Deutschland und der Ukraine-Krieg

Vorwort der Neuerscheinung “Kampf um die Ukraine” aus dem Manifest-Verlag

Wir veröffentlichen hier das Vorwort des Mitherausgebers René Arnsburg zu dem Anfang April im Manifest-Verlag erscheinenden Buch “Kampf um die Ukraine”, das eine Textsammlung von dreißig Texten zum derzeitigen Ukraine-Krieg, der Ukraine-Krise 2014/2015 und historische Texte von Lenin und Trotzki zur Ukraine umfasst. Dieser Text beschäftigt sich vor allem mit der Politik Deutschlands in Bezug auf den Krieg und die Auswirkungen desselben auf die Bundesrepublik.

Das Buch kann hier vorbestellt werden: https://manifest-buecher.de/produkt/kampf-um-die-ukraine/

Drei Wochen. Drei Wochen hat es gedauert, um vom Kriegsbeginn zur Erweiterung der “nuklearen Teilhabe Deutschlands”1 zu kommen. Die von SPD-Kanzler Scholz auf der Sondersitzung des Bundestags am 26. Februar 2022 in einer Regierungserklärung mehrfach erwähnte Zeitenwende ist ein Befreiungsschlag für das deutsche Kapital. Dieses drängt seit längerer Zeit auf eine offensivere Außenpolitik, um Deutschland (sprich: den deutschen Unternehmen) ihren Anteil an der Welt zu sichern. Allein in diesem Jahr soll ein im Grundgesetz verankerter Sonderetat von 100 Milliarden Euro eingerichtet werden, um die Bundeswehr aufzurüsten und das NATO-Ziel von zwei Prozent des BIP für den jährlichen Etat soll zukünftig erfüllt werden.

Doch gehen wir ein paar Schritte zurück, denn weder hat die deutsche Regierung über Nacht die Notwendigkeit der eigenen Wehrfähigkeit auf Grund des Angriffs der russischen Armee auf die Ukraine entdeckt, noch ist dies der erste Krieg in Europa seit 1945, wie des öfteren fälschlich behauptete wurde.

Eines müssen wir uns an dieser Stelle schon einmal merken: Die bürgerlichen Medien haben jahrelang von konservativ bis linksliberal mit ihren scheinbaren inhaltlichen Unterschieden ihr Publikum beglückt. Seit dem 24. Februar 2022 ist man sich jedoch über die angebliche Verteidigung des Westens und der Demokratie gegen den Aggressor Putin in der Ukraine einig. Die Unterschiede bestehen lediglich darin, in welchem Maße die Vergleiche (Putin ist wahlweise Hitler oder Stalin) oder platte Lügen (der erste Krieg in Europa seit 1945) produziert werden. Gestritten werden darf auch über das “Wie” der beschlossenen Aufrüstung der Bundeswehr und der Unterstützung der Selenskyj-Regierung, nicht aber über das “Ob.”

Nun zu den Kriegen. Sollte man den Krieg um Zypern und die Besetzung des Nordteils der Insel durch den türkischen Staat in den 70er Jahren vergessen haben, so gibt es immer noch Kriege, die vielen im Gedächtnis sein sollten. In den 2000ern wurde in Tschetschenien, Georgien und Bergkarabach Krieg geführt.

Doch gerade die Beteiligung der deutschen Armee am Krieg in Ex-Jugoslawien 1999 sollte vielen Journalist*innen und Politiker*innen gut im Gedächtnis geblieben sein. Dies war auch so eine Zeitenwende, denn dies war die erste direkt Kriegsbeteiligung Deutschlands. Der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer sicherte sich die Unterstützung seiner Partei unter anderem mit der berühmten Aussage: ”Wir haben immer gesagt: ‚Nie wieder Krieg!‘ Aber wir haben auch immer gesagt: ‚Nie wieder Auschwitz!‘“ Die Medien haben damals ähnlich wie heute auf Kriegskurs umgeschwenkt und der falsche Faschismus-Vergleich und die ihm innewohnende Relativierung der Shoa war damals wie heute schnell zur Hand. Es ist schon fast ironisch, dass damals die erste Rot-Grüne Koalition auf Bundesebene diesen ersten Angriffskrieg mit deutscher Beteiligung durchsetzte und es jetzt, nach über 20 Jahren Pause und nur wenige Monate nach der Regierungsbildung, wieder um die Frage des Eingriffs in einen Krieg geht. Mit Annalena Baerbock obliegt es wieder einem Mitglied der grünen Partei auf dem Posten der Außenministerin die Geschäfte der deutschen Regierung nach außen hin zu vertreten.

Wenn auch der Schwenk in der offiziellen Außenpolitik heute ein ähnliches Gewicht wie damals hat, waren die Folgen in Richtung konzentrierter Aufrüstung der Bundeswehr und eines verstärkten Militarismus weniger schwerwiegend, als wir jetzt annehmen können. Zwar gab es gegen die Beteiligung am Krieg in Kosova keine Massenbewegung, aber 2001 griff die US-Armee Afghanistan und 2003 den Irak an. Es gab Massenbewegungen gegen den Irak-Krieg, sogar Gerhard Schröder versagte dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush junior die aktive Gefolgschaft. Die Nutzung des deutschen Luftraums wurde zum Beispiel trotzdem gewährt. Das mag zum einen Teil mit dem Druck aus der Bevölkerung zu tun gehabt haben und zum anderen damit, dass den Interessen des deutschen Kapitals mit einer Nicht-Beteiligung an diesem verlustreichen Krieg, bei dem es wenig zu gewinnen gab, besser gedient war.

