Der deutsche Kapitalismus in der Zeitenwende

Resolution der Sol-Bundeskonferenz vom September 2022

Weltlage

Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 trat der Weltkapitalismus in eine neue Epoche ein. Alle Probleme und Tendenzen, die im (schon vor 2020) krisengeschüttelten Kapitalismus bereits angelegt waren, wurden durch die Verbreitung des Virus und die darauf folgenden Maßnahmen und Auswirkungen verschärft. Der Kapitalismus ist seit dem umso mehr von einer Krise in zahlreichen Sphären der Gesellschaft gezeichnet – ökonomisch, sozial, politisch, ökologisch und gesundheitlich. Keine einzige dieser Krisen konnten die Herrschenden nachhaltig lösen. Im Gegenteil: Der Ausbruch des Krieges um die Ukraine war der nächste Schock, dessen Wellen auf allen Kontinenten zu spüren sind. Er ist nicht allein Ausdruck dessen, welch weitreichende Veränderungen sich in den internationalen Beziehungen der imperialistischen Staaten bereits entwickelt haben. Der Krieg ist selbst ein neuer Faktor, der die multiple Krise des Systems massiv verschärft hat.

Wir leben heute in einer Welt, die in einem ungeheuren Maße instabil ist. Entwicklungen, die gestern noch undenkbar schienen, sind morgen schon Realität. Das Tempo der Ereignisse ist anhaltend atemberaubend. Unsere Perspektiven sind in diesen Zeiten ein unverzichtbares Werkzeug, um uns zu orientieren. Sie sind die Grundlage für unsere Intervention in den Klassenkampf und den Aufbau der revolutionären Organisation. Ein Schiff braucht mehr denn je einen Kompass und Menschen, die ihn gebrauchen können, wenn es in einen Sturm gerät und auf Kurs bleiben will. Gleichzeitig müssen unsere Perspektiven aufgrund des Charakters der aktuellen Periode einen hohen Grad an Konditionalität aufweisen. Wenn auch einige Entwicklungstrends bereits erkennbar sind, bleiben andere noch im Unklaren. Unsere Perspektiven müssen kontinuierlich mit der wirklichen Entwicklung abgeglichen und wenn nötig angepasst werden.

Der 13. Weltkongress des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale, dem die Sol angeschlossen ist, hat die Weltlage im Januar in verschiedenen Resolutionen analysiert, bevor Wladimir Putin den Befehl zum Einmarsch in der Ukraine gab. Die Veränderungen, die sich seit dem international ergeben haben, haben wir in zusätzlichem Material analysiert.

Der globale Kapitalismus konnte zwar nach der großen Krise 2007/08 über eine Dekade geringe Wachstumsraten vorweisen. Doch es waren die Profite der Banken und Konzerne, die in die Höhe schossen, während die Arbeiter*innenklasse weltweit mit den Krisenkosten fertig werden musste. 2019 deutete sich bereits eine neue Rezession an. Verstärkt durch die Pandemie markierte 2020 den größten Crash seit 1930. Es war keine Überraschung, dass auf diesen Einbruch eine Erholung des globalen Wirtschaftsleistung folgen würde. Allerdings war dieses Wachstum bereits vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs sehr ungleichmäßig verteilt, nicht nur im Vergleich der imperialistischen Nationen zu einkommensschwächeren Ländern der neokolonialen Welt, sondern auch zwischen den imperialistischen Nationen und innerhalb dieser. Mitte 2021 war laut OECD die weltweite Wirtschaftsleistung noch 3,5 Prozent unter den Vor-Corona-Prognosen für diesen Zeitraum. Insbesondere Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen waren davon betroffen, während reichere Länder durch staatliches Eingreifen in der Lage waren die schlimmsten Auswirkungen der Krise abzufedern und u.a. durch die bessere Versorgung mit Corona-Impfstoffen schneller die schlimmsten Phasen der Pandemie überwinden konnten. Die Euro-Zone lag jedoch noch im vierten Quartal 2021 nur 0,6 Prozent über dem Stand von Ende 2019, während die USA – angetrieben u.a. durch die Konjunkturprogramm der Biden-Regierung – bereits 3,2 Prozent über dem Vorkrisenniveau lag. China war 2020 das einzige Land weltweit, dessen Wirtschaft wuchs – allerdings deutlich geringer als in der Vergangenheit. Die chinesische Wirtschaft (und mit ihr die Weltwirtschaft) litt in diesem Jahr zudem unter der restriktiven Corona-Politik des Xi-Regimes. Hinzu kommen Probleme auf dem Immobilienmarkt. Noch vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs gingen die Bürgerlichen nicht von einer Steigerung der jährlichen Wachstumsraten aus und betonten die vielen Gefahrenquellen für die Weltwirtschaft.

Die soziale Ungleichheit, der Abstand zwischen den ultra-reichsten Vertreter*innen der herrschenden Klasse und der Masse der arbeitenden und armen Bevölkerung, hat dafür weltweit nie dagewesene Ausmaße erreicht. Laut Oxfam hat das reichste Prozent der Weltbevölkerung seit 1995 zwanzig mal so viel Vermögen angehäuft als die ärmere Hälfte der Menschheit. Das Vermögen der zehn reichsten Männer hat sich während der Pandemie verdoppelt. Auf der anderen Seite könnten 263 Millionen Menschen 2022 zusätzlich in extreme Armut abrutschen. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, den Lebensstandard der Massen selbst in den entwickelten kapitalistischen Ländern nachhaltig zu heben.

Die strukturelle und multiple Krise des Kapitalismus verschärft zwangsläufig die weltweite Konkurrenz und führt zur Zunahme von imperialistischen Konflikten. Aber sie ist auch die Grundlage für die sich fortsetzende Aushöhlung der sozialen Basis und der traditionellen Institutionen und politischen Parteien der Herrschenden. Die soziale Polarisierung geht mit der politischen Polarisierung einher. Wir erleben weltweit eine Zunahme von Massenbewegungen der Arbeiter*innen und Unterdrückten, aber wir erleben auch massive Repression und rechte Gegenbewegungen. Seit der Krise von 2007/08 sprechen wir deshalb von einer Ära der Revolution und Konterrevolution. Doch seitdem ist die Welt noch krisenhafter, instabiler und damit auch brutaler geworden. Wir müssen uns darauf einstellen, dass alle zukünftigen sozialen Auseinandersetzungen mit härteren Bandagen ausgefochten werden.

Der Krieg in der Ukraine und die neue Weltordnung

Der Krieg in der Ukraine ist Ausdruck dieser Veränderung. Es ist auch nicht der „erste Krieg in Europa seit 1945“, wozu ihn manche bürgerliche Medien verklären und darüber den vom Westen geführten Krieg in Ex-Jugoslawien vergessen machen wollen. Jedoch markiert dieser Krieg eine neue Qualität der Konfrontation zwischen den großen Mächten.

Nicht erst seit Ende Februar 2022 herrscht Krieg in der Ukraine. Ende 2013 wehrten sich große Teile der Bevölkerung gegen Armut und Korruption. Eine Massenbewegung stürzte die pro-russische Janukowitsch-Regierung im Land. Doch in Abwesenheit einer starken und unabhängigen Arbeiter*innenbewegung konnten diese Proteste durch EU-nahe und rechte kapitalistische, teils faschistische, Kräfte vereinnahmt werden. Im Zuge dieser Krise kam es zur russischen Besetzung und Annektion der Krim und entwickelte sich im Osten der Ukraine ein bewaffneter Konflikt mit pro-russischen Separatist*innen.

Der russische Imperialismus ist unter Putin in den letzten Jahren außenpolitisch wagemutiger geworden, was sowohl mit dem teilweisen Rückzug der USA als auch mit dem gewissen ökonomischen Spielraum des Regimes durch insbesondere die Einnahmen aus Öl- und Gasexporten zu tun hat. Gleichzeitig fürchtet das Regime schwindenden Einfluss in Osteuropa. Die NATO und die EU hatte sich seit dem Zusammenbruch des Stalinismus immer weiter nach Osten ausgedehnt. Putin versucht, den geostrategischen Einfluss in ehemals zur Sowjetunion gehörenden Gebieten wieder auszubauen – wenn auch unter kapitalistischen und nicht stalinistischen Vorzeichen.

