Aber der neue Präsident vertritt nicht die Interessen der Massen
Am Sonntag, den 19. Dezember, fand in Chile die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Gabriel Boric vom Wahlbündnis Frente Amplio errang einen überwältigenden Sieg mit mehr als viereinhalb Millionen Stimmen (55,87 %). Der ultrarechte Kandidat José Antonio Kast von der Christlich-Sozialen Front erhielt dagegen nur etwas mehr als dreieinhalb Millionen Stimmen (44,13 % der abgegebenen Stimmen).
von Celso Calfullan, Socialismo Revolucionario (CWI in Chile)
Hunderttausende gingen im ganzen Land auf die Straße, um den Sieg von Boric zu feiern. Jetzt sind die Erwartungen an ihn hoch. Die herrschende Klasse übt bereits massiven Druck auf Boric aus, und dieser hat bereits versucht, zu beschwichtigen. Unter dem Druck der Massenbewegung und der Forderung nach Veränderungen könnte Boric jedoch gezwungen sein, weiter zu gehen, als er will.
Das Ergebnis hat viele Menschen verblüfft. Es hat die Anhänger*innen der extremen Rechten demoralisiert, die davon ausgingen, dass die Wahl sehr knapp ausfallen und Stimme für Stimme ausgezählt werden müsste. Was sie nicht erwartet hatten, ist, dass im zweiten Wahlgang 1.200.000 mehr Menschen ihre Stimme abgegeben haben als im ersten Wahlgang. Dabei handelt es sich hauptsächlich um junge Menschen, die eine tiefe Abneigung gegen den rechtsextremen Kandidaten empfanden. Kast versprach eine Reihe extrem reaktionärer Maßnahmen, welche einen massiven Rückschlag für die Gesellschaft bedeutet hätten.
Viele sind nun der Ansicht, dass diese Wahl viel mehr als eine einfache Personenwahl war, sondern dass es sich im Grunde um eine Volksabstimmung über die letzten Reste der Pinochet-Diktatur und deren arbeiter*innen- und armenfeindlicher Politik handelte. Viele denken auch, die Wahl zeige, dass die Hoffnung auf einen Wandel die Angst besiegt hat, welche die Ultrarechten zu schüren versuchten, um sich jeglichen Veränderungen zu widersetzen.
Viele derjenigen, die für Boric gestimmt haben, taten dies, um Kast und seine zutiefst reaktionäre Politik abzulehnen. Vor allem die Jugend wandte sich eindeutig gegen das rechtsradikale Programm von Kast, das die Pinochet-Diktatur rechtfertigt und die Freisprechung von zahlreichen damaligen Tätern vorsieht, die derzeit für die von ihnen begangenen Gräueltaten inhaftiert sind. Die Massen haben gegen den Kandidaten der extremen Rechten gestimmt, der die wenigen Sozialleistungen, die der kapitalistische Staat den am meisten unterdrückten Teilen der Gesellschaft gewährt, abschaffen wollte.
Die jungen Leute haben gegen einen frauenfeindlichen Kandidaten gestimmt, der versprochen hat, die Unterstützung für alleinerziehende Mütter abzuschaffen (Leistungen würden nur noch an verheiratete Frauen gezahlt) und der das staatliche Frauenministerium abschaffen und Abtreibungen in bestimmten Situationen verbieten wollte. Die Umsetzung dieser Maßnahmen hätte einen großen Rückschlag für die Gesellschaft bedeutet und soziale Errungenschaften zunichte gemacht, die in jahrelangen Kämpfen erreicht worden waren.
Kast wollte auch das Rentenalter auf 75 Jahre anheben und das private Rentensystem AFP beibehalten, dessen Abschaffung große Teile der Bevölkerung seit Jahren fordern. Millionen von Arbeiter*innen und ihre Familien sind im ganzen Land auf die Straße gegangen, um ein Ende des AFP-Systems zu fordern, das nur den Arbeitgeber*innen dient, nicht aber den Lohnabhängigen, die der Rente entgegensehen.
Kast hat sich für eine stärkere Unterdrückung des Mapuche-Volkes und für eine allgemeine Militarisierung von dessen Territorium eingesetzt. Er ist ein Rassist, dem es schwer fällt, seinen Hass auf die indigenen Völker, insbesondere die Mapuche, zu verbergen.
Auch seinen seinen Hass auf die LGBTQ+-Gemeinschaft konnte Kast nicht verbergen.
Im Wahlkampf versuchte Kast, die Sorge von Teilen der Bevölkerung über Einwanderung zu seinen Gunsten zu nutzen, indem er eine fremdenfeindliche Politik gegenüber Migrant*innen forderte. Er schlug vor, einen massiven Graben im Norden des Landes zu bauen, um Migrant*innen an der Einreise nach Chile zu hindern. Ein lächerlicher Plan, der jedoch dazu dienen sollte, die Unterstützung rassistischer und fremdenfeindlicher Teile der chilenischen Bevölkerung zu gewinnen, die derzeit eine Minderheit darstellen.
Keine Stimme für Boric, sondern gegen Kast
Ein erheblicher Prozentsatz der Stimmen für Boric, waren vor allem Stimmen gegen Kast und die Rechten, welche Chile gern in die Zeiten der Pinochet-Diktatur zurückversetzen wollen.
