Ein „Interview“ mit Rosa Luxemburg über Krieg, Frieden und den Kapitalismus
Das folgende „Gespräch“ mit Rosa Luxemburg hat in Wirklichkeit natürlich nie stattgefunden. Trotzdem sind alle Antworten von Rosa „echt“. Wir haben diese Form der Darstellung ihrer Gedanken zu den Themen Frieden, Abrüstung, Militarismus und Krieg gewählt, weil wir es für die einfachste Vorstellung ihrer Ideen halten. Es ist uns klar, dass das Herausgreifen von Zitaten, die vor mehr als 100 Jahren geschrieben wurden, problematisch ist. Wir haben nur allgemeine Aussagen gewählt, die wir auch heute noch für gültig halten und die auf die heutige Situation angewendet werden können.
Wenn Rosa Luxemburg in diesem Gespräch von der Sozialdemokratie spricht, versteht sie darunter die sozialistische SPD vor dem Ersten Weltkrieg, in der sie die führende Person des marxistischen Flügels war.
Putin wirft der NATO vor, dass sie ihr Versprechen von 1990, die NATO nicht in den Osten auszuweiten, gebrochen hat. Der Westen wirft der Putin-Regierung den Bruch des Minsker Abkommens und des Völkerrechts vor. Verträge und Absprachen werden also gar nicht eingehalten.
Welches politische Kind weiß nicht heute, dass Verträge nur dazu gemacht werden, um bei entsprechender Verschiebung der Kräfte gebrochen zu werden? Wo ist bis jetzt ein internationaler Staatsvertrag, der nicht gebrochen worden wäre? An die Unantastbarkeit der internationalen Verträge kann nur glauben, wer keine Ahnung davon hat, dass sich die internationale Lage in ständigem Fluss befindet.
Die ukrainische Regierung hat am 27.2.2022 eine Völkermordklage am Internationalen Gerichtshof in Den Haag eingereicht und verlangt eine Eilentscheidung gegen die russische Regierung. Was ist davon zu erwarten?
Nicht nur töricht, sondern verhängnisvoll ist es, den Kampf gegen den Krieg durch einen Kampf um Schiedsgerichte zu ersetzen oder dem Kampf um Schiedsgerichte im Kampf gegen den Krieg auch nur eine nennenswerte Rolle einzuräumen.
Die weltweiten Rüstungsausgaben haben im jahr 2020 trotz Corona einen neuen Rekord von 1,96 Billionen US-Dollar erreicht. In 25 Ländern wurden im Jahr 2020 insgesamt 29 Kriege und Bürgerkriege gezählt. Die Bundesregierung hat am 27.2.2022 ein Aufrüstungsprogramm von hundert Milliarden Euro im Jahr 2022 angekündigt und will dauerhaft die Rüstungsausgaben auf mehr als zwei Prozent des Bruttosozialprodukts erhöhen. Wie ist diese Militarisierung einzuschätzen?
Mit der Fortentwicklung des Kapitalismus und des Weltmarktes wachsen und steigern sich diese Gegensätze zusammen mit den inneren Klassengegensätzen. An die Möglichkeit, diese internationalen Konflikte abflauen zu lassen, kann nur glauben, wer an die Milderung und Abstumpfung der Klassengegensätze, an die Eindämmung der wirtschaftlichen Anarchie des Kapitalismus glaubt.
Siehst Du denn überhaupt eine Möglichkeit, abzurüsten?
Die Einschränkung der Rüstung liegt nicht auf der Linie der Fortentwicklung des internationalen Kapitalismus. Nur wer einen Stillstand in der Weltpolitik erhofft, kann einen Stillstand in den Fortschritten des Militarismus für wahrscheinlich halten.
Nach der Verkündung des 100 Milliarden schweren Aufrüstungsprogramms für die Bundeswehr sind die Aktienkurse der Rüstungskonzerne wie Rheinmetall, HENSOLDT, Thyssenkrupp und Thales sofort um bis zu sechzig Prozent gestiegen.
Der Militarismus scheint rein ökonomisch für das Kapital als ein Mittel ersten Ranges zur Realisierung des Mehrwerts.