Der Krieg in der Ukraine ist daher, wie wir in verschiedenen Artikeln und einem Buch analysiert haben, nicht einfach nur ein Angriffskrieg eines stärkeren Landes gegen ein schwächeres Land. Er ist auch ein Stellvertreterkrieg zwischen verschiedenen imperialistischen Kräften. Er fiel nicht vom Himmel, sondern hat seine Geschichte im Jahrzehnte andauernden Kampf sowohl des russischen Imperialismus als auch der westlichen, imperialistischen Staaten, NATO und EU um geostrategischen Einfluss in der Region seit dem Niedergang des Stalinismus. Die Selenskji-Regierung und das von ihr geführte ukrainische Militär sind in diesem Konflikt ebenfalls pro-kapitalistische Kräfte. Sie vertreten einerseits die Interessen der westlichen Imperialisten und andererseits die Interessen der sich am Westen orientierenden, ukrainischen Oligarch*innen. Sie verfolgen eine gegen die Arbeiter*innenklasse und die verschiedenen nationalen Minderheiten im Land gerichtete, nationalistische Politik. Wie wir an anderer Stelle erklärt haben, darf die Arbeiter*innenbewegung in keinem Land den Fehler begehen, einer der verschiedenen pro-kapitalistischen Kräfte ihre Unterstützung zu geben. Wir haben – trotz der extrem komplizierten Lage in der Ukraine und der massiven Propaganda der Bürgerlichen – in verschiedenen Artikeln ein sozialistisches Programm verteidigt.

Zu Beginn des Krieges gingen die meisten bürgerlichen Kommentator*innen von einem schnellen Sieg Russlands inklusive der Einnahme der Hauptstadt Kiews aus. Nach ersten Geländegewinnen der russischen Streitkräfte, die auf verschiedenen Achsen von Süden, Osten und vom Norden aus Belarus heraus angriffen, kam der Vormarsch allerdings zum Stehen. Der Westen unterstützte die Ukraine mit einer Flut von Waffenlieferungen und verhängte massive ökonomische Sanktionen gegen Russland, u.a. den teilweisen Ausschluss russischer Banken vom Swift-Zahlungssystem und das Einfrieren ausländischer Devisenreserven der russischen Zentralbank. Ende März zog Russland seine Truppen aus dem Kiewer Umland ab und konzentrierte sich auf den Krieg im Donbass. Mittlerweile kontrolliert Russland große Teile der Regionen Luhansk und Donetsk, insgesamt kontrolliert es fast ein Fünftel des Landes. Im September konnte die Ukraine allerdings im Zuge einer Gegenoffensive relativ große Gebiete und wichtige Städte, insbesondere im Nord-Osten, zurückerobern. Ob dieser überraschende Wendepunkt einen grundlegenden Wechsel der Kriegsdynamik einleitet, ist allerdings offen. Ernste Verhandlungen über einen Waffenstillstand, geschweige denn ein Friedensabkommen, und ein Ende der militärischen Auseinandersetzungen scheinen aktuell weit weg. Man muss sich auf einen langgezogenen Krieg einstellen, ohne weitere Verhandlungen und Waffenstillstände auszuschließen. Eine solche Entwicklung könnte möglich werden, wenn zum Beispiel das Putin-Regime seine militärischen Ziele als vorerst genügend erfüllt bewertet und das Selenskji-Regime eine Fortsetzung der Kriegshandlungen ihrerseits nicht aufrechterhalten kann oder will. Selenskji hat zuletzt immer wieder seine Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, die russische Armee vollständig zu vertreiben und auch die Krim zurückzuerobern. Das militärische Potenzial der Ukraine hängt zum großen Teil von den Interessen und der Unterstützung westlicher imperialistischer Kräfte ab, aber auch von der innenpolitischen Lage in der Ukraine. Gleichzeitig ist die finanzielle Lage des Landes äußerst prekär. Ohne weitere externe, finanzielle Unterstützung können Spannungen innerhalb der ukrainischen Gesellschaft zunehmen.

Der Krieg in der Ukraine vollzieht sich aber im Schatten des grundlegenden zwischenimperialistischen Konflikts dieser Epoche. Dieser verläuft zwischen den USA und China. Das CWI hat den Aufstieg Chinas und den relativen Niedergang der USA seit längerer Zeit analysiert. Unsere Perspektive einer multipolaren Weltordnung, in der nicht mehr die USA die alleinige Supermacht darstellen und sich mit China ein weiterer großer Pol bildet, hat sich bestätigt. Ebenso sehen wir, dass sich mit der Pandemie und dem Ukraine-Krieg eine Tendenz zur „Deglobalisierung“ weiter verschärft hat – wenngleich diese bisher nicht die international in den letzten Jahrzehnten massiv angestiegene Verflechtung von Kapital- und Warenströmen völlig zurückgedreht hat. Davon ist sie noch weit entfernt und ein geradliniger, weltweiter Deglobalisierungsprozess ist unwahrscheinlich. Er steht viel mehr im Zusammenhang mit der neuen Weltordnung und den sich formierenden Blöcken. Diese Blöcke sind trotz der zwei Hauptpole allerdings von großer Instabilität geprägt. Neue wie traditionelle Allianzen sind keineswegs homogen. Sie können durch äußere Konflikte temporär enger zusammengedrängt werden, wie es der Ukraine-Krieg sowohl bei den NATO- und EU-Staaten als auch bei Russland und China aktuell zeigt. Regierungen von Staaten, in denen zwei Drittel der Weltbevölkerung leben, unterstützen die Sanktionen der USA und EU nicht. Diese Regierungen können sich dabei in der Bevölkerung auf die Ablehnung der Verbrechen des westlichen Imperialismus stützen. Gleichzeitig versuchen diese Regierungen damit ihre eigenen nationalen und kapitalistischen Interessen zu vertreten und ihre Unabhängigkeit gegenüber den USA und der EU zu demonstrieren. Im Juni hielten die sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) ein gemeinsames Treffen ab, welches die westlichen Sanktionen gegen Russland ablehnte. Der Iran und Argentinien haben ihr Interesse geäußert, Teil des Staatenbündnis zu werden. Die NATO wiederum beschloss eine massive Aufstockung ihrer einsatzbereiten Militärverbunde auf über 300.000 Soldat*innen (ehemals 40.000) und eine Verstärkung ihrer Ostflanke. Jede nationale Kapitalistenklasse verfolgt gleichzeitig ihre eigenen Interessen und ist nicht frei von inneren Konflikten. Diese Widersprüche und gegenseitige Abhängigkeiten machen sich früher oder später bemerkbar und können zu neuen Konflikten führen – auch in der NATO und in der EU.

Die Biden-Regierung in den USA und Teile anderer westlichen Kapitalistenklassen versuchen diese neue Weltlage und den Konflikt mit Russland und China als Kampf zwischen „Demokratien“ und „Autokratien“ darzustellen. Hinter dieser Maske versuchen sie ihre imperialistischen Interessen zu verbergen und gleichzeitig die Legitimation für eine offensivere, konfliktfreudigere Außenpolitik in den nächsten Jahren zu liefern. Selbstverständlich haben sie keine Scheu selbst mit autokratischen Staaten, wie zum Beispiel der Türkei oder Saudi-Arabien, zusammenzuarbeiten. Genauso sind zahlreiche demokratische Rechte in den parlamentarischen Demokratien des Westens unter Beschuss und nehmen bonapartistische Herrschaftselemente zu. Das ist Folge der sozialen Krise: Gerade in den USA steckt die bürgerliche Demokratie in einer tiefen Krise, wie es u.a. der Sturm auf das Kapitol 2020 durch Anhänger*innen von Donald Trump gezeigt hat. Schon bei den Zwischenwahlen im November könnten die Demokraten ihre knappen Mehrheiten im Repräsentantenhaus und im Senat verlieren. Unsere Methode, alle internationalen Konflikte und die involvierten Kräfte von einem Klassenstandpunkt einzuordnen und auf dieser Grundlage ein sozialistisches Programm zu formulieren, bleibt entscheidend.

„Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Der Ukraine-Krieg ist daher weder der einzige Krieg auf der Welt, noch wird es der letzte sein. Wir sehen im Gegenteil, dass die weltweite Aufrüstungsspirale einen neuen Schub bekommen hat. Im Windschatten des Ukraine-Krieges haben sich einige Länder (wie zum Beispiel die Türkei in Syrien und Irak) in die Lage versetzt gefühlt, ihre eigenen militärischen Ambitionen weiterzuverfolgen. Ein potenziell sehr gefährlicher Konfliktherd bleibt der südostasiatische Raum und der Konflikt zwischen den USA und China um Taiwan. Der provokante Besuch von Nancy Pelosi, Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, in Taiwan führte im August zu einem vorläufigen Höhepunkt der Spannungen zwischen den beiden Staaten. China reagierte mit umfangreichen militärischen Manövern. Eine militärische Kampagne zur Eroberung oder Blockade Taiwans durch China scheint unmittelbar zwar unwahrscheinlich, aber die letzten Wochen haben das Eskalationspotenzial vor Augen geführt. In der Vergangenheit haben wir erklärt, dass die Existenz von Atomwaffen und die Gefahr der gegenseitigen Zerstörung einen großen Krieg bis hin zu einem Weltkrieg zwischen den Großmächten unwahrscheinlich macht. Das gilt weiterhin. Gleichzeitig müssen wir alle Schlussfolgerungen aus der neuen Weltlage und ihrer Instabilität ziehen. Erstmals seit vielen Jahren steigt in diesem Jahr laut dem Stockholmer Sipri-Institut die Zahl der Atomwaffen auf der Welt. Die Zunahme politischer Instabilität und die Tatsache, dass auch die herrschende Klasse in einigen Ländern die direkte Kontrolle über Regierungen verlieren konnte bzw. kann, erhöhen die Gefahr von Eskalationen. Es ist möglich, dass es im Krieg in der Ukraine oder in Zukunft zum begrenzten Einsatz von Atomwaffen oder einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen Großmächten kommt – wenngleich das noch nicht der Beginn des Dritten Weltkriegs sein müsste. Selbstverständlich hätte jeder, noch so begrenzte, Einsatz von Atomwaffen weitreichende politische Folgen. Der Ukraine-Krieg zeigt, dass auch ohne den Einsatz von Atomwaffen durch die Existenz von Atomkraftwerken atomare Katastrophen entstehen können.