Wir von Socialismo Revolucionario (chilenische Sektion des CWI) haben ebenfalls dazu aufgerufen, gegen Kast zu stimmen, was in der Tat bedeutete, die Stimme für Boric abzugeben. Das bedeutete allerdings nicht, einen Blankoscheck für seine Politik zu unterschreiben, sondern eine kritische Stimmabgabe die uns auf dieselbe Seite wie die jungen Leute stellte, die sich Kast entgegenstellen und einen Sieg der Rechten verhindern wollten. Wir konnten bei dieser Wahl nicht neutral sein. Es war unsere Pflicht, uns auf die Seite der Arbeiter*innen, der Frauen, der Jugendlichen, der Mapuches, der LGBTQ+-Gemeinschaft, die Kast zurecht verachten, und all derer zu stellen, die diesem ultrarechten Kandidaten entgegentreten wollten. Es waren die jungen Menschen, die den Ausgang dieser Wahl entschieden.
Erster Wahlgang- “die Linke hatte keinen Kandidaten”
Unsere Position im Bezug auf den ersten Wahlgang war die, dass es keinen linken Kandidaten gab. Das lag daran, dass wir uns mit der Kandidatur von Boric und anderen vermeintlich “progressiven” Kandidaten, die keine wirkliche Alternative boten, überhaupt nicht identifizieren konnten. Wir waren und sind gegen einen erheblichen Teil der Politik von Boric. Unter anderem waren wir mit ihm nicht einverstanden, weil er als Parlamentarier die kritischste Phase der Massenkämpfe des Jahres 2019 kritisierte. Er hat im November 2019 den Pakt für “sozialen Frieden und eine neue Verfassung” unterzeichnet. Dieser Pakt war ein politischer Schachzug seitens der Regierung, um die Massenbewegung zu bremsen und den derzeitigen Präsidenten Piñera zu retten und ihn vor dem Rücktritt zu bewahren, den Millionen von Demonstrant*innen forderten und bereit waren auf der Straße durchzusetzen.
Boric war auch mitverantwortlich für die Verabschiedung repressiver Gesetze gegen junge Menschen, die auf die Straße gingen, um zu kämpfen, wie zum Beispiel das “Anti-Barrikaden-Gesetz”. Mit Hilfe dieses Gesetzes werden in Chile bis heute zahlreiche Menschen aus politischen Gründen gefangen gehalten. Ohne den Kampf dieser jungen Menschen, die jetzt im Gefängnis sitzen, die den Volksaufstand gefördert haben, wäre all das [die Fortschritte, A.d.Ü.], was wir heute sehen, nicht möglich.
Der Hauptwiderspruch besteht weiterhin zwischen Kapitalismus und Sozialismus
Wie wir in Bezug auf den zweiten Wahlgang der Wahl erklärt haben, waren beide Kandidaten trotz der weit verbreiteten Ängste vor dem rechtsextremen Programm Kasts dennoch Vertreter der Elite dieses Landes, wenn auch mit unterschiedlicher Politik. Keiner von beiden vertritt die Interessen der Arbeiter*innenklasse. Es ist klar, dass wir keinem der beiden vertrauen können, auch wenn Kast mit seinem faschistischen Gedankengut im zweiten Wahlgang der gefährlichere war.
All diejenigen, die im Oktober 2019 auf die Straße gegangen sind, um für substanzielle Veränderungen zu kämpfen, einschließlich derer, die getötet, verstümmelt und inhaftiert wurden, wurden leider von keinem der Kandidaten oder dem zukünftigen Präsidenten vertreten.
Wir Arbeiter*innen brauchen eine eigene politische Vertretung. Wir brauchen eine nationale Versammlung von Delegierten der Gewerkschaften, der sozialen- und Volksbewegungen, des Mapuche-Volkes und der Studierenden, um für die kommenden Kämpfe zu planen und die Notwendigkeit des Aufbaus einer Arbeiter*innenpartei zu diskutieren.
Die Regierung Boric wird unweigerlich unter großem Druck der Geschäftsleute und der Elite dieses Landes stehen, weiterhin die Veränderungen zu verhindern, die von der Mehrheit der Bevölkerung gefordert werden und auf deren Umsetzung wir bis jetzt warten.
Wir müssen darauf bestehen, dass nur eine Arbeiter*innenregierung akzeptabel ist, die sich klar zur Aufgabe macht, radikale Maßnahmen zu ergreifen; die Verstaatlichung der Banken, der Monopole, der Großgrundbesitzer*innen und der Forstbetriebe und die Re-Verstaatlichung von Kupfer, Lithium, Wasser und allen natürlichen Ressourcen, die allen Bewohnern dieses Landes gehören und nicht nur dem reichsten ein Prozent Chiles, das sie sich angeeignet hat. Diese müssen unter demokratische Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innen und der Bevölkerung gestellt werden.
Nur so können wir den Arbeiter*innen und ihren Familien menschenwürdige Arbeitsplätze, menschenwürdige Renten, eine hochwertige Gesundheitsversorgung und Bildung und Wohnraum sichern. Mit anderen Worten: Würde für alle arbeitenden Menschen und nicht nur für die Elite.
Wir fordern auch die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen.
Wenn all dies nicht umgesetzt wird, können die enormen Erwartungen, die mit dem Sieg von Boric geweckt wurden, schnell ins Gegenteil verkehrt werden. Wenn die Versprechen, die im Wahlkampf gemacht wurden, wieder nicht erfüllt werden, wie es in den letzten dreißig Jahren in Chile der Fall war, werden die Massen wieder auf die Straße gehen.