Lateinamerika im Wandel

Wahlkundgebung von Pedro Castillo in Peru (Photo: Txolo/Wikimedia Commons)

Eine neue Welle von Kämpfen und Krisen

Lateinamerika wird weiterhin von der Covid-19-Pandemie heimgesucht und ein Ende ist nicht in Sicht. Mit 1,3 Millionen offiziell registrierten Todesfällen in Lateinamerika und der Karibik ist die schreckliche Zahl der Todesopfer wahrscheinlich die schlimmste, die der Kontinent seit der Ankunft der spanischen und portugiesischen Konquistadoren (Eroberer Süd- und Mittelamerikas im 16. Jh. Anm. d. Ü.) erlebt hat. Am schlimmsten ist es in Brasilien, wo die rechtsextreme Regierung von Jair Bolsonaro offiziell über 524.000 Menschen massakriert hat. Doch Peru hat mit 193.000 Toten den wenig beneidenswerten Anspruch, die höchste Zahl von Todesfällen pro Kopf der Bevölkerung aller Länder der Welt zu haben.

Von Tony Saunois, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale

Die Gesundheitskrise hat sich verheerend auf die Wirtschaft ausgewirkt und Millionen von Menschen in Not und Armut getrieben. Als das regionale BIP im Jahr 2020 um 7 % einbrach, fielen Millionen weitere Menschen in Armut, so dass sich die geschätzte Gesamtzahl auf fast 250 Millionen erhöhte. Allein in Brasilien sind im Jahr 2020 schätzungsweise 18 Millionen Menschen in Armut abgerutscht, in Chile waren es nach offiziellen Angaben 2,5 Millionen.

Das Jahr 2020 war auch das Jahr des Wiederauflebens einer revolutionären Welle, die den Kontinent erfasste: Es gab Massenmobilisierungen und eine politische Radikalisierung nach links in vielen Ländern. Gleichzeitig gab es aber auch Elemente der Konterrevolution.

Im April begann in Kolumbien eine revolutionäre Bewegung, die zwei Monate lang andauerte. Sie umfasste einen Generalstreik und Massenproteste, die Millionen von Arbeiter*innen, indigenen Menschen, Jugendlichen und andere mobilisierten und die mörderische Regierung von Iván Márquez mit deren Sturz bedrohte. Die Regierung, die gezwungen war, Zugeständnisse bei der von ihr vorgeschlagenen Erhöhung der Mehrwertsteuer zu machen, reagierte mit brutaler Unterdrückung: Sie ließ mehr als vierzig Demonstrant*innen erschießen und mehr als hundert Menschen werden noch „vermisst“.

Im selben Monat wurde die Regierung Piñera in Chile durch Massenproteste und einen Aufruf zum Generalstreik besiegt. Es wurde gefordert, dass die Arbeiter*innen sich bis zu weiteren zehn Prozent aus ihren Pensionseinlagen auszahlen lassen dürfen, um überleben zu können. Bei den Wahlen zum Verfassungskonvent im Mai kam es dann zu einer vernichtenden Niederlage der rechten und traditionellen Parteien. Von den 155 gewählten Konventsmitgliedern erhielt die rechte “Vamos Chile” nur 37 und die “rechte Mitte” Concertácion lediglich 25. Die Wahlen zu diesem Gremium, das die Verfassung neu schreiben soll, waren das Ergebnis der revolutionären Welle der Massen, die 2019 über das Land schwappte. Die Gewinner*innen der Wahl waren die Linken – einschließlich eines Blocks von “Unabhängigen”, der zusammen mit der Kommunistischen Partei Sitze gewann. Die andere große “Gewinnerin” war die “Nichtwähler*innenpartei”, da die Wahlbeteiligung nur 44 Prozent betrug.

Im Juni erlitt die Kapitalist*innenklasse in Peru dann eine schwere Niederlage, als der linke Kandidat Pedro Castillo die Präsidentschaftswahlen knapp gegen Keiko Fujimori gewann. Sie ist die Tochter des ehemaligen Diktators Alberto Fujimori, der wegen Korruption und als Verantwortlicher der Massaker in La Cantuta und Barrios Altos während seiner Präsidentschaft zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. (Für die Entführung, Folter und Ermordung von neun Student*innen und ihrem Professor 1992 und das Massaker an 15 Menschen 1992 wurde Fukimori 2009 zu 25 Jahren Haft verurteilt, jedoch 2017 von Präsident Kuczynski vorzeitig begnadigt, Anm. d. Ü.)