Die massiven Auswirkungen des Klimawandels, die jetzt schon verheerende Ausmaße annehmen, sind immer spürbarer. In Indien und Pakistan herrschen seit Mai 2020 Temperaturen um die 50 Grad Celsius. Am Horn von Afrika allein sind nach zwei Dürrejahren mehr als 18 Millionen Menschen von Hunger bedroht. Wasserquellen versiegen, die Preise für Wasserlieferungen sind seit November um 71 Prozent gestiegen. Doch auch in entwickelten kapitalistischen Ländern häufen sich Waldbrände, Überflutungen und Hochwasser oder Hitzewellen. Die völlige Unzulänglichkeit der Klimagipfel, wie des COP26 im letzten Jahr, beweist die Unfähigkeit des Kapitalismus mit diesen Problemen fertig zu werden, die er selbst hervorbringt. Weitgehende Maßnahmen zum Klimaschutz verringern das Potenzial für Profitsteigerung innerhalb des internationalen Wettbewerbs. Das chaotische, auf Profit und Konkurrenz basierende System verhindert eine ökologische und auf Bedarf basierende wirtschaftliche Planung. Einen “grünen Kapitalismus” kann es nicht geben. Angesichts der katastrophalen Klima-Veränderungen ist die negative Alternative aus Rosa Luxemburgs “Sozialismus oder Barbarei” für wachsende Teile der Weltbevölkerung zur greifbaren Dystopie geworden. Die sozialistische Revolution ist angesichts des Klimawandels so notwendig wie nie zuvor. Allerdings verbleiben große Teile der Klima-Bewegung völlig innerhalb der kapitalistischen Logik. In der aktuellen Phase weltweiter Wirtschaftskrise mit heftigen Angriffen auf den Lebensstandard der Arbeiter*innen geraten konsumkritische Ideen in der Klima-Bewegung, die vor allem auf Veränderungen im Konsum-Verhalten von Konsument*innen abzielen, immer mehr in Widerspruch mit den Interessen der Arbeiter*innenklasse.

Die Corona-Pandemie ist ebenfalls alles andere als vorbei. Über sechs Millionen Menschen sind seit Beginn der Pandemie an und mit dem Virus gestorben. Ein entscheidender Grund für dieses Ausmaß, ist das Versagen des Kapitalismus nach der Entwicklung der Impfstoffe eine globale Impfkampagne zu organisieren. Während in den entwickelten kapitalistischen Ländern einige bereits zum vierten Mal geimpft werden, kamen im weltweiten Durchschnitt im Juni 2022 auf 100 Menschen nur 150 verimpfte Einzeldosen. In Afrika waren es nicht mal 40. Dieses Versagen gab dem Virus den Raum seit Ausbruch der Pandemie weiter zu mutieren. Es entwickelten sich sowohl Varianten, die gefährlicher als auch ansteckender als der Wildtyp waren bzw. sind. Das hatte auch Auswirkungen darauf, mit welchen Mitteln die Verbreitung des Virus noch bekämpft werden kann. Die restriktive Politik des chinesischen Regimes stieß in den letzten Monaten angesichts der hochansteckenden Omikron-Variante an ihre Grenzen. Immer wieder mussten ganze Städte in einen sehr repressiv organisierten Lockdown – mit fatalen ökonomischen aber auch bedeutenden politischen Folgen. Doch auch in Ländern mit höheren Impfquoten muss sich angesichts des weiteren Mutationspotenzials und der schleppenden Anpassung der Impfstoffe an neue Varianten noch zeigen, wann diese in einen endemischen Status übertreten können, in dem das Virus nur noch saisonal zirkuliert und die Krankheitsfälle überschaubarer sind. Auch wenn es bislang keinen Impfstoff gibt, der eine sterile Immunität gegen Covid-19 bewirkt, waren die Impfstoffe ausschlaggebend für eine Eindämmung der Pandemie. Ohne sie wären die Zahl der Todesopfer und schweren Krankheitsverläufe weitaus höher. Die vorhandenen Impfstoffe schützen in den allermeisten Fällen vor schwerer Erkrankung und Tod und reduzieren die Infektionsrate, wenn sie auch nicht umfassend vor Infektion, Reinfektion und Weitergabe des Virus schützen und, wie alle Impfstoffe und Medikamente, Nebenwirkungen haben können.

Der Kapitalismus ist völlig außerstande die soziale Lage der Arbeiter*innenklasse und Armen nachhaltig zu verbessern. Im Gegenteil erleben wir vor allem, aber auch nicht nur in der neokolonialen Welt, sondern auch in den kapitalistischen Zentren einen breiten Abfall der Lebensstandards der Massen. Die ökonomische Entwicklung wird diesen Trend weiter verschärfen. Wie wir in den letzten Jahren gesehen haben, führt das unweigerlich zu Massenprotesten und -bewegungen, wie zuletzt auch in diesem Jahr in Kasachstan oder Sri Lanka. Wie wir analysiert haben, mobilisieren die Massen in diesen Bewegungen enorme Mengen an Energie und Kampfbereitschaft und sind diese Schritte nach vorn. Sie können sogar Regierungen zu Fall bringen. Jedoch weisen diese Bewegungen bisher auch einen Mangel an Selbstorganisation und politischem Programm auf, welches die Frage beantwortet, wie die Krise zu lösen ist. Das beinhaltet die Gefahr, dass sie auf Abwege geraten oder oftmals zufällige Führer*innen faule Kompromisse eingehen können. Entscheidend bleibt in diesen Bewegungen für demokratische Organisationen der Arbeiter*innenklasse und ein revolutionäres, sozialistisches Programm einzutreten.

Der Abfall des Lebensstandards kann aber auch die Arbeiter*innenklasse in entwickelten kapitalistischen Ländern zu größeren Kämpfen veranlassen. Ausgelöst vom Streik der RMT entwickelt sich in Großbritannien eine Streikwelle in anderen öffentlichen und privaten Unternehmen.

Auf der Wahlebene hat sich die politische Polarisierung in vielen Ländern ebenfalls gezeigt. In Frankreich konnte der Linke Mélenchon sein Ergebnis stark ausbauen und verpasste nur knapp den Einzug in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen. Macron konnte draufhin das Duell gegen die Rechtspopulistin Le Pen zwar erneut für sich entscheiden, allerdings mit deutlich knapperem Abstand. Sowohl die Präsidentschafts- als auch die Wahlen zur Nationalversammlung zeigten, wie polarisiert das Land ist, und Macron verlor bei letzteren seine absolute Mehrheit. Das für die Parlamentswahlen neu gegründete linke Bündnis NUPES konnte dafür zweitstärkste Kraft werden. In Lateinamerika setzte sich die Serie von „linken“ Wahlerfolgen fort. Nach den Erfolgen von Boric in Chile und Castillo in Peru kam der Erfolg von Petro in Kolumbien in diesem Jahr hinzu. In Umfragen liegt in Brasilien aktuell der ehemalige Präsident Lula vor dem amtierenden Rechtspopulisten Bolsonaro. Es gibt Gerüchte, dass Bolsonaro einen Putsch plant, sollte er im Oktober keine Mehrheit bei den Wahlen erlangen. Die Linksentwicklung auf dem Kontinent ist eine Reaktion auf die Wut und Verbitterung gegenüber den rechten, neoliberalen Regimes und auf die anhaltende soziale Krise. Nachdem diese „linken“ Führer*innen aber unter oft großen Hoffnungen in der Arbeiter*innenklasse und Jugend in die Regierung gewählt wurden, orientieren sie bisher auf eine Einbindung pro-kapitalistischer Kräfte und streben höchstens Reformen im Rahmen des Systems an. Diese Strategie, auf welche die Linke bereits zu Beginn des Jahrhunderts setzte, ist aber zum Scheitern verurteilt und war bereits in der Vergangenheit die Voraussetzung für die Rückkehr der Rechten. Zudem bleiben die aktuellen „linken“ Führer*innen noch hinter den Programmen von Chavez und Co. zurück und vollziehen sie viel schneller eine Rechtsentwicklung.