Doch den größten Nutzen aus der Rüstung der großen Armeen ziehen die Fabrikanten von Eisen und Stahl, Kanonen, Waffen und Panzerschiffen wie auch die verschiedenen Bekleidungs-und Nahrungsmittellieferanten der Armee. Hunderte von Millionen wandern auf diese Weise von der Regierungskasse in die Tasche einer Handvoll von Kapitalisten…
Was bei militärischen Lieferungen hinzukommt, sind die unaufhörlichen technischen Umwälzungen und das unaufhörliche Wachstum der Ausgaben, so dass der Militarismus eine unerschöpfliche Quelle der kapitalistischen Gewinne darstellt. Der Militarismus bildet für die Kapitalistenklasse ökonomisch die glänzendste Anlageart wie gesellschaftlich und politisch die beste Stütze ihrer Klassenherrschaft.
Dem Volk wird gewöhnlich eingeredet, das Militär sei nötig zur Verteidigung des Landes gegen den Überfall der Feinde.
Und ein militärischer Angriff wird in einen Akt der Verteidigung umgedeutet. Putin rechtfertigt den Einmarsch in der Ukraine mit dem Argument, einen Genozid an der russischen Bevölkerung in der Ostukraine und den Vormarsch der NATO zu verhindern. Als die NATO 1999 78 Tage lang Jugoslawien bombardierte hat der Grüne Außenminister Joschka Fischer behauptet, es ginge darum ein „neues Auschwitz“ an den Kosovaren zu verhindern. Die Ampel-Regierung begründet die massive Steigerung der Rüstungsausgaben und die Anschaffung von modernen Waffen bis hin zur Teilnahme an der Nuklearfähigkeit mit der deutschen Verteidigungsfähigkeit. Wie siehst Du das?
Hier haben wir wieder als Basis der ganzen politischen Orientierung jene famose Unterscheidung zwischen Verteidigungskriegen und Angriffskriegen. Was ist in der Tat ein Verteidigungskrieg? Wer wird es übernehmen, mit Sicherheit von einem Kriege zu behaupten, er gehöre zu dieser oder jener Kategorie? Und wie leicht ist es für die Diplomatie eines Militärstaates, durch einfache Lücken und Tücken einen schwachen Gegner zum Angriff zu zwingen, wenn ihm selbst der Krieg erwünscht ist?
Wenn es nicht um die Verteidigung geht, um was dann?
In Wirklichkeit werden diese gewaltigen Armeen nicht für die Verteidigung des Landes gebraucht, sondern für zwei andere Zwecke: für den Raub fremder Länder und um die werktätige Bevölkerung im eigenen Land in der Sklaverei der herrschenden Ausbeuter zu halten.
Diese Armeen müssen sie jedoch aus der werktätigen Bevölkerung und der Mittelschicht rekrutieren.
Freilich dient das arbeitende Volk selbst im Militär. Der Soldat ist der gleiche Arbeiter und Bauer in Uniform. Aber der mehrjährige Militärdienst in Kasernen und die militärische Disziplin sind vorsätzlich so eingerichtet, aus dem Arbeiter und dem Bauern in Uniform ein gehetztes Tier zu machen. Nach dem mehrjährigen Drill vergisst der Soldat, dass er ein Kind des Volkes ist. So haben die herrschenden Klassen und Regierungen im Militarismus eine Mordwaffe gegen die bewussten Arbeiter.
Viele Linke können sich aus diesen Gründen nicht vorstellen, dass je eine Revolution gelingen wird. Dabei haben die russische und die deutsche Revolution ja gezeigt, dass die Soldaten auf die Seite der Revolution übergelaufen sind und so der Krieg beendet wurde.
Sie vergessen immer und immer wieder, dass eine ernste Massenaktion des Proletariats selbst nicht anders als in einer revolutionären Situation stattfinden kann, in einer Situation, die bereits die ganze Volksmasse, das ganze Land zur Gärung gebracht hat. Ist dem aber so, dann erscheint auch die „starre Wand der Bajonette“ unter einem ganz anderen Gesichtswinkel, denn in den revolutionären Momenten, wo die Sache der kämpfenden Proletariats zur Sache des ganzen arbeitenden Volkes wird, da erwacht auch im Soldaten der Bürger, der Sohn des Volkes, der Proletarier.