Proteste haben auch Argentinien, Paraguay, Uruguay und viele andere Länder erschüttert, darunter auch Haiti, wo ein Massenaufstand die Regierung ins Wanken brachte.

Bolsonaros Regierung in der Krise

Während sich diese Ereignisse auf dem ganzen Kontinent ausbreiten, ist Brasilien in politische Turbulenzen und Umwälzungen gestürzt worden, da Bolsonaro mit der größten Krise seit seinem Amtsantritt konfrontiert ist. Die schreckliche gesundheitliche, wirtschaftliche und politische Krise hat dem mörderischen Regime Bolsonaros einen schweren Schlag versetzt. Einige Wissenschaftler*innen haben behauptet, dass von den 500.000 Menschen, die an Covid-19 gestorben sind, bis zu 400.000 hätten gerettet werden können, wenn die Regierung die Krise nicht geleugnet hätte. Die Entscheidung der Justiz, Luiz Inácio Lula da Silva (“linker” Präsident Brasiliens von 2003-2010 und 2017 wegen Korruption verurteilt) aus dem Gefängnis zu entlassen, ist ein potenziell verheerender Schlag für Bolsonaros Regime. Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass Lula von der Arbeiter*innenpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) Bolsonaro bei den für 2022 angesetzten Wahlen mit einer überwältigenden Mehrheit schlagen könnte.

In ganz Brasilien haben große Proteste gegen Bolsonaro stattgefunden. Diese werden durch die jüngsten Enthüllungen über Korruptionsvorwürfe gegen ihn angeheizt. Diese und andere Entwicklungen in anderen Ländern verdeutlichen eine neue Welle der Radikalisierung und des revolutionären Kampfes, der sich auf einem Großteil des lateinamerikanischen Kontinents entwickelt. Die Aufstände gegen die rechten und rechtsextremen populistischen Regime sind Ausdruck eines bedeutenden Prozesses.

Die Machtübernahme der Rechten in einer Reihe von Ländern war nicht Ausdruck eines starken ideologischen Rechtsrucks. Ein Großteil der Wahlunterstützung, die diese Kräfte erhielten, war eine Reaktion auf das Versagen der früheren “linken” Regierungen, der sogenannten “rosa Welle”, die zuvor den Kontinent überschwemmt hatte. Dieser war es aber nicht gelungen, mit dem Kapitalismus durch revolutionäre demokratisch-sozialistische Maßnahmen zu brechen. Diese Regierungen, die häufig in Korruptionsskandale verwickelt waren, wurden von großen Teilen der Gesellschaft als “politisches Establishment” angesehen.

Die Rechten gewannen vorübergehend Wähler*innenstimmen, indem sie auf populistische Rhetorik zurückgriffen. Gleichzeitig schlossen sie häufig rechtsextreme, faschistische Organisationen, einschließlich paramilitärischer Gruppen, ein. Das war insbesondere in Brasilien der Fall.

Die Massen Brasiliens haben einen schrecklichen Preis für den Sieg von Bolsonaro bezahlt. Die brasilianische herrschende Klasse hat die Kontrolle über die politischen Institutionen und den Staat verloren. Das Regime hat die Krise des brasilianischen Kapitalismus vertieft. Bolsonaro war nie die bevorzugte Wahl der Mehrheit der brasilianischen herrschenden Klasse gewesen. Allerdings geriet die PT unter Dilma Rousseff, die Lula 2011 als Präsidentin ablöste, zunehmend in Misskredit. Gleichzeitig ist die Unterstützung für die traditionellen Parteien des brasilianischen Kapitalismus geschwunden.

Die massiven Proteste, die 2013 in Brasilien Millionen von Menschen auf die Straße brachten, ausgelöst durch Fahrpreiserhöhungen, zeigten die damalige Wut. Sie richtete sich jedoch nicht gegen eine politische Partei, sondern gegen alle Parteien und politischen Institutionen.

