosses, an dem das Land Berlin mit 32 Millionen Euro beteiligt war. Oder auch die Abermillionen Euro, die in den Pannenflughafen BER gegangen sind.

Das zeigt, dass auch die Beteiligung der LINKEN am Senat nicht zu einer Politik im Interesse der Lohnabhängigen führt. Die Partei sollte ihre Rolle darin sehen, Bewegungen und Streiks zu stärken und sich nicht an einer Regierung mit den prokapitalistischen Parteien SPD und Grünen beteiligen, mit denen keine konsequente Politik im Interesse der arbeitenden Bevölkerung möglich ist.

Natürlich muss eine Änderung des Finanzierungssystems bundesweit erreicht werden: die Abschaffung des Fallpauschalensystems! Außerdem gehört das gesamte Gesundheitswesen in öffentliche Hand und es muss eine Beendigung der Profitorientierung geben. Aber die Notwendigkeit bundesweiter Veränderungen sollte eine Landesregierung nicht daran hindern, in ihren eigenen landeseigenen Kliniken voran zu gehen, Ausgliederungen rückgängig zu machen, und bessere Arbeitsbedingungen durch eine bessere Personalausstattung durchzusetzen! Es muss Schluss sein damit, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Eine streikende Kollegin brachte es auf einer der vielen Protestkundgebungen während des Streiks auf den Punkt, als sie vor dem Büro des Finanzsenators durchs Mikrophon rief: „Herr Kollatz, geben Sie die Gelder frei!“

Streikunterbrechung?

ver.di hat mittlerweile angeboten, die Streiks auszusetzen, wenn die Arbeitgeber an den Verhandlungstisch kommen (während die Abgeordnetenhausfraktionen von SPD, Grünen und LINKE gerade den Senat aufgefordert haben, die Klinikleitungen zur Aufnahme von Verhandlungen während des Streiks anzuweisen!). Für dieses Entgegenkommen gibt es zum jetzigen Zeitpunkt keinen Grund. Im Gegenteil: gerade während Verhandlungen „braucht“ der Arbeitgeber den Druck durch den Streik, wenn man zu einem guten Ergebnis für die Streikenden kommen will. Eine Streikaussetzung wird von den Klinikleitungen nicht als Zeichen des guten Willens verstanden werden, wie es die ver.di-Führung vielleicht hofft, sondern als Zeichen der Schwäche. Verhandlungen ohne Streik geben den Arbeitgebern die Möglichkeit, die Verhandlungen hinaus zu zögern. Für die Gewerkschaft ist es andererseits nicht leicht, eine einmal unterbrochene Streikdynamik wieder aufzunehmen. Ein Streik lässt sich nicht ein- und ausknipsen wie ein Lichtschalter.

Gleichzeitig ist ein Streik in einem Krankenhaus kräftezehrend. Immer wieder müssen zusätzlich zum Organisieren, Verhandeln, Beraten, Protestieren auch zwischendurch Notdienste übernommen werden, um akut gefährdete Patient*innen zu versorgen. Über die Frage, welche Behandlungen oder Operationen aufschiebbar sind und welche nicht, wird permanent gestritten. Gerade in einem langen Arbeitskampf kann es daher unter bestimmten Umständen auch helfen eine Verschnaufpause einzulegen, um wieder Kräfte zu sammeln. Es muss aber vermieden werden, die Dynamik des Arbeitskampfes zu verlieren.

Die Entscheidung über eine Streikaussetzung sollte unbedingt bei den Streikenden selbst liegen. Sie sollten diese Frage in Streikversammlungen diskutieren und darüber abstimmen. Solche Streikversammlungen, zumindest an den einzelnen Standorten, sollten ohnehin regelmäßig während des Streiks durchgeführt werden, damit die Streikenden direkt und nicht nur über die Rücksprache mit den Team-Delegierten die Möglichkeit haben, die aktuelle Situation gemeinsam zu bewerten, sowie die Tarifkommission und Verhandlungsführer*innen zu kontrollieren und ihnen mit auf den Weg zu geben, was sie denken und fordern.

Sollten sie sich für eine Aussetzung des Streiks entscheiden, wäre es wichtig, eine klare Perspektive für die Wiederaufnahme des Streiks festzulegen. Zum Beispiel indem ein zeitnahes Ultimatum (beispielsweise von einer Woche) gesetzt wird. Kommt es in diesem Zeitraum zu keinem Ergebnis, das die Tarifkommissionen den Beschäftigten zur Urabstimmung vorlegen, wird der Streik wieder aufgenommen.