Diejenigen, die das heutige Militär als eine unwandelbare feindliche Macht der Revolution des Volkes gegenüberstellen, vergessen, dass die Revolution das Militär selbst in ihren Strudel zieht.
Welche Rolle spielt der Militarismus für den Kapitalismus?
Der Militarismus ist nicht der Schwerpunkt, sondern bloß ein Werkzeug der Klassenherrschaft. Der Militarismus ist der konkreteste und wichtigste Ausdruck des kapitalistischen Klassenstaates und wenn wir den Militarismus nicht bekämpfen, dann ist unser Kampf gegen den kapitalistischen Staat nichts als eine leere Phrase.
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Viele führende Funktionäre der Partei DIE LINKE richten moralische Appelle an die Kriegstreiber.
Der kapitalistische Imperialismus soll „moralisch“ werden. Das ist ungefähr dasselbe, wie von der Prostitution zu verlangen, sie soll „moralisch“ werden.
Willst Du damit sagen, dass Abrüstung im Kapitalismus unmöglich ist?
Man muss doch geradezu die Augen schließen, um nicht zu sehen, dass die Rüstungen eine naturnotwendige Konsequenz der ganzen ökonomischen Entwicklung ist. Solange das Kapital herrscht, werden Rüstungen und Kriege nicht aufhören.
In der innerparteilichen Auseinandersetzung der SPD vor dem Ersten Weltkrieg glaubten viele SPD-Funktionäre damals, die Gegensätze zwischen den Staaten und Klassen würden sich in der modernen bürgerlichen Gesellschaft automatisch verringern. Wie sah es vor dem Ersten Weltkrieg mit solchen „Friedenstendenzen” aus?
Werfen wir einen Blick auf die Vorgänge der letzten fünfzehn Jahre (1896 bis 1911 die Red.) der internationalen Entwicklung. Wo zeigt sich da irgendeine Tendenz zum Frieden, zum Abrüsten? Schon die nackten Tatsachen zeigen, dass seit fünfzehn Jahren beinahe kein Jahr ohne eine Kriegsaktion vergangen ist.
Wie kann man angesichts dessen von Friedenstendenzen der bürgerlichen Entwicklung reden? Wo sind sie zum Ausdruck gekommen?
Heute ist es nicht anders. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist in der Welt kein einziger Monat ohne kriegerische Auseinandersetzung vergangen.
Dies den Massen auseinanderzusetzen, alle Illusionen in Bezug auf die Friedensmache von bürgerlicher Seite rücksichtslos zu zerzausen und die proletarische Revolution als den einzigen und ersten Akt des Weltfriedens zu erklären, dass ist die Aufgabe der Sozialdemokratie angesichts aller Abrüstungspossen, ob sie in Petersburg, London oder Berlin arrangiert werden.
Nach dem Ersten Weltkrieg entstand der Völkerbund, nach dem Zweiten Weltkrieg die Vereinten Nationen. Die UNO hat den Anspruch, das sogenannte „Völkerrecht“ durchzusetzen.
Der Schiedsgedanke ist nicht nur utopisch, sondern gefährlich und schädlich, weil er Illusionen über den möglichen Sinn und die mögliche Wirksamkeit diplomatischer Abmachungen erweckt; gefährlich und schädlich, weil er die politische Orientierung der Massen, ihre Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge und Triebkräfte der Entwicklung verbaut und verwirrt, weil er die Aufmerksamkeit des Proletariats von dem ablenkt, worauf es für die Arbeiter allein ankommt.
Was hältst Du davon mit bürgerlichen Parteien für den Frieden zu demonstrieren, die in der Regierung die Aufrüstung der nationalen Armee vorantreiben?