Das dadurch entstandene Vakuum ermöglichte es Bolsonaro, das Land zu “retten” und “die Ordnung wiederherzustellen”. Er ist wie Trump auf Steroiden. Er unterstützt offen die Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 herrschte, und kritisiert an ihr nur, dass sie “nicht genug Menschen getötet” und die Linke nicht ausgerottet habe!

Die Regierung Bolsonaro war von Anfang an von Spaltungen und Abspaltungen geplagt. Er wurde 2018 als Mitglied der konservativen Sozialliberalen Partei gewählt, brach aber bald darauf mit ihr. Er war Mitglied in mindestens acht verschiedenen Parteien!

Die Korruption des gesamten politischen und wirtschaftlichen Systems wurde durch die berüchtigte Operation “Lava Jato” (die Autowasch-Affäre) aufgedeckt. Dabei wurde ein riesiges Netz organisierter Korruption aufgedeckt, das bis ins Herz des brasilianischen Kapitalismus reichte, einschließlich des riesigen Ölkonzerns Petrobras, der politischen Parteien und des Staatsapparats. Es ging um Milliarden von US-Dollar. Der führende Richter war Sérgio Moro, der sich eine Zeit lang großer Beliebtheit erfreute, da er eine Reihe von hochrangigen Wirtschaftsführern und Politikern verhaftete und ins Gefängnis brachte.

Moro stellte sich selbst als unpolitisch dar. Im Laufe der Ermittlungen stellte sich jedoch heraus, dass Moro höchst undemokratische Methoden anwandte und mit den Staatsanwält*innen zusammenarbeitete, bevor er die Fälle verhandelte. Er leitete dann die Strafverfolgung von Lula, der inhaftiert wurde und dadurch nicht mehr in der Lage war, Bolsonaro bei den Präsidentschaftswahlen herauszufordern. Der “unpolitische” Moro wurde anschließend zum Justizminister unter Bolsonaro ernannt und mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, bis sich die beiden zerstritten und Moro entlassen wurde.

Das Bolsonaro-Regime ist von einer Krise in die nächste gestolpert, ist aber entschlossen, sich an der Macht zu halten. Trotz der sinkenden Unterstützung in den Umfragen ist nicht auszuschließen, dass Bolsonaro versucht, das Militär oder einen Teil davon einzusetzen und einen Staatsstreich zu versuchen, falls er verlieren sollte oder ihm ihm eine Wahlniederlage droht.

Obwohl die Oberbefehlshaber des Heeres, der Marine und der Luftwaffe aus Protest gegen sein Vorgehen zurückgetreten sind, genießt er innerhalb der Streitkräfte nach wie vor eine gewisse Unterstützung. Bolsonaros Drohung an die Opposition, “nicht zu drängen”, um “keinen Putsch zu provozieren”, wurde von Teilen des Militärs aufgegriffen. Die Rechtsextremen um Bolsonaro fürchten sich vor der Entstehung einer sozialen Massenprotestbewegung. General Luiz De Mattos, der Chef des Obersten Militärgerichts, hat den Regierungsgegner*innen vorgeworfen, sie zu “drängen” und Bolsonaro nicht regieren zu lassen. Er warnte vor dem Erreichen einer “Sollbruchstelle”. Die Möglichkeit eines Putschversuchs ist eine Bedrohung, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollte, auch wenn die wichtigsten Teile der herrschenden Klasse in Brasilien gegen Bolsonaro sind und ihn loswerden wollen.

Sollte es zu einem Putschversuch kommen, wird dies mit Sicherheit eine Explosion der Opposition und eine Welle des Kampfes auslösen. Aus Angst vor einer solchen Entwicklung werden sich die wichtigsten Teile der herrschenden Klasse bemühen, eine solche Entwicklung zu vermeiden. Das verwirrte Regime von Bolsonaro ist jedoch nicht unter ihrer Kontrolle, wie die Ereignisse bereits gezeigt haben.

Explosive Entwicklungen dieser Art in Lateinamerikas größtem und mächtigstem Land würden Auswirkungen auf den gesamten Kontinent und international haben. Lateinamerika befand sich bereits vor dem Ausbruch von Covid-19 in einer schweren Wirtschaftskrise. Diese wurde durch die Pandemie noch verschärft.