Fragile Weltwirtschaft

Die Weltwirtschaft ist von extremer Instabilität geprägt. Die Prognosen der bürgerlichen Ökonom*innen einer kräftigen und nachhaltigen Erholung nach dem Einbruch 2020 haben sich als fernab jeder Realität erwiesen und mussten von ihnen korrigiert werden. Im April 2022 – nach Beginn des Ukraine-Kriegs – schätzte der Internationale Währungsfonds, dass sich das globale Wachstum von 6,1 Prozent in 2021 auf 3,6 Prozent in 2022 und 2023 verringert. Im Juni kürzte die Weltbank ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr um fast ein Drittel gegenüber ihrer Januar-Prognose. Nach 5,7 Prozent Wachstum 2021 geht sie für 2022 nur noch von 2,9 Prozent aus – die stärkste Verlangsamung einer Erholung nach einem Rezessionsjahr in 80 Jahren.

Dabei sind sowohl die Pandemie als auch der Ukraine-Krieg nicht die tiefere Ursache für die Probleme der kapitalistischen Weltwirtschaft. Bereits vor Ausbruch der Pandemie deutete einiges auf den Beginn einer globalen Rezession hin. Mehrere Monate, bevor Bundeskanzler Scholz eine „Zeitenwende“ verkündete, fand eine Zeitenwende auf wirtschaftlichem Gebiet statt. Eine etwa drei Jahrzehnte währende Phase niedriger Inflationsraten und geringer Schwankungen der Inflationsraten von Jahr zu Jahr, vor allem in den entwickelten kapitalistischen Ländern, endete. Diese Phase war durch die Restauration des Kapitalismus in Osteuropa, der ehemaligen Sowjetunion, Chinas etc., die der kapitalistischen Weltwirtschaft in großem Umfang billige Rohstoffe und Arbeitskräfte, sowie Absatzmärkte zuführte, ermöglicht. Der Kapitalismus einiger entwickelter kapitalistischer Staaten, wie Deutschland oder die USA, konnte diese Phase aber nicht zur Lösung seiner grundsätzlichen Probleme nutzen, obwohl ihm sinkende Zinsen – bis hin zu negativen Zinsen – eine Steigerung der Nachfrage durch eine Aufblähung der Verschuldung ermöglichten. Wirtschaftskrisen, wie die vom 2007 bis 2009, machten staatliche Eingriffe zur Stützung des Kapitalismus nötig und verstärkten den Trend zur massiven Verschuldung. Trotz der niedrigen Zinsen ging der Anteil der Investitionen an der Wirtschaftsleistung vor allem in Krisenjahren deutlich zurück und erholte sich nie vollständig. Stattdessen begünstigten die niedrigen Zinsen die Aufblähung von Spekulationsblasen. Die verschärfte Ausbeutung der Arbeiter*innen – insbesondere die Ausdehnung von Niedriglohnsektoren – trugen zur Verlangsamung der gesamtgesellschaftlichen Zunahme der Arbeitsproduktivität bei (es besteht wenig Anreiz, billige Arbeitskräfte durch teure Maschinen zu ersetzen), die zum Beispiel in Deutschland zunächst hohe Arbeitslosenquoten senkte, aber inzwischen in verschiedenen Bereichen zu Arbeitskräftemangel führt. Der Kapitalismus tritt jetzt auch in entwickelten Ländern, wie den USA oder in Westeuropa, in eine neue durch höhere und stärker fluktuierende Inflationsraten geprägte Phase mit mehreren Mühlsteinen aus der Vergangenheit um den Hals ein: hohe (staatliche, private und Unternehmens-)Verschuldung, niedrige Investitionen, niedrige Zunahme der Arbeitsproduktivität und teilweise Arbeitskräftemangel.

Der Krieg in der Ukraine hat die Probleme in der Weltwirtschaft massiv verschärft. Die schon vor dem Krieg steigenden Preise für Energieprodukte sind geradezu explodiert, ebenso sind die Preise für viele Rohstoffe gestiegen. Lebensmittelpreise, insbesondere der von der Ukraine und Russland viel exportierten Waren wie Weizen und Sonnenblumenprodukte, sind extrem angestiegen. Lieferketten wurden abermals gestört, was die Probleme auf der Angebotsseite weiter verschärfte. Doch der Krieg ist Verstärker, nicht tiefere Ursache der Krise. Schon zu Beginn des Jahres deutete sich eine Verlangsamung des Wachstums wegen u.a. anhaltender Corona-Ausbrüche, Problemen bei den globalen Lieferketten und den zurückgehenden staatlichen Pandemiehilfen an.

Der Krieg hat ebenso die Inflation vor allem durch die massiv gestiegenen Öl- und Gaspreise angeheizt, aber nicht allein verursacht. Die OSZE ging im Juni von einer durchschnittlichen jährlichen Inflationsrate in ihren Mitgliedsstaaten von fast 9 Prozent aus. In den osteuropäischen Ländern liegt die offizielle Inflationsrate bereits im niedrigen zweistelligen Bereich. In vielen Ländern in der neokolonialen Welt, aber auch einigen stärkeren Wirtschaften wie der Türkei, ist die offizielle Inflation noch höher – die realen Preissteigerungen übertreffen diese Werte teilweise um ein Hundert- oder Tausendfaches. Das wird die soziale Krise in vielen Ländern weiter anfeuern.

Laut der Vereinten Nationen stiegen im März die Lebensmittelpreise global im Vergleich zum Vorjahresmonat um 34 Prozent. Weltweit verschärft sich der Mangel an Lebensmitteln. Die UNO geht davon aus, dass in diesem Jahr 49 Millionen Menschen in 46 Ländern von einer Hungersnot bedroht sind, u.a. auch aufgrund von verschiedenen, gewaltreichen Konflikten und zunehmend aufgrund der Folgen des Klimawandels. Diese Entwicklung wird in zahlreichen Ländern eine Hungerkrise auslösen oder verstärken, welche zu Aufständen, bewaffneten Konflikten und der weiteren Erodierung staatlicher Strukturen führen kann.

Im Sommer herrschte noch die Angst vor einer Stagflation unter den bürgerlichen Ökonom*innen. Der Chef der Weltbank-Gruppe David Malpass schreibt im Juni: „Mehrere Jahre überdurchschnittlicher Inflation und unterdurchschnittlichen Wachstums sind nun wahrscheinlich – mit potenziell destabilisierenden Folgen für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Das ist ein Phänomen – Stagflation – welches die Welt seit den 1970er Jahren nicht mehr gesehen hat.“ Mittlerweile haben sich die Aussichten verdüstert und herrscht Angst vor einer Rezession.

Allerdings ächzt die Weltwirtschaft im Vergleich zu den 1970er Jahren unter einem riesigen Ballast. Die massiv gestiegene globale Verschuldung gleicht einer tickenden Zeitbombe. 2021 türmte sich der weltweite Schuldenberg auf eine neue Spitze von 300 Billionen US-Dollar. Die Frage ist nicht, ob diese Bombe explodiert, sondern wann und wie. Bereits jetzt gibt es Länder wie Sri Lanka, die zahlungsunfähig sind. Die Weltbank warnt, dass in diesem Jahr 12 „Entwicklungsländern“ dieser Schritt drohen könnte. 60 Prozent der Länder mit niedrigem Einkommen gelten als akut von einer Schuldenkrise bedroht. Im Gegensatz zu früheren Schuldenkrisen sind ein Großteil der Gläubiger heute nicht andere staatliche sondern privatwirtschaftliche Akteure. Zum Ende von 2020 schuldeten Länder mit geringem und mittlerem Einkommen fünfmal so viel an letztere. Ein Großteil der Kredite umfasst variable Zinsraten – reagieren also auf Veränderungen der Leitzinsen.

In Reaktion auf die anhaltende Inflation haben die wichtigsten Zentralbanken begonnen, ihre massiven Anleihekaufprogramme (Quantitative Easing) zurückzufahren und bereits die Leitzinsen in ersten Schritten erhöht. Über Jahre waren diese Maßnahmen geschaffen, um Unmengen an billigem Geld in die Märkte zu pumpen und die Wirtschaft nach der Krise zu stützen. Dies hatte nicht zu einem nachhaltigen Wachstum geführt, ein großer Teil dieses Geldes floss direkt in die Spekulation auf den Finanzmärkten. Die Hoffnung hinter den neuen Maßnahmen ist nun, einen Beitrag zu leisten, die Inflation unter Kontrolle zu bekommen. Ob und wie schnell das gelingt, ist fraglich. Klar ist aber, dass diese Maßnahmen die Gefahr einer erneuten Rezession – mitsamt der entsprechenden sozialen Folgen für die Arbeiter*innenklasse und Mittelschichten – drastisch erhöhen. Höhere Leitzinsen bergen außerdem das Potenzial, die Schuldenkrise in vielen Ländern der neokolonialen Welt, aber auch in entwickelten kapitalistischen Ländern auf die Tagesordnung zu setzen. Einige US-Ökonom*innen warnen mittlerweile vor einer drohenden Rezession in diesem oder nächstem Jahr.