Wir können ebensowenig eine ständige Friedensaktion gemeinsam mit Leuten veranstalten, die frischweg von den Friedensbanketten und –reden für neue Militärvorlagen stimmen. Der Angelpunkt unserer Agitation gegen die militärische Rüstungen ist der Hinweis darauf, dass sie mit fataler Notwendigkeit zum Ausbruch der Kriege führen, damit somit wer für die Vergrößerung der Heere eintritt, damit die Verantwortung für künftige Kriegskatastrophen auf sich lädt.
Aber viele Politiker und Parlamentarier denken wahrscheinlich tatsächlich, dass die Bundeswehr nie einen Krieg anzetteln wird
Nur hängen die Schicksale des Friedens und des Krieges zwischen den Völkern leider nicht von den subjektiven Wünschen und dem guten Herzen ihrer Parlamentarier, sondern von objektiven materiellen Triebkräften der kapitalistischen Entwicklung, sondern von objektiven materiellen Triebkräften der kapitalistischen Entwicklung ab, und es war seit jeher der Stolz und die Stärke der sozialdemokratischen Aufklärung, dass sie in den Massen keine Illusionen über jene Triebkräfte aufkommen ließ
Kann die Forderung nach Abrüstung im Kapitalismus überhaupt verwirklicht werden?
Alle Forderungen, die etwa auf die völlige stückweise Abrüstung, auf die Abschaffung der Geheimdiplomatie, auf Zerschlagung aller Großstaaten in nationale Kleinstaaten und dergleichen mehr hinauslaufen, sind samt und sonders völlig utopisch, solange die kapitalistische Klassengesellschaft das Heft in den Händen behält. Diese kann zumal unter dem jetzigen imperialistischen Kurs sowenig auf den heutigen Militarismus, auf die Geheimdiplomatie verzichten, dass die betreffenden Postulate eigentlich mit mehr Konsequenz allesamt auf die glatte „Forderung“ hinauslaufen; Abschaffung des kapitalistischen Klassenstaates.
Friede setzt also Sozialismus voraus?
Wir Sozialdemokraten sind keine Phantasten, deshalb geben wir uns nicht der Hoffnung hin, dass, solange der Kapitalismus auf Erden besteht, an eine Verwirklichung dieses vernünftigen Zustandes zu denken ist — nicht, solange wie eine Klasse die andere ausbeuten und knechten kann. Und gerade deshalb sind wir Sozialisten geworden, um Verhältnisse zu schaffen, in denen alle Menschen als Menschen leben.
Wer den Frieden will muss also für die sozialistische Revolution kämpfen?
Wir werden zusammen mit dem Sozialismus und den Interessen der Revolution auch die Interessen des Weltfriedens zu verteidigen haben…
Friede bedeutet Weltrevolution des Proletariats! Es gibt keinen anderen Weg, den Frieden wirklich herzustellen und zu sichern, als den Sieg des sozialistischen Proletariats.
Was bedeutet Sozialismus für Dich?
Das Wesen der sozialistischen Gesellschaft besteht darin, dass die große arbeitende Masse aufhört eine regierte Masse zu sein, vielmehr das ganze politische und wirtschaftliche Leben selbst lebt und in bewusster freier Selbstbestimmung lenkt. Von der obersten Spitze des Staates bis zur kleinsten Gemeinde muss deshalb die proletarische Masse die überkommenen Organe der bürgerlichen Klassenherrschaft: die Bundesräte, Parlamente, Gemeinderäte durch eigene Klassenorgane: die Arbeiter- und Soldatenräte ersetzen, alle Posten besetzen, alle Funktionen überwachen, alle staatlichen Bedürfnisse an dem eigenen Klasseninteresse und den sozialistischen Aufgaben messen. Und nur in ständiger, lebendiger Wechselwirkung zwischen den Volksmassen und ihren Organen, den Arbeiter- und Soldatenräten, kann ihre Tätigkeit den Staat mit sozialistischem Geist erfüllen. Die Proletariermassen müssen lernen, aus toten Maschinen, die der Kapitalist an den Produktionsprozess stellt, zu denkenden, freien, selbsttätigen Lenkern dieses Prozesses zu werden.
Das “Interview” führte Ursel Beck, Stuttgart