Eine Folge hatten die Massenbewegungen gegen den Krieg jedoch auf anderer Ebene. Es ging eine neue Generation auf die Straße und der Anti-Kriegs-Konsens, der in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung existierte, wurde so erneuert. Diese mehr oder wenige offene Ablehnung von Kriegen aus der Erfahrung der deutschen Geschichte war die Schmach der deutschen Bourgeoisie. Unter der Führung des US-Kapitalismus auf Weltebene konnte zwar nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland die Entmachtung der Kapitalist*innen verhindert werden und auch 1990 ging das westdeutsche Bürgertum als Sieger davon, als ihr System in der DDR wiederhergestellt wurde. Einer offensiven militärischen Einmischung zur Erweiterung der Zugriffs deutscher Unternehmen auf Arbeitskräfte, Rohstoffe und Absatzmärkte war jedoch enge Grenzen gesetzt. Das wog umso schwerer, als dass der Kampf um die Neuaufteilung der Welt mit dem Wanken der USA als Weltmacht Nummer Eins auf’s Neue entbrannt ist. Die deutschen Regierungen haben es hervorragend verstanden, ihren und damit den Einfluss der deutschen Unternehmen durch Wirtschafts-, Handels- und Außenpolitik in der EU und außerhalb durchzusetzen. Auch gab es militärische Beteiligungen an Missionen in Mali, Afghanistan und anderen Ländern. Aber das ist kein Ersatz für den Aufbau und Einsatz einer schlagkräftigen Truppe an Stellen, wo die friedliche Politik versagt. Das wird mit der zunehmenden Konkurrenz der Großmächte auf der Welt immer häufiger der Fall sein.

Die deutsche Bourgeoisie hat also mitnichten nach 1945 plötzlich zu einer friedliebenden Haltung gefunden, es waren die Umstände, die es ihnen aufzwangen.

Seit einigen Jahren läuft das Projekt, eine stärkere Beteiligung Deutschlands an den Konflikten in der Welt auch mit militärischen Mitteln wieder salonfähig zu machen. 2010 wurde die Aussage des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler zum Anlass genommen, seinen Rücktritt zu erwirken. Er sagte offen, dass die Interessen (freie Handelswege) Deutschlands am Hindukusch verteidigt werden. Die Aussage, dass Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird, stammt vom ehemaligen Verteidigungsminister Peter Struck (SPD), die er 2002 tätigte, um den Einsatz deutscher Soldat*innen in Afghanistan zu rechtfertigen.

Wenige Jahre später, am 31. Januar 2014, tritt Bundespräsident Joachim Gauck bei der Eröffnung der 50. Münchener Sicherheitskonferenz vor den Oberhäuptern der versammelten Rüstungsindustrie auf und beschwört eine neue Linie deutscher Außenpolitik.

Er sagt deutlich, was war und was sich ändern muss:

“Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte zunächst niemand, nicht im Ausland und nicht im Inland, Interesse an einer starken internationalen Rolle Deutschlands. […]

Tun wir, was wir tun könnten, um unsere Nachbarschaft zu stabilisieren, im Osten wie in Afrika? Tun wir, was wir tun müssten, um den Gefahren des Terrorismus zu begegnen? Und wenn wir überzeugende Gründe dafür gefunden haben, uns zusammen mit unseren Verbündeten auch militärisch zu engagieren, sind wir dann bereit, die Risiken fair mit ihnen zu teilen? Tun wir, was wir sollten, um neue oder wiedererstarkte Großmächte für die gerechte Fortentwicklung der internationalen Ordnung zu gewinnen? Ja, interessieren wir uns überhaupt für manche Weltgegenden so, wie es die Bedeutung dieser Länder verlangt? Welche Rolle wollen wir in den Krisen ferner Weltregionen spielen?[…]

Wir können nicht hoffen, verschont zu bleiben von den Konflikten der Welt. Aber wenn wir uns an deren Lösung beteiligen, können wir die Zukunft zumindest mitgestalten. […]

Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein. Eines haben wir gerade in Afghanistan gelernt: Der Einsatz der Bundeswehr war notwendig, konnte aber nur ein Element einer Gesamtstrategie sein. Deutschland wird nie rein militärische Lösungen unterstützen, es wird politisch besonnen vorgehen und alle diplomatischen Möglichkeiten ausschöpfen. Aber wenn schließlich der äußerste Fall diskutiert wird – der Einsatz der Bundeswehr –, dann gilt: Deutschland darf weder aus Prinzip “nein” noch reflexhaft “ja” sagen.[…]”