In der Privatwirtschaft und an den Finanzmärkten kann diese Entwicklung ebenfalls drastische Folgen haben. Laut Morgan Stanley machen sogenannte Zombie-Unternehmen (Firmen, die ihre bestehenden Schulden lediglich mit neuen Schulden ausgleichen und die Zinsen nicht bezahlen können) 16 Prozent aller US-Unternehmen aus. In Deutschland waren es 2020 laut ifo-Institut 20 Prozent. Steigende Zinsen und der fehlende Zugriff auf billiges Fremdkapital können weitere Tumulte auslösen und Blasen zum Platzen bringen, da Kredite und Fremdkapital auch bei der Spekulation in großem Umfang verwendet werden. Viele Aktienmärkte sind mittlerweile im sogenannten „Bärenmarkt“, einem Abfall von 20 Prozent seit dem letzten Hoch. Der Ökonom Nouriel Roubini schätzte, dass Wertverluste von bis zu 50 Prozent in einer Rezession möglich sind. Der Gesamtwert sämtlicher gehandelter Krypto-Währungen implodierte von drei Billionen US-Dollar im letzten November auf gerade mal eine Billion US-Dollar im Juni diesen Jahres. Auch in der Immobilienbranche und in anderen Bereichen könnten „Korrekturen“ stattfinden.

Krisenpotenzial in Europa

Diese ökonomischen Entwicklungen können auch die nächste Krise in der Europäische Union auf die Tagesordnung setzen. Das Wirtschaftswachstum nach dem Einbruch 2020 fiel in Europa und der Eurozone merklich geringer aus als in China oder den USA. Die Pandemie legte die Fliehkräfte in der EU erneut offen. Der gemeinsame EU-Haushalt und ein gemeinsames Konjunkturpaket konnten zwar nach heftigen Debatten und ohne abschließende Klärung aller Finanzierungsfragen verabschiedet werden, doch sind diese Mittel nicht ausreichend um die Krisenentwicklung umzukehren und ist das Potenzial für weitere Streits groß. Mit Beginn des Ukraine-Kriegs gab es zwar eine kurzzeitige Tendenz, sich in der EU auf den gemeinsamen Gegner zu konzentrieren und bestehende Konflikte hintanzustellen. Doch von einer nachhaltigen neuen Einheit kann keine Rede sein. Je länger der Krieg anhält, desto offensichtlicher werden auch die in der EU existierenden, unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Staaten.

Das Herunterfahren der Ankaufprogramme der Europäischen Zentralbanken und die Aussicht auf steigende Leitzinsen haben das Gespenst einer neuen Staatsschulden- und Euro-Krise wiedererweckt. Hochverschuldete Staaten wie Spanien und Italien haben in den ersten Monaten des Jahres bereits erlebt, wie die Renditesätze ihrer Staatsanleihen im Vergleich zu beispielsweise den deutschen Anleihen in die Höhe stiegen. Eine Staatsschuldenkrise dieser Länder wäre wegen ihrer ökonomischen Bedeutung weitaus folgenreicher als die Griechenlands. Mit dem „Transmission Protection Instrument“ (TPI) will die EZB einer Fragmentation der Euro-Zone entgegenwirken, indem sie sich die Option offen hält, Anleihen kriselnder Staaten sowie private Wertpapiere zu kaufen. Aber in Zeiten von Inflation und höheren Zinsen lässt sich das Instrumentarium der quantitativen Lockerung nicht mehr so anwenden wie im vergangenen Jahrzehnt. Auf der anderen Seite kann sich die Eurozone dem internationalen Trend zu höheren Zinsen nicht entziehen, weil das zu Wechselkursverlusten des Euro und dadurch zu zusätzlicher Inflation durch teurere Importe führen würde. Insbesondere Teile des deutschen Imperialismus werden sich trotz ihres Interesses am Bestand von Euro und EU dagegen wehren, in Haftung zu gehen und Austeritätsprogramme fordern. Diese Fragen bieten weiteren Zündstoff für die EU.

Abseits der ökonomischen und sozialen Krise gibt es eine ganze Reihe weiterer politischer Fragen mit Zündstoff in der EU, u.a. die Entwicklung einer gemeinsamen Außen- und Rüstungspolitik, dem Umgang mit China und den USA, die Konflikte mit Polen und Ungarn um deren Justizsystem oder die Gefahr eines Scheiterns des mit Großbritannien vereinbarten Nordirland-Protokolls. Im Zuge der weltweiten multiplen Krise wird es, wie bereits im Ukraine-Krieg, zu neuen Migrationsbewegungen kommen, welche die politische Krise verschärfen können. Das EU-Parlament hat zudem kürzlich die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips gefordert, wenngleich eine Änderung der EU-Verträge eine riesige Herausforderung für die Herrschenden wäre.

Rechtspopulistische, EU-kritische Kräfte in den einzelnen Ländern können ebenso politische Krisen in der EU auslösen, wenngleich die Wahl solcher Regierungen nicht automatisch zu einem Austritt führen muss. Die Wahlen in Frankreich haben das Potenzial gezeigt, wie schnell eine rechtspopulistische Regierung in der EU – zudem in einem so wichtigen Land wie Frankreich – an die Macht kommen kann. Hätte Marine Le Pen die Wahlen gewonnen, hätte das weitreichende Folgen für die Europäische Union und ihre Verfasstheit gehabt. In Italien ist die Draghi-Regierung unter anderem an den Folgen von Wirtschaftsproblemen und Ukraine-Krieg zerbrochen. Nach den Umfragen ist eine von den rechten EU-kritischen Fratelli d’Italia geführte Regierung nach den Wahlen Ende September zu erwarten. Eine EU-kritische Regierung in einem der wichtigsten EU-Länder würde die Instabilität enorm steigern und könnte zum Trigger für weitere Krisenentwicklungen werden.

Gleichzeitig zeigen die Ernennung der Ukraine und der Republik Moldau zu EU-Beitrittskandidaten auch das Bestreben, die EU und ihren Einfluss weiter auszuweiten. Dahinter stehen auch die Interessen des deutschen Kapitalismus – das gilt insbesondere in den Balkanstaaten. Diskutiert wird unter anderem deren vorzeitige Integration in den EU-Binnenmarkt. Jedoch können sich solche Verhandlungen lange hinziehen und schließen sie weitere Konflikte nicht aus. Seit einiger Zeit haben die nationalen Konflikte auf dem Balkan wieder zugenommen. Serbien hat trotz seines EU-Beitrittskandidatenstatus die Sanktionen gegen Russland nicht unterstützt.

Weitere Austritte von einzelnen Ländern, eine Rekonfiguration oder sogar ein Auseinanderbrechen der EU bzw. Eurozone sind, wie wir an verschiedener Stelle erklärten, in der multiplen Krise grundsätzlich angelegt. Für den deutschen Imperialismus ist die EU allerdings weiterhin ein entscheidender ökonomischer Absatzmarkt und der entscheidende Hebel, um seine Ambitionen auf der Weltbühne gegen die anderen Großmächte, auch die USA, zur Geltung zu bringen.

Lage in Deutschland

Rekordinflation und Rezessionsgefahr

Für die herrschende Klasse in Deutschland bringt der Krieg besondere Probleme und Herausforderungen mit sich. Die sogenannte „Zeitenwende“, die Olaf Scholz im Bundestag ausrief, hat große Auswirkungen auf die zukünftige internationale Politik des deutschen Kapitals. Jedoch verschärft der Krieg und seine weitreichenden Folgen auch die ökonomischen Probleme des deutschen Kapitalismus.

Die deutsche Wirtschaft ist grundsätzlich extrem abhängig von Exporten und damit anfälliger für internationale Krisen und Einbrüche im Welthandel. Die Probleme der Industrie, welche schon vor Kriegsausbruch wegen instabiler Lieferketten und teilweisem Vorproduktemangel in Schwierigkeiten war, haben sich durch den Krieg verschärft. Immer wieder gab es trotz teilweise gut gefüllten Auftragsbüchern Kurzarbeit und Produktionsstopps, zum Beispiel in der Stahlindustrie oder bei Autobauern. Insbesondere die explodierenden Energiepreise treffen die gesamte Wirtschaft. Der Krieg, aber auch die wiederkehrenden Lockdowns in Städten und Regionen Chinas, verschärfen die Lieferprobleme. Die fallenden Lebensstandards durch die Inflation werden gleichzeitig die Nachfrage sowohl in Deutschland als auch international drücken.