Die Schuldenkrise Argentiniens

Argentinien ist von den Auswirkungen der Krise schwer getroffen worden. Im Jahr 2020 schrumpfte die Wirtschaft offiziell um zehn Prozent – das dritte Jahr in Folge mit einer Rezession. Vier von zehn Argentinier*innen leben in Armut. Die peronistische Regierung von Alberto Fernández, die von einer Stagflation (Kurzwort für eine Kombination von wirtschaftlicher Stagnation und Inflation, Anm.d.Ü.) geplagt wird, ist gespalten und in Aufruhr, was den Umgang mit der Krise angeht. Dazu gehört eine massive Auslandsverschuldung – allein 45 Milliarden US-Dollar beim IWF (Internationaler Währungsfond). Der früheren rechtsgerichteten Regierung Macri, die ein Abkommen mit dem IWF aushandelte, wurden brutale Sparauflagen auferlegt. Die von ihm eingeführten Sparmaßnahmen lösten eine Reihe von Generalstreiks aus und ebneten den Weg für die Rückkehr der Peronist*innen an die Macht. Doch auch sie sehen sich nun mit einer sich vertiefenden politischen und sozialen Krise konfrontiert.

Der IWF und der Pariser Club (informelles Gremium von Gläubiger*innen, das u.a. Umschuldungsabkommen mit Schuldnerländern schließt, Anm.d.Ü.) verfolgen nun einen “nachsichtigeren” Ansatz bei der Rückzahlung der Schulden, da sie befürchten, eine soziale Explosion auszulösen und einen möglichen Zahlungsausfall zu riskieren, der schwerwiegende internationale Auswirkungen haben würde. Argentinien ist gegenwärtig die größte Schuldnerin des IWF. Die Forderung nach Nichtzahlung der lähmenden Auslandsschulden, zusammen mit der Verstaatlichung der Banken unter demokratischer Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung, ist eine der Hauptforderungen der revolutionären Sozialist*innen in Lateinamerika.

Notwendigkeit der Organisierung und neuer Arbeiter*innenparteien

Die entscheidende Frage für die Arbeiter*innenklasse und die Jugend ist, wie diese Kämpfe zum Sieg geführt werden können; wie die an der Macht befindlichen korrupten Regime und das kapitalistische System besiegt werden können. Während ein Großteil des Kontinents von einer neuen revolutionären Welle erfasst wird, gibt es auch ein großes Vakuum durch das Fehlen von Massenparteien der Arbeiter*innenklasse. Das Fehlen kämpferischer demokratischer Organisationen, die an der Spitze der Kämpfe stehen und über ein Programm und eine Strategie verfügen, um die Bewegung voranzubringen, hat dazu geführt, dass die Bewegungen zersplittert sind oder für eine gewisse Zeit einen Abschwung erlebten.

Dies zeigt sich anschaulich in Chile. Im Jahr 2019 hing die Piñera-Regierung in der Luft und hätte gestürzt werden können, das gelang aber nicht, weil die Bewegung nicht organisiert war und kein vorwärtsweisendes Programm hatte. Die Regierung wurde im November 2019 durch das “Abkommen für Frieden und die neue Verfassung” gerettet, das von der großen Mehrheit der politischen Blöcke im Kongress unterstützt wurde. Die soziale Bewegung wurde jedoch nicht besiegt, sondern hatte lediglich einen Tiefpunkt erreicht. Die jüngsten Wahlen zum Verfassungskonvent sind ein Produkt der Massenbewegung in einer verzerrten Form. Aber das Vakuum bleibt im Konvent bestehen. Wenn es nicht gelingt, die Forderungen der Massenbewegung zu erfüllen, wird sie in den kommenden Monaten wieder aufleben und die Notwendigkeit einer Organisation und einer politischen Stimme der Arbeiter*innenklasse mit einer revolutionären sozialistischen Politik noch deutlicher zum Ausdruck bringen.

In Kolumbien hat die Bewegung durch das nationale Streikkomitee (Comité Nacional de Paro, CNP), das sich aus den Gewerkschaften und einigen Studierendengewerkschaften zusammensetzt, eine stärker organisierte Form angenommen. Leider wurde dies von den Gewerkschaftsführer*innen behindert. Lokale Streik- und Verteidigungskomitees, die gebildet wurden, hätten sich in einer nationalen Versammlung von gewählten Delegierten zusammenfinden müssen, um sich auf einen Plan zum Sturz der Regierung und zu ihrer Ersetzung durch eine Regierung der Arbeiter*innen, Bauern und Bäuerinnen, indigenen Menschen und der Armen zu einigen. Anstatt einen Kampf zum Sturz der Regierung zu beginnen, die am seidenen Faden hing, brach die CNP die Proteste ab.