Es ist die Rede von Afrika und vom Nahen Osten, wo das NATO-Land und Deutschlands Verbündete, die türkische Regierung unter dem Autokraten Erdoğan, die kurdischen Gebiete im Norden Syriens bombardiert. Es ist jedoch auch die Rede vom “Osten” und das kann nicht verwundern, denn Ende 2013, Anfang 2014 war die Zeit der Unruhen und des Sturzes der Janukowitsch-Regierung in der Ukraine. Dies ist unter anderem in den Texten dieses Buches nachzulesen. Osteuropa und die Ukraine sind von großem Interesse für die deutsche Industrie. Es sind Rohstoffe auf der einen und die Produktion für die Autoindustrie in Ländern mit niedrigen Löhnen auf der anderen Seite und ihre geostrategische Position, die sie so wichtig machen. Nachdem pro-europäische Regierungen ab 2014 in der Ukraine sich an die Regierung putschten, konnte die deutsche Wirtschaft ihren Einfluss deutlich ausbauen. Die Handelsbeziehung erstreckten sich vor allem auf den Export von Maschinen, Technologie, Autos, chemischen und pharmazeutischen Erzeugnissen und den Import von Komponenten der Fahrzeugindustrie, Agrarerzeugnissen und Rohstoffen. Der Import stieg von 1,62 Mrd. Euro auf 3,09 Mrd. Euro und der Export von 3,58 Mrd. Euro auf 5,39 Mrd. Euro bis 2021.2 Wenn die Politik und die Medien von “westlichen Werten” sprechen, so meinen sie damit nicht etwa moralische Werte, sondern die in der Produktion geschaffenen und um diese geht es bei der Verteidigung der Ukraine gegen den Angriff durch Putin. Daneben spielen geopolitische Interessen eine gewichtige Rolle. Die russische Kapitalist*innenklasse hat das gleiche Interesse am Zugriff auf die Ukraine, an der Aufteilung der Welt nach ihren Vorstellungen wie andere kapitalistische Großmächte und speziell die Verteidigung gegen die Osterweiterung der NATO. Die Profitierenden dieser intensivierten Handelbeziehungen waren vor allem deutsche und zum Teil ukrainische Kapitalist*innen, jedoch nicht die Masse der Lohnabhängigen in der Ukraine selbst.

Nun haben es weder Joachim Gauck, noch einflussreiche Thinktanks wie die “Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)”3 geschafft, die nötige Akzeptanz für den neuen deutschen Militarismus zu schaffen. Was ihnen fehlte, war ein Krieg und zwar der richtige. Es wäre Unsinn, zu behaupten, die deutschen Kapitalist*innen und die Bundesregierung hätten es auf einen Krieg Putins gegen die Ukraine angelegt. Wie jedoch von EU und NATO seit Jahren Eskalation betrieben wird, geht aus vielen Texten hervor, die wir in diesem Buch zusammengestellt haben. Dennoch hieß es, die Gelegenheit zu nutzen und aus vollen Rohren ein mediales Trommelfeuer auf die Ohren und Augen der deutschen Öffentlichkeit loszutreten, um endlich den Hebel umzulegen.

Es wurde solange und soviel, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, schon vor Kriegsbeginn, von der Verteidigung des Westens gegen die russische Invasion berichtet, dass es sogar Kriegsfreiwillige gibt. Junge Menschen, vor allem Männer, ohne jegliche militärische Erfahrung, denken, sie ziehen in die Ukraine um die Freiheit zu verteidigen, wenn sie sich dort als Kanonenfutter verdingen. Auch wenn ihre Zahl nicht zu ermitteln ist, hat die Tagesschau darüber berichtet4 und in den sozialen Medien gibt es Mitteilungen über Menschen, die planen, in die Ukraine zu reisen. Die ukrainische Regierung gibt ihre Zahl im fünfstelligen Bereich an.5 Es ist davon auszugehen, dass ein Teil der Kriegsfreiwilligen zu rechtsradikalen Strömungen zählen, die gezielt rechte Regimenter wie Asow unterstützen und Kampferfahrung sammeln wollen.6 Besonders die faschistische Partei III. Weg und Teile der NPD unterhalten seit längerer Zeit Beziehungen zur Asow-Bewegung.

Es wurde gezielt die Angst geschürt, dass Putins Angriff nicht auf die Ukraine beschränkt bleiben könne, wenn er nicht gestoppt wird. Berichte über den Angriff auf die westukrainische Stadt Lwiw, nahe der polnischen Grenze, wurden mit Spekulationen verbunden, dass der Krieg sich auf Polen ausbreiten könne. Russland ist eine der größten Atommächte der Welt. Um die weitere Aufrüstung des Bundeswehr mit entsprechenden Trägerflugzeugen durchzusetzen, wird die Angst vor einem atomaren Erstschlag geschürt und Menschen decken sich mit Jodtabletten ein wie 1986 nach dem Reaktionunfall in Tschernobyl.

Eine so aufgebrachte Bevölkerung leistet keinen Widerstand und dass Angst ein Instrument der Kontrolle der Herrschenden ist, ist bereits seit langem erprobt. Die Großdemonstrationen für den “Frieden”, bei denen Regierungsmitglieder anwesend waren und bei denen es zum Teil sogar um eine Kriegsbeteiligung ging, waren wohl einmalig. Die Stimmung ist polarisiert und selbst überzeugte Kriegsgegner*innen waren vom schieren Ausmaß der Kriegs-Propaganda bis hin zu Starschnitten von Selenskyj im Spiegel (wie bereits 1999 siehe oben) erst einmal verunsichert. Aktuelle Umfragewerte zeigen knappe Mehrheiten für vermehrte Waffenexporte in die Ukraine, allerdings sind auch über ein Drittel dagegen.7 Dies sind allerdings nur Momentaufnahmen und je nach Kriegsverlauf und Veränderung der Situation in Deutschland selbst können sich Zustimmungswerte schnell ändern.

Die eingetretene Katastrophe…

Neben den notwendigen sachlicher Analysen zum Ursprung des Krieges, seines Verlaufs, der Interessen, die bei den kriegsführenden Parteien zugrunde liegen, muss man feststellen, dass die Auswirkungen für die betroffenen Menschen eine Katastrophe sind. Wie jeder Krieg, so verursacht auch dieser ein nicht in Worte zu fassendes Elend für die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, egal, welcher ethnischen Gruppe sie angehören.