Alle Forschungsinstitute mussten ihre Wachstumsprognosen in Folge des Krieges senken, teilweise um mehr als die Hälfte. Die sogenannten „Wirtschaftsweisen“ der Bundesregierung rechneten noch im letzten Jahr mit 4,6 Prozent Wachstum, im März gingen sie von 1,8 Prozent für 2022 aus. Das gewerkschaftsnahe IMK prognostizierte bei einem Importstopp von russischem Gas (und einer Deckung der Hälfte der entstehenden Lücke aus anderen Quellen) eine tiefe Rezession von minus sechs Prozent für dieses Jahr. Im Juni senkten zahlreiche Institute ihre Prognosen für das laufende Jahr erneut ab. Es häufen sich die Anzeichen, dass eine weitere Rezession kommt. Der Deutsche Bank-Chef Sewing sprach von einem weltweiten Rezessionsrisiko von 50-50, wenn die Zinsen weiter steigen.

Doch es ist nicht so, dass die deutsche Wirtschaft vor dem Krieg kerngesund gewesen wäre. Entgegen der Prognosen der zahlreichen Expert*innen, dass nach dem massiven Einbruch im Corona-Jahr 2020 ein rasche Erholung einsetzen würde, stagnierte das Bruttoinlandsprodukt. Seit dem dritten Quartal 2021 liegen die Quartalswachstumsraten des BIP zwischen 0,0 und 0,8 Prozent. Im Gegensatz zu zwanzig anderen EU-Mitgliedsstaaten hat Deutschland das Vorkrisenniveau aus dem vierten Quartal 2019 noch immer nicht erreicht.

Allerdings steigt seit Mitte 2021, der dritten Corona-Welle, kontinuierlich die Zahl der Erwerbstätigen. Mit den Aufhebungen der Corona-Beschränkungen und dem Wiederanlaufen der Wirtschaft nach dem Einbruch 2020 ist die Nachfrage nach Arbeitskräften hoch. Das Vorkrisenniveau wurde schon wieder erreicht. Das ifo-Institut rechnet für 2022 mit 300.000 weniger Arbeitslosen, offiziell dann 2,3 Millionen (wobei hier wie immer viele herausgerechnet werden). Die Zahl der Kurzarbeiter*innen ist ebenfalls stark gesunken. Eine Verringerung der Arbeitslosigkeit ist grundsätzlich eine positive Entwicklung, weil die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten wächst, sich somit die Konkurrenz mit der industriellen Reservearmee reduziert und es tendenziell bessere Voraussetzungen für den Klassenkampf schafft. Allerdings kann sich die Zahl der Arbeitslosen angesichts der unsicheren Aussichten, insbesondere der Weltwirtschaft, auch schnell wieder erhöhen, wenn es zu einer Rezession kommt.

In vielen Branchen herrscht gleichzeitig Personalmangel. In der Pandemie wurden zum Beispiel in der Gastronomie, im Luftverkehr, in der Logistikbranche oder im Einzelhandel zahlreiche Stellen abgebaut. Angesichts der Inflation und der oft schlechten Arbeitsbedingungen und/oder niedrigen Löhne in diesen Branchen sind viele Beschäftigte nicht bereit, in diese Berufe zurückzukehren, wenn sie dazu Alternativen in anderen Branchen haben. Dasselbe gilt für das Gesundheitswesen und die Pflege, wo es zwar einen Zuwachs von Beschäftigten gab, aber dieser keinesfalls ausreicht, um den jahrelangen Personalmangel auch nur spürbar zu lindern. Die demografische Entwicklung führt zudem dazu, dass immer mehr geburtenstarke Jahrgänge aus dem Arbeitsleben ausscheiden, ohne dass diese Beschäftigten ersetzt werden. Derzeit sind laut DIHK mehr als 1,7 Millionen Stellen in Deutschland nicht besetzt. Laut Europäischem Zentrum für Wirtschaftsforschung werden in zehn bis 15 Jahren vier Millionen Arbeitskräfte fehlen.

Das Mini-Wachstum im ersten Quartal 2022 verdankt die deutsche Wirtschaft auch den Lockerungen der Corona-Maßnahmen, dem Dienstleistungssektor und einer gewissen Wiederbelebung des Konsums. Dass das anhält, ist alles andere als sicher. Die massiv gestiegene Inflation wird den Binnenkonsum untergraben. Der GfK-Konsumklima-Index lag im Mai und Juni bei etwa -26 Prozent und damit -20 Punkte unter den Monaten Januar und Februar.

Zwischen März und Juni lag die allgemeine Inflationsrate konstant zwischen sieben und acht Prozent, die höchsten Werte seit Ende der 1970er Jahre. Diese Entwicklung wird insbesondere von den Energiepreisen getragen. Heizöl und Kraftstoffe verteuerten sich im Mai 2022 um die Hälfte gegenüber dem Vorjahresmonat; Strom, Gas und andere Brennstoffe um 37 Prozent; Lebensmittel um 11 Prozent. Die Inflation trifft insbesondere die Arbeiter*innenklasse und große Teile der Mittelschichten. Die Löhne werden aufgefressen, die reale Kaufkraft sinkt – auch hier verschärft sich ein bereits existierender Trend. Schon 2021 und 2020 sanken die Reallöhne im Durchschnitt bereits um 0,1 Prozent bzw. 1,1 Prozent. Dies wird sich aller Voraussicht nach 2022 fortsetzen.

Auch einige Großkonzerne werden Einbußen bei ihren Gewinnmargen hinnehmen müssen. Sie werden versuchen Preissteigerungen weiterzureichen, den Absatz zu steigern oder reale Lohn- und Produktionskosten zu senken. Doch es gibt auch zahlreiche Krisenprofiteure. Die Mineralölkonzerne „erwirtschafteten“ laut einer Studie von Greenpeace zusätzliche Roherlöse von über drei Milliarden Euro seit Beginn des Ukraine-Kriegs – allein in Deutschland sind es 38,2 Millionen Euro pro Tag.

Die Spekulation mit Wohnraum ist seit der Privatisierung von großen öffentlichen Wohnungsbeständen und der Deregulierung des Wohnungs- und Finanzmarktes zu einem wichtigen Bereich der Kapitalverwertung geworden. Es entstanden große Immobilienkonsortien und -konzerne. Mit VONOVIA entstand innerhalb der letzten 20 Jahre der größte Wohnungskonzern und der erste, der in den DAX aufgenommen wurde. Nach der Übernahme der Deutsche Wohnen hält der Konzerne 550.000 Wohnungen. Die Geschäftspolitik dieser Immobilienkonzerne und Konsortien besteht darin mit Krediten Häuser aufzukaufen, die in den Bilanzen immer höher bewertet wurden. Dadurch stiegen die Bilanzgewinne, was wiederum neue Kredite und weitere Aufkäufe ermöglichte. Die aktuell steigenden Zinsen führen zu sinkenden Bilanzwerten und zu Problemen der Schuldenbedienung. Der kreditfinanzierte Boom ist vorbei. VONOVIA hat einen Kurswechsel von Expansion auf Verkauf vollzogen und angekündigt zum Schuldenabbau Häuser im Wert von 13 Milliarden zu verkaufen und nun „organisch“, sprich über eine noch aggressivere Auspressung der Mieter*innen wachsen zu wollen. Wenn der Konzern die Häuser nicht zu dem Preis, mit dem sie in den Büchern stehen, verkaufen kann, gerät der Konzern in die Krise. Der Immobilienkonzern Adler Real Estate ist bereits auf Ramschniveau abgestürzt und kann seine Schulden nicht mehr bedienen. Eine Pleite der Adler-Group hätte auch Auswirkungen auf VONOVIA, da VONOVIA mit 20% beteiligt ist. Es ist nicht auszuschließen, dass der Staat einspringt, denn ein Zusammenbruch der kreditfinanzierten Immobilienbranche könnte auch eine Banken- und Finanzkrise auslösen. Die Stadt Dresden kauft bereits 3.000 ehemals städtische und inzwischen heruntergewirtschaftete Wohnungen von der VONOVIA zurück.

Die Gefahr der Energiekrise

Ein Ende der Inflation ist aktuell nicht in Sicht. Dafür existiert das Potenzial für weitere Preissteigerungen. Unter den deutschen Kapitalist*innen ist die Angst vor einem kompletten Lieferstopp von russischem Erdgas groß. Insbesondere die Grundstoffindustrie, die Stahl- und Eisenindustrie, Glaserzeugung und Chemieindustrie wären davon massiv betroffen. BASF-Chef Martin Brudermüller warnte in der FAZ in diesem Fall vor einer „Zerstörung der gesamten Volkswirtschaft“. Ein Versorgungsengpass hätte weitreichende Folgen nicht nur für die betroffenen Bereiche, sondern auch bei den weiteren Gliedern der Wertschöpfungskette in anderen Industriebetrieben. Die Chemieindustrie allein verbraucht 15 Prozent des Gesamt-Erdgasverbrauchs. Allein in dieser Branche arbeiten 464.000 Beschäftigte plus eine halbe Million in der Zuliefererindustrie. Eine durch eine Energiekrise ausgelöste Rezession in Deutschland könnte sehr schnell zu einem neuen Anstieg von Kurzarbeit und auch zu massivem Stellenabbau führen.