Die Notwendigkeit einer unabhängigen Organisation und eines unabhängigen Programms der Arbeiter*innenklasse ist für den Erfolg der neuen Welle der politischen Radikalisierung von zentraler Bedeutung. Der Druck, sich mit “fortschrittlichen” oder “demokratischen” Teilen der Kapitalist*innenklasse zu arrangieren, kommt in diesen Bewegungen wieder zum Vorschein und führt dazu, dass Parteien und Führer*innen der Linken programmatische Kompromisse eingehen, um Bündnisse mit ihnen zu schließen. Die Einheit der Massen – der Arbeiter*innen, der Jugend und all jener, die vom Kapitalismus ausgebeutet werden – ist notwendig. Dies ist jedoch nicht dasselbe wie ein Kompromiss mit “liberalen” Kapitalist*innen, der den Weg zur Niederlage der Bewegung darstellt.

In Brasilien hat einer der Führer der PSOL (Partei des Sozialismus und der Freiheit), Marcelo Freixo, die Partei verlassen, die er 2005 mit gegründet hatte. Er hat sich der kapitalistischen, falsch benannten Brasilianischen Sozialistischen Partei angeschlossen und behauptet, dass es bei den nächsten Wahlen nicht um “links gegen rechts, sondern um Zivilisation gegen Barbarei” gehen würde. Er argumentierte, dass der Austritt aus der Partei notwendig wurde, um rechte Persönlichkeiten anzuziehen, die sich gegen Bolsonaro stellen, und fügte hinzu, dass die PSOL schließlich einer Koalition mit den rechten Anti-Bolsonaro-Kräften beitreten werde. In seiner Kampagne für das Amt des Gouverneurs von Rio hat Freixo Raul Jungmann, den ehemaligen Minister für Verteidigung und öffentliche Sicherheit in der rechtsgerichteten Regierung von Michel Temer, als seinen Berater für die Strafverfolgung benannt!

Das CWI ist dafür, dass die PSOL bei jeder Präsidentschaftswahl antritt und für eine unabhängige Klassenposition kämpft, um die Kräfte für den Kampf für eine sozialistische Alternative vorzubereiten. In der zweiten Runde der Wahl, höchstwahrscheinlich Bolsonaro gegen Lula, wäre es notwendig die Stimme gegen Bolsonaro abzugeben.

Der Sieg von Castillo in Peru und das Wachstum der Partei, die ihn unterstützt hat – Peru Libre, die “Marxismus und Leninismus” vertritt – hat die herrschende Klasse in Angst und Schrecken versetzt. Die entscheidende Frage ist nun, welche Maßnahmen Castillo ergreifen wird, um mit dem Kapitalismus zu brechen. Während seine Wahl einen großen Schritt nach vorn bedeutet, hat er während des Wahlkampfes sein Programm “abgemildert”. Seit seiner Wahl haben seine Wirtschaftsberater*innen erklärt, dass seine Regierung den Markt respektieren und die Rückzahlung der Auslandsschulden Perus einhalten werde. In Chile haben einige Führer*innen der Kommunistischen Partei, die auf eine Präsidentschaftskandidatur hoffen, erklärt, dass sie gegen jegliche Verstaatlichung sind!