Am 22. März sind in Deutschland offiziell mindestens 230.000 Geflüchtete aus der Ukraine registriert worden. Die Unterbesetzung der staatlichen Stellen lässt jedoch auf eine weitaus höhere Zahl schließen. Die Vereinten Nationen geben an, dass bislang 3,5 Millionen geflohen sind, wovon der größte Teil sich momentan in Polen aufhält.8 Hätte die ukrainische Regierung keine Generalmobilmachung aller Männer zwischen 18 und 60 jahren beschlossen, wären es wahrscheinlich noch mehr, auch wenn es sicher viele gibt, die bleiben und ihr Haus verteidigen und Hilfe vor Ort organisieren wollen.

Die Zerstörung im Land, der Verlust der Lebensgrundlage weiterer Millionen von Menschen in der Ukraine selbst lässt sich nicht beziffern und mit jedem Tag, an der der Angriff weitergeht, wird der Schaden größer.

Es steht außer Frage, dass allen, die fliehen müssen, eine sichere Route und bedarfsgerechte Unterkunft und Versorgung zur Verfügung gestellt werden muss. Unterstützt von den Medien gibt es unter der Bevölkerung in Deutschland eine große Solidarität mit den ankommenden Ukrainer*innen. Es gibt kein Einkaufszentrum, keinen Stadtteil, keine Behörde wo die Unterstützung und Sammlung von Sach- und Geldspenden kein Thema wäre. Innerhalb weniger Wochen wurden die Farben gelb und blau der ukrainischen Nationalflagge das Zeichen für Solidarität und Identifikation mit dem Schicksal der ukrainischen Menschen.

Gerade letzteres birgt jedoch Schattenseiten. Man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass sich unter dem Deckmantel der Ukraine-Solidarität einige reaktionäre Tendenzen breit machen. Nicht nur, dass es eine Art Ersatznationalismus gibt, weil in der Ukraine die “westliche Demokratie” verteidigt wird.

Es fängt bei einer antirussischen Stimmung an, die sich in Teilen bis zum antirussischen Rassismus steigert. Die Zusammenarbeit nicht nur mit russischen Institutionen und Unternehmen, sondern mit wirklichen und vermeintlichen Russ*innen wird in Frage gestellt. Supermarktketten boykottieren russische Produkte9, es wird diskutiert, russischstämmige Studierende von Hochschulprogrammen auszuschließen10 und vieles andere. Neben Sanktionen, die abzulehnen sind, wie in einem Beitrag dieses Buches dargestellt wird, gibt es vielzählige offene und subtile Maßnahmen, die weder Putin schwächen, noch Leute treffen, die in irgendeiner Weise am Krieg beteiligt sind. Schlimmste Auswirkungen sind Angriffe aus Russ*innen oder Einrichtungen wie die deutsch-russische Lomonossow-Schule in Berlin-Marzahn.11

Es ist auch nicht zu übersehen, dass mit der anti-russischen Propaganda auch der Antikommunismus verstärkt auftritt. Das Elend in der Ukraine nach 30 Jahren Kapitalismus wird der Sowjetunion zugeschrieben. Selbst Putin hat sich in einer prominenten Rede explizit gegen Lenin als Schuldigen für die Lostrennung der Ukraine von Russland ausgesprochen. Damit stellt er sich in die Tradition der Zaren, die über das Vielvölkergefängnis Russland bis 1917 herrschten und nicht der Bolschewiki, die das Selbstbestimmungsrecht der Nationen erst durchsetzten. Was es damit in der Ukraine auf sich hat und wie Lenin und andere zu der Frage der nationalen Selbstbestimmung wirklich standen, geht aus Texten dieses Buches hervor.

Die schnellen Maßnahmen des deutschen Staates zur unbürokratischen Unterbringung der ukrainischen Geflüchteten dürfte bei den Aktivist*innen, die sich seit Jahren für die Rechte Geflüchteter einsetzen, Erstaunen hervorgerufen haben. Nicht nur, dass Mittel und Möglichkeiten bereitgestellt werden, die sie seit Jahren für Menschen aus Syrien und afrikanischen Ländern fordern. In Berlin-Reinickendorf mussten mehrere hundert Asylsuchende, die seit längerem in sogenannten Tempo-Homes (Containerwohnungen) leben, diese verlassen, damit dort Menschen aus der Ukraine untergebracht werden können.12 Angesichts der Politik des Berliner Senats, der seit Jahren keine bedarfsgerechte, dezentrale Unterbringung, ganz zu schweigen von bezahlbaren Wohnungen baut und der über 100.000 Betten in Hotels, Hostels usw. in der Stadt, ist das ein Skandal.

Hier werden die Ärmsten und Schutzlosesten gegeneinander ausgespielt, während die Immobilienkonzerne jedes Jahr neue Rekordgewinne einfahren und Konflikte um den immer knapper werdenden Wohnraum weiter zugespitzt. Es wird mit jedem Tag dringender, endlich dafür zu sorgen, dass genügend Wohnraum für alle – bereits hier Wohnende und neu Ankommende – verfügbar ist. Das kann nur durch die Enteignung des bestehendes Bestandes und den Bau von zehntausenden Wohnungen jährlich geschafft werden.

Bereits 2015, als Geflüchtete aus Ländern kamen, die von der deutschen Politik und den Medien deutlich weniger willkommen geheißen wurden, handelte es sich nicht um eine “Flüchtlingskrise”, sondern eine Krise der Infrastruktur. Trotzdem klar ist, dass die Abschottung Europas nicht zu einem Ende der Flucht, sondern vor allem zu mehr Toten führen wird, wurden keine Kapazitäten aufgebaut, um den desolaten Zustand vor allem auf kommunaler und Landesebene zu beheben. So blieb es wieder, wie bereits vor sieben Jahren, ehrenamtlichen Initiativen überlassen, sich um die Versorgung der Ankommenden zu kümmern. Mehr noch als damals beteiligen sich Einzelpersonen an der individuellen Unterbringung Geflüchteter und die Solidarität ist sehr groß. Es gab eine ganze Welle von Fahrten an die polnisch-ukrainische Grenze, um Hilfsgüter zu liefern und Menschen mit nach Deutschland zu nehmen.