Über ein Verhandlungsergebnis muss es auch ausreichend Möglichkeit für demokratische Diskussionen und Abstimmungen auf gemeinsamen Versammlungen aller Kolleg*innen, die gestreikt haben, geben.

Dass ein Streik auch bis zur Urabstimmung gehen kann, zeigte 2011 der Streik beim Charité Facility Management (CFM). Als es nach drei Monaten Streik ein Angebot gab, dem die Verhandlungs- und Tarifkommission von ver.di zugestimmt hatten, wurde der Streik fortgesetzt, bis das Ergebnis der Urabstimmung bekannt war – um den Kolleg*innen die Möglichkeit zu geben, in Ruhe über das Ergebnis zu beraten und auch Lehren aus ihrem Streik gemeinsam zu diskutieren.

Die Gefahr der Spaltung

Es ist eine der größten Errungenschaften der Berliner Krankenhausbewegung, dass die Kolleg*innen von Charité, Vivantes und der Vivantes-Tochterunternehmen gemeinsam streiken. Das wird zurecht von den ver.di-Vertreter*innen betont und darauf können alle Beteiligten stolz sein. „Wir lassen uns nicht spalten!“, hört man immer wieder auf den Demonstrationen und bei den Streikposten. Gleichzeitig ist klar, dass es genau diesen Versuch von Seiten der Arbeitgeber geben wird. Dem zu begegnen wird möglicherweise gar nicht so einfach und bedarf einer breiten Diskussion unter den Streikenden. Denn formell-juristisch handelt es sich um drei separate Tarifauseinandersetzungen, die zeitgleich stattfinden und im Fall der Pflegekräfte inhaltlich dieselbe Zielsetzung haben. Es wäre deshalb sinnvoll, wenn die Streikenden bei Versammlungen jetzt schon erklären, dass sie die Streiks der Pflegekräfte an den beiden Häusern nur gemeinsam aussetzen oder beenden werden, auch im Falle eines annehmbaren Angebots einer Klinikleitung. Das ergibt sich auch aus dem de facto politischen Charakter des Streiks und der Tatsache, dass der Senat es in der Hand hat, die Forderungen der Beschäftigten zu erfüllen.

Gleichzeitig wäre es nachvollziehbar und richtig, wenn die Streikenden der Vivantes-Tochterunternehmen ein gutes Angebot annehmen würden. Sie sind der kampfschwächere Bereich und die Pflegekräfte sind zur Durchsetzung ihrer Forderungen nicht auf den Streik bei den Töchtern angewiesen. Umgekehrt ist die Frage komplizierter. ver.di und die streikenden Pflegekräfte hätten in diesem Fall die Verantwortung, ernsthaft zu diskutieren, ob eine Fortsetzung des Streiks in der Pflege zur Unterstützung der Töchter-Beschäftigten möglich ist bzw. welche anderen Formen der Unterstützung in Frage kommen. All das sollte unter allen Beteiligten diskutiert und kommuniziert werden.

Breite Unterstützung durch die DGB Gewerkschaften nötig!

Dieser Streik geht alle an – auch das wird auf den Protesten immer wieder gesagt. Wie kaum ein anderer Bereich betrifft die Gesundheitsversorgung alle Menschen in dieser Stadt, denn wir alle sind potentielle Patient*innen oder Angehörige. Das gilt insbesondere für die Masse der arbeitenden Bevölkerung, die im Gegensatz zu einigen Superreichen nicht in der Lage ist, sich eine teure Sonderbehandlung in einer besser ausgestatteten Privatklinik zu leisten.