Der Krieg in der Ukraine hat den Kampf um Energieressourcen weltweit verschärft auf die Tagesordnung gesetzt. Doch schon vorher war das Feld Austragungsort imperialistischer Konflikte. Die „strategische Partnerschaft“ zwischen Deutschland und Russland war jahrzehntelang darauf gegründet, dass Deutschland günstig mit Gas versorgt wird. Die North Stream 2-Pipeline sollte das sicherstellen, aber auch die Machtposition Deutschlands in der europäischen Energieversorgung ausbauen. Nicht nur die eigene Versorgung, sondern auch der Weiterverkauf des Gases war das Ziel. Die Ukraine, über die bis heute der Großteil russischen Gases nach Europa transportiert wird, hätte Milliarden an Transiteinnahmen verloren. Die USA fürchteten u.a. um die Absatzchancen ihres Fracking-Gases. Deshalb war es unter den „Partnern“ und in der EU so umstritten. Nach der russischen Invasion hat Deutschland das Projekt vorerst auf Eis gelegt, wenngleich nicht ausgeschlossen ist, dass Deutschland zu einem späteren Zeitpunkt wieder versuchen wird, die Beziehung zu Russland zu normalisieren. Doch vorerst nutzt Deutschland nun die Sanktionen, um den russischen Imperialismus zu schwächen. Das EU-Embargo auf von Tankern geliefertes Öl aus Russland soll bis Jahresende kommen, ein vergleichbares Embargo für Gas gibt es aber nicht wegen der Bedeutung des Rohstoffs für Deutschland. Gleichzeitig sucht die Bundesregierung nach Alternativen. Sie baut LNG-Terminals, um Flüssiggas zu importieren und führt Verhandlungen nicht nur mit Katar sondern auch mit Venezuela. Sie will verstärkt Kohlekraftwerke nutzen, um die Reduktion der russischen Gasimporte zu kompensieren. Diskutiert wird außerdem eine Aufhebung des Fracking-Verbots und die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken.

Es ist sicher, dass die Energiepreise vorerst hoch bleiben und noch weiter steigen können. Die russische Reduktion der Gaslieferungen verschärft diese Entwicklung. Die deutschen Gasspeicher konnten zwar weiter gefüllt werden, aber es könnte im Winter trotzdem knapp werden. Der Gasnotfallplan der Bundesregierung sieht die Möglichkeit vor, im Falle einer gestörten Gasversorgung die Liefermengen an Industrie und Haushalte zu rationieren. Zwar sind Haushalte bisher gesetzlich besser gestellt. Allerdings führt eine Gesetzesänderung aus dem Mai dazu, dass die Versorger die gestiegenen Preise selbst bei längerfristigen Verträgen mit garantierten Preisen direkt anheben und an die Endverbraucher*innen weiterreichen können, wenn eine gestörte Gasversorgung festgestellt wurde. Je nach dem wie sich die Situation entwickelt, kann diese Nachzahlungswelle riesige Dimensionen annehmen. Mit der „Verordnung zur Sicherung der Energieversorgung durch kurzfristig wirksame Maßnahmen“ sollen bis Februar 2023 20 Prozent Gas eingespart werden. Die damit verbundenen Maßnahmen treffen wie bei Corona-Pandemie vor allem die Arbeiter*innenklasse. So wird die vorgeschriebene Mindesttemperatur für Büros von 20 Grad für den öffentlichen Dienst aufgehoben, die Temperatur auf maximal 19 Grad begrenzt und eine Erwärmung des Trinkwassers in öffentlichen Betrieben und Einrichtungen zum Händewaschen untersagt (ausgenommen Krankenhäuser, Kitas, Schulen und Pflegeeinrichtungen). Vertragliche Vereinbarungen in Mietverträgen über eine garantierte Mindesttemperatur in Wohnungen werden aufgehoben. Durch „Lüftungsverhalten“ werden die Mieter*innen verantwortlich gemacht, Schimmel zu verhindern. Die Kommunen haben bereits weitergehende Energieeinsparungen zu Lasten der Arbeiter*innenklasse angekündigt: Streichung von Warmbadetagen, Absenkung der Temperaturen in Hallenbädern und Sporthallen, Schließung von Saunen, Außenbecken, Hallenbädern und Sporthallen, kein Betrieb von städtischen Eislaufhallen und anderen Freizeiteinrichtungen.“ Zudem stellt das Öl-Embargo insbesondere die Versorgung in Ostdeutschland vor Probleme. Die Ölraffinerie im brandenburgischen Schwedt, die die Region Berlin-Brandenburg und weite Teile Ostdeutschlands versorgt, wird im Moment mit russischem Rohöl versorgt. Bisher ist unklar, wie die Versorgung ab nächstem Jahr sichergestellt wird. Die Bundesregierung hat zwar eine Produktionsgarantie ausgesprochen und sogar die rechtlichen Voraussetzungen für eine Verstaatlichung der vom russischen Staatskonzern Rosneft betriebenen Raffinerie geschaffen. Allerdings ist unklar, was mit den 1.200 Mitarbeiter*innen passiert und wie die Versorgung sichergestellt werden soll.

Autoindustrie

Trotz Lieferproblemen macht die Autoindustrie aktuell Rekordgewinne. Laut ifo-Institut hat sich zwar bei den Autobauern und Zulieferern ein Rekordwert an unerledigten Aufträgen angehäuft. In Folge werden laut „Automobilwoche“ im Inland 2022 etwa 700.000 weniger Autos gebaut werden können und damit rund ein Drittel der geplanten Jahresproduktion. Allerdings ermöglicht die Verknappung des Angebots und der Fokus auf Luxusmodelle auch höhere Preise und Extraprofite. Noch machen Daimler, BMW, Volkswagen und Co. Rekordgewinne – allein im vergangenen Jahr stieg der Ertrag pro Neuwagen um 61 Prozent. BMW hat seinen Gewinn verdreifacht auf über zwölf Milliarden Euro, Daimler machte 14 Milliarden und Volkswagen 15 Milliarden Euro Gewinn. Nachdem die Konzerne in der Pandemie staatliche Unterstützung in Form von Kurzarbeit erhielten, erhöhen sie nun kräftig die Dividenden an ihre Aktionär*innen.

Doch die aktuellen Rekordgewinne dürfen nicht über die strukturellen Probleme der Autoindustrie hinwegtäuschen. Neben den sich mit der Corona-Politik der chinesischen Regierung verschärften Lieferprobleme stellt auch die Zunahme der imperialistischen Spannungen (u.a. mit China) die deutschen Kapitalist*innen vor große Probleme – insbesondere in der Automobilindustrie. VW, BMW und Daimler machen 30 bis 40 Prozent ihres Umsatz in China. Das Land ist eine entscheidende Stütze für die Konzerne. Der globale Wettbewerb verschärft sich angesichts der Krise, sowohl mit den USA als auch mit China. Im November 2021 sagte Ex-VW-Chef Diess: „Der nächste Golf darf kein Tesla sein! Der nächste Golf darf nicht aus China kommen! Die nächste Ikone muss wieder ein Wolfsburger sein!“ Diese Konkurrenz wird den Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen erhöhen. Ein paar Wochen vorher drohte Diess noch mit dem Abbau von 30.000 Stellen. Während Tesla im Sommer angekündigt hat, über 3000 Beschäftigte weltweit zu entlassen, finden sich für die neugebaute Giga-Factory in Grünheide (Brandenburg) nicht genügend Bewerber*innen, weil die Löhne im Vergleich niedrig sind.