Feministische Aktivist*innen waren die ersten, die davor warnten, dass die mangelnde Kontrolle über individuelle Unterbringung zu einer Gefahr für Frauen und Kinder werden kann. Wenn jeder Mann behaupten kann, ein Zimmer frei zu haben und an die Grenze fährt, um eine oder mehrere Frauen und Kinder abzuholen, deren Männer das Land nicht verlassen dürfen, wird das manchmal nicht nur mit guten Absichten getan.

In einem Interview auf RBB24 sagte die Kinderrechtlerin Eirliani Abdul Rahman:

“Da Männer zwischen 18 und 60 Jahren nicht ausreisen dürfen, kommen die meisten Frauen und Kinder allein hier an. Sie verstehen oft die Sprache nicht, haben weder Familie noch Freunde hier. Viele von ihnen sind traumatisiert von der Brutalität des Krieges: zerstörte Infrastruktur, zerstörte Waisenhäuser, zerbombte Krankenhäuser und Schulen. Und dazu kommen die Herausforderungen als Flüchtling. Das kann dazu führen, dass sie schnell ein Angebot von jemanden annehmen, der irgendwo mit einem Schild steht und freie Übernachtungen anbietet. Leider kann derjenige ein Menschenhändler sein.

Vieles hängt derzeit an der mangelnden Koordination der Hilfsangebote. Alle Regierungen in Europa bemühen sich zwar um bessere Informationen für die Geflüchteten. Das wird mit der Zeit besser. Aber die Hilfsinitiativen waren gerade zu Beginn sehr chaotisch, und die Menschenhändler können ganz einfach in die Masse der hilfsbereiten Menschen eintauchen, wenn es keinerlei Registrierungs- und Überprüfungsverfahren für die Helferinnen und Helfer gibt.”13

Frauen und Mädchen aus der Ukraine gehören in den letzten 30 Jahren zu einer der größten Gruppen, die von Menschenhandel und Zwangsprostitution betroffen sind. Die Vereinten Nationen schätzen ihre Zahl auf 260.000 während dieser Jahre. Eine staatlich organisierte, transparente und durch Geflüchtete, Hilfsorganisationen, Beschäftigte usw. demokratisch kontrollierte Versorgung würde dieses Risiko deutlich vermindern. Es zeigt auch, dass gerade für ohnehin schon am schwersten betroffene und verfolgte Menschen wie Frauen, Kinder und Queers eine sichere Fluchtroute nicht allein im freien Geleit durch Gebiete besteht. Sie müssen vor Übergriffen und Zugriffen durch Menschenhändler*innen und Zuhälter*innen geschützt werden. Die kostenlosen Bahn- und Busfahrten durch Anrainerstaaten der Ukraine bis in den Westen nach Deutschland geben eine Vorstellung davon, wie Flucht ermöglicht werden kann, wenn der Wille da ist. Genauso müssen die Lager an der EU-Außengrenze aufgelöst und die Menschen in andere Länder geleitet werden, genauso müssen die Geflüchteten an der belarussischen Grenze endlich weiterziehen dürfen. Es darf kein Unterschied zwischen “richtigen” und “falschen” Geflüchteten gemacht werden.

Das bedeutet die Aufnahme und Versorgung aller Geflüchteter, unabhängig davon, ob sie aus der Ukraine, Syrien, Sudan oder aus anderen Ländern sind. Sie müssen bedarfsgerecht und dezentral untergebracht und medizinisch und psychologisch fachgerecht betreut werden. Die Kosten dafür müssen die Reichen und Kriegsprofiteur*innen tragen. Neben dem vollen Recht, sich zu organisieren und politisch zu betätigen, muss es ein Bleiberecht geben und die Möglichkeit, selbstbestimmt hier leben zu können, das fängt bei kostenlosen Sprachkursen an und geht über Schul- und Ausbildung bis hin zu Arbeitserlaubnissen und Wahlrechten für alle, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. Der Grundsatz ist: Es ist genug für alle da, es ist nur falsch verteilt.

…die drohende Katastrophe…

Angesichts der bereits eingetretenen Katastrophe, möchte man hier Schluss machen, doch das Ende ist nicht erreicht. Der Kriegsverlauf und seine Dauer sind unklar und die Wahrscheinlichkeit eines langgezogenen Konflikts mit Elementen aus Bürger-, Guerrilla- und konventionellem Krieg auf dem Boden der Ukraine nimmt zu. Selbst wenn die heiße Phase des Kriegs durch einen Rückzug der russischen Armee o.ä. beendet würde, wäre das nicht das Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen. Der Krieg tobt im Osten der Ukraine bereits seit 2014. Die Diskussion über die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine durch die NATO, die Verstärkung der Truppen in Osteuropa und die atomare Aufrüstung zeigen, dass das Potential für eine weitere Verschärfung noch nicht ausgeschöpft ist.

Bereits jetzt wird der Krieg unabwendbare Konsequenzen nach sich ziehen. Die Ukraine und Russland lieferten jährlich fast ein Drittel des Weltweizenexports. Die Weizenernte wird nachvollziehbar in diesem Jahr nur Bruchteile in der Ukraine betragen, von Raps- und Sonnenblumenöl ganz zu schweigen. Als Reaktion auf den Wirtschaftskrieg durch Sanktionen hat Russland für die meisten Länder einen Exportstopp von Weizen bis Ende Juni 2022 verhängt. Ausgenommen sind Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion in der Umgebung Russlands.