Bei der großen Solidaritätsdemonstration am Dienstag, den 14. September, war zwar die Teilnahme der Streikenden enorm und es gab wichtige Unterstützung von sozialen Bewegungen wie dem Bündnis „Gemeinsam auf die Straße“, der Initiative „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“ und „Fridays for Future“. Auch, wenn es eine Solidaritätsrede eines Kollegen der Berliner Feuerwehr gab, waren auf der Demonstration Delegationen anderer Gewerkschaften und gewerkschaftlicher Betriebsgruppen jedoch nicht sichtbar. Das muss sich das dringend ändern. Denn dieser Streik wird nicht in erster Linie durch die Einnahmeausfälle für die Klinikleitungen entschieden, sondern durch den politischen Druck auf den Senat. Die Damen und Herren dort müssen Angst bekommen, dass der Krankenhausstreik eine Welle von ähnlichen Bewegungen in anderen Betrieben auslöst und es zu gemeinsamen Kämpfen und Bewegungen von Gewerkschafter*innen, Lohnabhängigen und sozialen Bewegungen kommt, die auch in anderen Fragen, wie dem Kampf für die Enteignung der Immobilienkonzerne oder gegen die Privatisierung der S-Bahn zu einer politischen Kraft wird.

Daher wäre es jetzt wichtig, dass über ver.di und die DGB-Gewerkschaften Massenflugblätter gedruckt und systematisch in allen Berliner Betrieben verteilt werden. Außerdem sollte dann eine weitere wirklich große Solidaritätsdemonstration gemeinsam mit den Streikenden angesetzt werden und über die Gewerkschaften in den Betrieben dafür mobilisiert werden (hier sollten auch die anderen sich gerade in Tarifauseinandersetzungen und Streiks befindenden Belegschaften, wie die AWO-Kolleg*innen, einbezogen werden). Für den Zweck einer gewerkschaftlichen Unterstützungskampagne sollte ein Unterstützungskomitee gebildet werden, das auch die Frage von Solidaritätsstreiks in anderen Bereichen diskutieren könnte. Ein Antrag, die anderen DGB-Gewerkschaften und ver.di-Fachbereiche zu einer solchen Solidaritätskampagne aufzufordern, wird von einem Sol-Mitglied in der ver.di-Fachbereichsvorstand eingebracht.

Für ein öffentliches Gesundheitswesen nach Bedarf

Gerade im Gesundheitswesen wird es Zeit für eine machtvolle bundesweite Bewegung für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen, für die Abschaffung des Fallpauschalensystems und für ein rein öffentliches Gesundheitswesen, ausreichend finanziert und ausgestattet nach Bedarf. Dafür gehören alle privaten Konzerne des Gesundheitswesens, von den Servicebetrieben über private Kliniken bis hin zur Pharmaindustrie in Gemeineigentum überführt und demokratisch durch die arbeitende Bevölkerung kontrolliert und verwaltet. Für die nötigen Investitionen müssen die Vermögenden und Superreichen zur Kasse gebeten werden.

Der Kapitalismus muss aus dem Gesundheitswesen vertrieben werden! Aber der Kapitalismus ist auch in allen anderen Gesellschaftsbereichen schädlich für die Menschen und die Umwelt. Deshalb ist es dringend nötig, über Alternativen zum Kapitalismus auch in Streikbewegungen wie der Berliner Krankenhausbewegung zu diskutieren. Nur die Klasse der Lohnabhängigen wird in der Lage sein, die Macht der Banken und Konzerne zu brechen und eine Gesellschaft zu erkämpfen, in der nicht der Profit, sondern die Bedürfnisse von Mensch und Natur im Mittelpunkt stehen – eine sozialistisch-demokratische Gesellschaft.

Gewerkschaften

Früher oder später wird nach den Wahlen versucht werden – egal von welcher Regierung – die Krisenkosten auf die arbeitende Bevölkerung abzuladen. Wieder wird es heißen, es sei nicht genug Geld da, um in Gesundheit, Bildung, Pflege, Kitas und Soziales zu investieren. Daher müssen die Gewerkschaften ihre Rolle wahrnehmen, nicht nur vereinzelte Abwehrkämpfe zu führen, sondern Kämpfe zusammen zu führen und zu einer gesellschaftspolitischen Bewegung zu steigern. Die Traditionen der Arbeiter*innenbewegung und Gewerkschaften von Solidarität und gegenseitiger Unterstützung wie auch, dass Stärke vor allem durch gemeinsamen Kampf sichtbar wird, müssen wieder erweckt werden. Dazu ist in den Gewerkschaften ein Kurswechsel nötig.

Die Sol und ihre Mitglieder sind aktiv in Betrieben und Gewerkschaften. Wir setzen uns für einen konsequenten kämpferischen Kurs ein und unterstützen Ansätze für Vernetzungen von aktiven Kolleg*innen wie zum Beispiel die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und die Gruppe „Aktive im Gesundheitswesen für eine kämpferische ver.di“.

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