Castillos Sieg wird ein neues Kapitel in den Kämpfen der Massen in Peru aufschlagen, und die Aussicht auf eine Massenbewegung könnte ihn zu einem radikaleren Kurs zwingen und dem Kapitalismus einen Schlag versetzen. Wenn jedoch ein Programm zum Bruch mit dem Kapitalismus nicht umgesetzt wird, wird dies den reaktionären rechten Kräften Zeit geben, sich neu zu formieren und zurückzuschlagen. In Bolivien ist es Morales nicht gelungen, mit dem Kapitalismus zu brechen, und er wurde durch einen effektiven Putsch abgesetzt, woraufhin seine Regierung zurücktrat. Dies ist eine Warnung für Castillo. Auch wenn Morales’ Partei MAS bei den Wahlen 2020 wieder an die Macht in Bolivien kam, bleibt sie im Kapitalismus gefangen, ohne von dem wirtschaftlichen Aufschwung zu profitieren, den Morales während eines Großteils seiner Amtszeit (2016-2019 Anm. d. Ü.) hatte und der auf dem Boom der Rohstoffpreise beruhte.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass bei dieser neuen Welle des Aufruhrs und des Kampfes die Lehren aus der “rosa Welle” gezogen werden. Die revolutionären Umwälzungen gingen in Venezuela, Bolivien und Ecuador am weitesten. Doch das Versäumnis, mit dem Kapitalismus zu brechen, und die bürokratischen, korrupten Methoden von oben nach unten, die von den meisten Führungen in diesen Ländern angewandt wurden, wirkten wie eine Bremse auf die Bewegung und führten zu einer sozialen und wirtschaftlichen Katastrophe, insbesondere in Venezuela und Ecuador. In Ecuador hat dies dazu geführt, dass der rechte Flügel eine Zeit lang wieder Fuß fassen konnte. Venezuela steht, wie einige andere Länder, darunter auch Teile Mexikos, vor einem sozialen Zerfall und einer humanitären Katastrophe, da Millionen Menschen aus dem Land geflohen sind. Das von Biden fortgesetzte US-Embargo gegen Venezuela und Kuba hat die Situation zweifellos verschlimmert. Mit einem Bruch mit dem Kapitalismus und einem echten System der demokratischen Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung hätte dies jedoch überwunden werden können, und es hätte ein Appell an die Arbeiter*innenklasse des übrigen Lateinamerikas ergehen können.

Die Notwendigkeit einer politisch bewussten Bewegung der Arbeiter*innenklasse mit Arbeiter*innendemokratie und -kontrolle ist von entscheidender Bedeutung, ebenso wie der Aufbau von Massen-Arbeiter*innenparteien mit sozialistischer Politik, um mit dem Kapitalismus zu brechen. Bürokratische, von oben verordnete Methoden sind nicht der Weg zur sozialistischen Revolution. Die Wahlen in Nicaragua machen deutlich, zu welchem Desaster solche Methoden führen können. Die sandinistische Revolution von 1979 stürzte die Somoza-Diktatur. Die Revolution brach jedoch nicht endgültig mit dem Kapitalismus und bediente sich bürokratischer Verwaltungsmethoden. Teile der Führung, insbesondere Daniel Ortega, schwenkten nach rechts.

Bei den Wahlen 1990 von Violeta Chamorro besiegt, kam Ortega 2006 wieder an die Macht, nachdem er einen Pakt mit der römisch-katholischen Kirche geschlossen hatte. Er regiert nun eine korrupte Dynastie mit seiner Frau als Vizepräsidentin. Ein Aufstand im Jahr 2018 wurde brutal niedergeschlagen. Durch die Verhaftung von Gegner*innen, darunter ehemalige Sandinist*innen, die an dieser Wahl teilgenommen hatten, hat sich das Ortega-Regime wieder zu einem Somoza-Regime der zweiten Generation entwickelt. Derselbe Prozess hat Venezuela unter Maduro erfasst.

Die neue Welle des Kampfes und der politischen Radikalisierung zeigt deutlich die Notwendigkeit, Massenparteien der Arbeiter*innenklasse mit einem revolutionären sozialistischen Programm aufzubauen. In Argentinien haben die in der FIT (Frente de Izquierda, Front der Arbeiter*innenlinken) zusammengeschlossenen Parteien, die “trotzkistischen” Ideen anhängen, erhebliche Wahlerfolge erzielt. Um eine echte Massenkraft zu werden, muss sie jedoch Millionen von Arbeiter*innen gewinnen, die immer noch aus Loyalität für die Peronist*innen stimmen. Dazu ist ein nicht-sektiererischer Ansatz und eine nicht-sektiererische Methode erforderlich. Das Fehlen von sozialistischen Massenparteien der Arbeiter*innenklasse mit einem revolutionären Programm eröffnet die Aussicht auf eine langwierigere Reihe von Kämpfen und Umwälzungen, auf den Kampf zwischen den Kräften der Revolution und der Konterrevolution, bis diese Frage der Führungskrise gelöst ist.

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