Die Ernährungs-Katastrophe wird vor allem arme Länder betreffen. 45 Staaten auf dem afrikanischen Kontinent importieren Weizen auf der Ukraine und Russland. Ägypten und Tunesien sogar zum größten Teil. Die Zerstörung der heimischen Agrarwirtschaft durch ausländisches Kapital hat viele Länder abhängig von Importen gemacht. Dort wird die ohnehin schon hohe Inflation in den kommenden Wochen und Monaten zu Hunger führen, wie wir es bereits in der Türkei sehen, das kann und wird zu weiteren Unruhen und Aufständen auf der Welt führen. China hatte zu Kriegsbeginn die Einfuhrbeschränkungen für Weizen aus Russland bereits aufgehoben und es wird sich zeigen, wie schnell der Handel wieder aufgenommen wird. Eine Rolle werden dabei sicher Verhandlungen über eine engere Kooperation, entweder auf der Ebene der Eurasischen Wirtschaftsunion, deren Beobachterin China ist, oder auf der Ebene anderer bi- und multilateraler Abkommen zwischen diesen Ländern spielen.

Die EU und Deutschland sind Exporteurinnen landwirtschaftlicher Güter. Das Agrarkapital kann in absehbarer Zeit auf enorme Gewinne und eine steigende Abhängigkeit der Länder von ihren Produkten hoffen.14 Da deutsche Unternehmen die zweitgrößten Weizenexporteure der EU nach den französischen sind, werden die Kriegsprofite auch in diesem Sektor zu finden sein.

Da zwar Weizen exportiert wird, aber bspw. Futtermittel aus der Ukraine nach Deutschland importiert wurden, ist die Entwicklung nicht einseitig. Die Produktionskosten in der Massentierhaltung werden entsprechend zunehmen.

Doch nicht nur diese Preise werden steigen. Der Krieg wird nach Deutschland kommen, aber nicht so, wie es in den Medien dargestellt wird. Die Bedrohung geht nicht von Putin aus, der mit seinen Panzern bis nach Paris vorrückt. Die Bedrohung geht davon aus, dass sich schon jetzt wachsende Teile der Arbeiter*innenklasse und Armen in Deutschland die Miete, die Heizkosten, das Benzin usw. nicht mehr leisten können. Die jetzt schon spürbaren Preissteigerungen werden natürlich auf den Angriff der russischen Armee auf die Ukraine geschoben. Schauen wir uns die Statistik an, entpuppt sich das jedoch als glatte Lüge. Mit Daten bis zum 15. Februar, also vor Kriegsbeginn, sind Erzeugerpreise um 25,9 Prozent und Verbrauchsgüter um 7,5 Prozent (Nahrungsmittel 9,,2 Prozent) zum Vorjahresmonat gestiegen.15

Eine mehr als zweistellige Inflation wird innerhalb der nächsten Wochen erreicht, wenn die Entwicklung sich so fortsetzt. Der Krieg dominiert seit seinem Beginn die Themen, doch die Preissteigerungen werden unmittelbar die soziale Frage auf die Tagesordnung setzen, die ohnehin für diejenigen omnipräsent ist, die schon jetzt zwischen Tanken, um zur Arbeit zu kommen und dem Wocheneinkauf jonglieren müssen. Zwar reden Politiker*innen und Kommentator*innen davon, dass höhere Preise und persönliche Einschränkungen ein geringer Preis für die Verteidigung der Demokratie sind und in der Ukraine Menschen sterben. Die Lohnabhängigen in Deutschland werden sich jedoch zurecht fragen: “Was für Demokratie kann das sein, die uns im Kalten sitzen lässt? Wie kann es gerecht sein, dass meine Kinder in kaputten Sachen herumlaufen und ich mir das Essen vom Mund absparen muss, während Rekordgewinne eingefahren werden?”.

Die Tankprämien, Zuschüsse zu Nahverkehr, die Einmalzahlung für das Kindergeld, die gerade im Gespräch sind, um die Teuerung des Benzins aufzufangen, sind nicht mehr, als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie werden zwar in dem Moment eine kleine Erleichterung verschaffen, in dem sie gezahlt werden. Doch das Geld wird nicht ausreichen, um die Nachzahlung für den Strom oder die Betriebskosten zu berappen und schon im nächsten Monat ist die Not wieder so groß, oder größer, wie zuvor.

Unter’m Strich ist es ebenso eine Umverteilung von unten nach oben. Nur mit dem Unterschied, dass Subventionen von allen steuerfinanziert sind, statt an der Zapfsäule individuell mehr zu bezahlen. Die Kappung des Gas- und Öl-Imports von Russland wird auch hier weitreichende Folgen haben. Es entbehrt nicht eine gewissen Ironie, dass gerade deutsche Firmen lange hervorragende Geschäfte mit Russland machten und jetzt der antidemokratische Charakter Russlands entdeckt wird. Nicht nur der Kohleausstieg Deutschlands wird jetzt offensiv in Frage gestellt, sondern man wendet sich Öl-Monarchien wie Katar zu, um die Energieversorgung sicherzustellen. Wie beim Großempfänger deutscher Waffen Saudi-Arabien, spielt die Frage der Demokratie und Menschenrechte im Land der Fußballweltmeisterschaft der Männer keine Rolle. Robert Habeck sorgt sich als grüner Wirtschaftsminister um die Versorgung mit fossilen Brennstoffen. Seine Parteikollegin lobt derweil die Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung, während diese kurdische Städte bombardiert. Baerbock wird als Ikone feministischer Außenpolitik gefeiert, während Deutschlands Verbündete das Elend über viele Frauen und Kinder in der Region bringt. Annalena Baerbock hält jedoch die Aufrüstung der Bundeswehr zum Schutz von Frauen für Feminismus, und argumentiert mit Vergewaltigung als Kriegswaffe im Jugoslawien-Krieg in den 90ern16, was definitiv eine reale und eine der grausamste Seiten von Kriegen ist.

Dass jedoch damit impliziert wird, dass nur deutsche Panzer die Vergewaltigung von Frauen in der Ukraine durch russische Soldaten verhindern könne, lässt einem die Haare zu Berge stehen. Da stellt sich einem doch die Frage, ob die deutschen Panzer, die die Türkei zur Niederschlagung der befreiten kurdischen Gebiete in Nordsyrien oder die Tornados, die Saudi-Arabien im Krieg im Jemen einsetzt irgendetwas dazu beigetragen haben, das Elend der Frauen dort nicht zu vergrößern. Hier schwingt noch etwas anderes mit: Wer sich gegen die Gedankenakrobatik der “feministischen Aufrüstung” verwehrt, kommt so schnell gegenüber den Befürworter*innen der deutschen Außenpolitik in Verdacht, gegen den Feminismus zu sein. Das geht Hand in Hand damit, dass man ebenso schnell angeblich zu Befürworter*innen Wladimir Putins wird, wenn man die Politik der NATO und EU kritisiert.

Christian Lindner hat in einem Interview unmissverständlich gesagt, dass die Regierung genau überlegt, was leistbar ist und was nicht und dass wir das (die Erhöhung der Rüstungsausgaben) bezahlen und gleichzeitig die Schuldenbremse beibehalten wird. Auf die Frage, ob Einschnitte nötig sind, meint er, dass sei in den kommenden Jahren alle öffentlichen Ausgaben priorisiert werden müssen, weil Steuererhöhungen ausgeschlossen werden.17 Wirtschaftsforschungsinstitute halbieren ihre Prognosen für das Wirtschaftswachstum Deutschlands und es wird nicht die letzte Korrektur sein.18 Die Folgen einer durch den Krieg aufgelösten und verschärften Wirtschaftskrise sind unabsehbar. Bislang reiben sich jedoch Metall- und Rüstungskonzerne wie Rheinmetall die Hände. Für 2022 rechnen sie mit einem Umsatzplus von zwanzig Prozent (2021: 5,658 Mrd. Euro), nachdem im letzten Jahr bereits Rekordgewinne eingefahren wurden. Vom Bundes-Sonderetat für die Aufrüstung sind allein zwanzig Milliarden Euro für Munition vorgesehen, eines der Hauptgeschäfte des Konzerns. Um das Auftragsvolumen bewältigen zu können, sollen 1.500 bis 3.000 neue Arbeiter*innen in drei Ländern eingestellt werden.

Dieser Krieg ist bereits jetzt für einige Teile des deutschen Kapitals ein Bombengeschäft.

…und wie sie zu bekämpfen ist

In dieser Textsammlung gibt es viele Vorschläge und Forderungen, aus denen ein Programm zur Bekämpfung des Krieges und der Krise zusammengesetzt ist. Drei längere Text von Wolfram Klein diskutieren ausgiebig die Haltung der Linken (der Partei wie der breiten Linken) zur Ukraine und dem Krieg. Der Mitherausgeber dieses Buch, Sascha Staničić, stellt in seinem Text ein Programm für eine antimilitaristische Bewegung vor und macht nicht vor der Frage halt, wie eine Verteidigung der Ukraine im Interesse der Arbeiter*innen aussehen könnte.

Angesichts des Fehlens einer schlagkräftigen Massenorganisation der Arbeiter*innen nicht nur in der Ukraine, wirken manche Positionen nicht sehr naheliegend. Aus der schwierigen Situation, die sich daraus ergibt, steigt der Druck, bisherige klassenbasierte Haltungen zur Frage von Krieg und Frieden aufzugeben und bspw. die Waffenexporte an die ukrainische Regierung nicht zu kritisieren oder Sanktionen gegen Russland zu befürworten. Angesichts des Ausmaßes der bereits beginnenden Krise international und in Deutschland, sollten Sozialist*innen ihre Positionen gerade jetzt aufrecht erhalten. Momentan schwimmen wir gegen den Strom, wie es oft zu Beginn solcher Kriege ist. Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Internationale 1914 war die Zahl der bekannten Vertreter*innen der sozialistischen Parteien, die sich offen gegen den Krieg stellten, auf einige wenige geschrumpft. Sie stritten konsequent für ein Programm, das den Kampf gegen den Krieg mit dem Kampf gegen seine Ursache, den Kapitalismus und die sich daraus ergebende Konkurrenz der Weltmächte, verband. Die Voraussetzungen, den Krieg wie 1917/18 durch Revolutionen der Arbeiter*innenklasse ein Ende zu bereiten sind nicht besser geworden. Dafür fehlt es an einem tief verwurzelten sozialistischen Bewusstsein und entsprechenden Organisationen. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass Unruhen in Russland oder eine Absetzung Putins und seiner Regierung die Situation verändern können.

Andere Teile eines sozialistischen Programms, wie die Verstaatlichung der Landwirtschaft und der Industrie unter demokratische Kontrolle unter Verwaltung der Arbeitenden, Preiskontrollen, Außenhandelsmonopole usw. rücken auf einmal näher, als in den letzten Jahren. Es wird mit jedem Tag deutlicher, dass weder die Bundesregierung, noch internationale Institutionen und schon gar nicht “der Markt” in der Lage sein werden, die bestehende und drohende Katastrophe zu bekämpfen und abzuwenden.

Mit diesem Buch, das Texte von 2014 bis zum März 2022 und einige historische Beiträge versammelt, legen wir nicht nur eine Chronik der Ereignisse in der Ukraine vor. Es ist eine Einordnung in die Entwicklung des Weltkapitalismus und der Rolle des deutschen Kapitals bei der Neuaufteilung der Erde. Es ist ein programmatischer, offen sozialistischer Beitrag mit Vorschlägen zur Lösung der akuten Probleme und deren grundlegender Ursachen, was nicht ohne den Sturz der Kapitalist*innenklassen und die Ersetzung ihres System durch eine sozialistische Demokratie international geht.

Die Autor*innen der aktuellen Texte gehören dem Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) an, dessen deutsche Sektion die Sozialistische Organisation Solidarität – Sol ist. Sie sind in Gewerkschaften, Bewegungen, der Partei DIE LINKE und deren Jugendorganisation [‘solid], in Betrieben und Stadtteilen aktiv, um sich für ihr Programm einzusetzen. Sich zu organisieren, bevor der Kapitalismus mit seinen Kriegen und Krisen die Lebensgrundlage des größten Teils der Menschheit zerstört, für ein Programm dagegen, für eine andere, sozialistische Gesellschaft, ist wichtiger denn je und jetzt ist die Zeit, es zu tun.

René Arnsburg

im März 2022

1Die Tagesschau und andere Medien berichten über die Anschaffung atomwaffenfähiger Jets für die Bundeswehr:

“Die Flugzeuge sollen die deutlich in die Jahre gekommen Tornados der Bundeswehr ersetzen – sie sind vor allem für die sogenannte nukleare Teilhabe Deutschlands wichtig. Bei diesem Abschreckungskonzept der NATO können deutsche Kampfflugzeuge mit US-Atombomben ausgerüstet werden.

Damit könnten die F-35 auch diese Aufgabe übernehmen: Offiziell zwar nie bestätigt, gilt es aber als offenes Geheimnis, dass auf einem US-Stützpunkt in der Eifel 20 thermonukleare Bomben lagern sollen, die bislang von deutschen Tornados transportiert und abgeworfen werden könnten.” 14.03.22, https://www.tagesschau.de/inland/bundeswehr-f-35-kampfflugzeuge-101.html

2Zahlen nach “Deutscher Außenhandel mit der Ukraine” vom Statistischen Bundesamt (2022)

3Reden wie die, die Gauck bei der Siko 2014 hielt, waren passagenweise fast im Wortlaut von Strategiepapieren der SWP, weshalb diese hier erwähnt wird. Sie ist bei weitem nicht die einzige Organisation, die sich für die Interessen verschiedener deutsche Kapitalfraktionen im Ausland bei der Bundesregierung stark macht.

4https://www.tagesschau.de/investigativ/funk/auslaendische-kaempfer-in-der-ukraine-101.html

5https://www.zeit.de/news/2022-03/11/auch-deutsche-melden-sich-als-freiwillige-im-ukraine-krieg

6https://www.waz.de/politik/ukraine-krieg-neonazis-deutschland-kampf-brigade-id234908441.html

7https://www.spiegel.de/politik/deutschland/russlands-invasion-mehrheit-in-deutschland-fuer-mehr-waffenlieferungen-an-ukraine-a-59f819b6-c13b-41d2-a870-0747aa5c2507

8Zahlen aus: https://www.sueddeutsche.de/politik/konflikte-mehr-als-232-000-ukraine-fluechtlinge-in-deutschland-erfasst-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220322-99-628245

9https://www.businessinsider.de/wirtschaft/handel/kein-wodka-mehr-nach-netto-verbannen-auch-aldi-rewe-und-edeka-russische-waren-aus-den-regalen-a/

10https://www.deutschlandfunk.de/russische-buerger-auszuschliessen-wird-putin-staerken-100.html

11https://www.tagesspiegel.de/berlin/zusammenhang-zum-krieg-in-der-ukraine-brandanschlag-auf-deutsch-russische-schule-in-berlin-marzahn/28153710.html

12https://www.berliner-zeitung.de/news/fluechtlinge-muessen-in-berlin-reinickendorf-fuer-neue-weichen-li.215476

13https://www.rbb24.de/content/rbb/r24/politik/beitrag/2022/03/kriegsfluechtlinge-menschenhandel-ukraine-kinderrechte.html

14Der Weizenpreis sprang vom 23.2.22 zum 21.3.22 von 287 Euro auf 362 Euro pro Tonne und die Knappheit beginnt gerade erst. (siehe u.a. https://www.manager-magazin.de/politik/weltwirtschaft/exportstopp-durch-ukraine-krieg-wer-statt-russland-und-ukraine-nun-weizen-gegen-den-hunger-exportieren-muss-a-3c74e7a5-6356-4288-882a-1d208f2e4306)

15https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/03/PD22_123_61241.html

16Siehe unter anderem: https://www.ndr.de/kultur/Annalena-Baerbock-Feministische-Aussenpolitik-ist-kein-Gedoens,aussenpolitik110.html

17https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/morgenmagazin/politik/christian_lindner-100.html

18https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/konjunktur/ifw-halbiert-wachstumsprognose-wegen-ukraine-krieg-17883913.html

Print Friendly, PDF & Email