Die EU hat für neu produzierte PKWs zwar für 2035 Null-Emmission beschlossen, auf Druck von Deutschland und anderer autoproduzierender Staaten bleibt für den Verbrenner die Hintertür E-Fuels aber offen. Die Ausweitung der Produktion von Elektroautos in der Automobilindustrie ist in vollem Gange. Die Autokonzerne wollen damit neue Profitmöglichkeiten erschließen. Wir haben an anderer Stelle erklärt, dass dies keineswegs eine nachhaltige, ökologische Entwicklung ist und auch von dem zurecht umweltschädlichen Image der Autokonzerne ablenken soll. Gleichzeitig sind die Ziele von EU und Bundesregierung für die Zulassung und den Aufbau einer Ladeinfrastruktur noch in weiter Ferne. Die weitere ökonomische Entwicklung, insbesondere die aktuell steigenden Preise für Stromerzeugung, können die Erreichung dieser Ziele weiter in Frage stellen. Ebenso haben wir auf den Stellenabbau bzw. Produktionsverlagerungen ins Ausland hingewiesen, der im Windschatten der „Transformation“ betrieben wird. So schreibt die IG Metall auf ihrer Website: „Während die Beschäftigung von 2010 bis 2018 in der deutschen Automobilindustrie um 18,9 Prozent gestiegen ist, setzte ab 2018 durch den Strukturwandel ein Beschäftigungsabbau ein. Die Folge war ein Stellenabbau in 2019 von -1,3 Prozent und 2020 von -2,6 Prozent.“ Ford will 2025 sein Werk in Saarlouis mit 6.000 Arbeitsplätzen schließen. Daimler Truck will in seinem EvoBus-Werk in Mannheim 1.000 Arbeitsplätze ins Ausland verlagern. Damit verbunden ist auch die Vernichtung von 600 Arbeitsplätzen in Ulm. Der geplante E-Campus im Daimler-Stammwerk Untertürkheim kann nicht die tausende Arbeitsplätze, die beim Verbrenner wegfallen ersetzen. Der Bau einer neuen 2 Milliarden teuren Gigafactory von VW in Wolfsburg als Konkurrenz zu Tesla ist ein riesiges Programm zur Rationalisierung und Lohnsenkung. Gleichzeitig gibt es einen Beschäftigungsaufbau an anderer Stelle wie bei Tesla in Grünheide. Mit hohen staatlichen Subventionen soll die Produktion von Batteriezellen und Halbleitern in Europa aufgebaut werden. Allein VW will zusammen mit anderen Unternehmen 20 Milliarden Euro in den Bau von sechs Batteriefabriken investieren. Eine dieser Fabriken mit 5.000 Arbeitsplätzen soll in Salzgitter entstehen. Ob die Investitionspläne bei einem verschärften Krisenszenario und der weitere Aufbau des Tesla-Werkes in Berlin tatsächlich umgesetzt werden, ist fraglich. Elon Musk hat sowohl die neue noch nicht voll hochgefahrene Fabrik in Grünheide als auch das Tesla-Werk in Texas als „Geldverbrennungsöfen“ bezeichnet. Die deutschen Premiumhersteller machen allerdings trotz rückläufiger Produktion Rekordgewinne. Weil die Nachfrage auf ein durch Lieferkettenstörungen reduziertes Angebot stößt, können sie zumindest vorübergehend höhere Preise durchsetzen.

Die Abhängigkeit von Teilen der deutschen Wirtschaft wird zum strategischen Problem für die Herrschenden in der neuen multipolaren Weltordnung. Der Konflikt mit Russland hat vor Augen geführt, wie schnell sich zwischenstaatliche und Handelsbeziehungen verschlechtern können. Die deutsche Wirtschaft macht mit vielen Seiten gute Gewinne, steht aber auch zwischen den Stühlen. China hat nicht nur eine völlig andere Dimension als Absatzmarkt als Russland. Es ist auch wichtiger Exporteur von zum Beispiel seltenen Rohstoffen. Seit fast zwei Jahrzehnten kontrolliert das Land fast die gesamte Wertschöpfungskette für Seltene Erden. Viele solcher Rohstoffe sind essentiell für die Herstellung in der Autoindustrie, aber auch für die Energiewende.

Politisches Bewusstsein

Der russische Einmarsch in der Ukraine war ein Schock, der durch die gesamte Gesellschaft ging. Die Angst vor einer Ausweitung oder Eskalation des Krieges war in den ersten Kriegswochen enorm. Das Bewusstsein war geprägt von der Einsicht, in eine neue Zeit der geopolitischen Auseinandersetzungen einzutreten – nicht zuletzt wurde das verschärft durch die massive Propaganda der bürgerlichen Medien. Anfang März hatten 69 Prozent die Sorge vor einer Ausweitung des Konflikts zu einem Weltkrieg. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist zudem die Angst vor dem Einsatz von Nuklearwaffen in einem konkreten militärischen Konflikt zurückgekehrt. Im April gaben 62 Prozent an, sie fürchteten sich vor dem Einsatz von Atomwaffen.

Viel mehr als in vergangenen, vom Westen begonnenen Kriegen gab es eine massive Verwirrung in der Arbeiter*innenklasse und Linken über die Hintergründe des Konflikts, seinen imperialistischen Stellvertreter-Charakter und die Rolle der westlichen Regierungen sowie darüber, was gegen den Krieg zu tun sei. Die Herrschenden haben den Krieg, in dem der Westen zur Abwechslung mal nicht als eindeutiger Aggressor auftrat und er seine eigene Verantwortung für den seit Jahren in der Ukraine ausgetragenen, imperialistischen Konflikt besser verstecken kann, für eine Militarisierung der Außenpolitik genutzt. Das Solidaritätsgefühl mit der ukrainischen Bevölkerung wurde missbraucht, um neue Standards bei Waffenexporten an pro-kapitalistische Kräfte auch in Krisengebieten zu etablieren und die Bundeswehr aufzurüsten. Kampagnen zur Hebung des Ansehens der Bundeswehr hatten bereits in den letzten Jahren zu genommen und werden weitergehen. Eine ideologische Kampagne wird zudem von großen Teilen der herrschenden Klasse vorangetrieben, welche vergangene „Fehler“ in der Russland- bzw. Ostpolitik deutscher (Ex-)Politiker*innen, insbesondere der SPD, in den Fokus rückt und kritisiert. In der Vergangenheit hatten wichtige Teile des deutschen Establishments auf Kooperation mit russischen Führern gesetzt, um die Interessen des deutschen Kapitalismus zu bedienen. Gerichtet ist diese Kampagne auch an die heutige SPD-Führung und Teile der Grünen, um Kritik an der massiven Aufrüstung zu unterdrücken. Gerhard Schröder, der sich als Putinvertrauter auch nach seiner Kanzlerschaft weiter bereichert hat, oder Manuela Schwesig, deren dubiose Verstrickungen rund um das Nord Stream 2-Projekt ihr noch zum Verhängnis werden können, geben dabei eine willkommene Zielscheibe ab.

Die Herrschenden haben es allerdings nicht geschafft, eine grenzenlose Unterstützung für Waffenlieferungen oder weitere imperialistische Einmischung zu erzeugen. Das liegt nicht nur an den in der herrschenden Klasse vor sich gehenden Debatten, wie die „deutschen Interessen“ in diesem Konflikt am besten zur Geltung kommen. Umfragen zur Unterstützung der Ukraine-Politik, zu Waffenlieferungen usw. wurden mit Verlauf des Krieges polarisierter, auch weil bei Teilen der Arbeiter*innenklasse die Skepsis gegenüber der Regierung wächst. Wie in vielen Krisen, gab es zunächst eine Tendenz, dass die bestehende Regierung vorübergehend gestärkt wird. Das ging schnell vorüber. Zudem waren die Sorgen vor dem Krieg zwar in den ersten Kriegswochen dominant. Wenn diese aber auch nicht verschwunden sind, kommen andere Sorgen hinzu.

Klimakatastrophe, Pandemie, Ukraine-Krieg, Rekordinflation und eine drohende Rezession haben dazu geführt, dass sich die Zukunftsängste verallgemeinern. Nur noch jeder Fünfte ist laut einer Umfrage von Allensbach von März optimistisch gestimmt für die Zukunft, der schlechteste Wert seit 1949. Laut SPIEGEL-Umfrage aus demselben Monat befürchteten vier von fünf eine Weltwirtschaftskrise und einen wirtschaftlichen Umbruch in Deutschland. Während im Corona-Krisenjahr 2020 nie mehr als dreißig Prozent der Bevölkerung mit einer Verschlechterung der eigenen wirtschaftlichen Lage in den nächsten Jahren rechneten, sind es nun 43 Prozent. In breiten Teilen der Bevölkerung macht sich die Erkenntnis breit, dass wir in wirtschaftlichen Krisenzeiten stecken und diese nicht schnell vorübergehen.

Die Inflation trifft die breite Masse der Bevölkerung und führt bei vielen zu Einschränkungen. Wie groß und schmerzhaft diese Einschränkungen jeweils sind, hängt vor allem vom sozialen Ausgangsniveau ab. Im Durchschnitt betreffen die Einschnitte u.a. Ausgaben für Restaurantbesuche, Kleidung, Lebensmittel oder Jahresurlaube. Für Niedriglöhner*innen und Erwerbslose geht es ans Eingemachte. Laut Insa-Umfrage verzichten 16 Prozent der Bevölkerung mittlerweile auf reguläre Mahlzeiten – bei denen mit einem Haushaltsnettoeinkommen unter 1000 Euro sind es 32 Prozent. Viele Tafeln sind völlig überlastet, eine Entwicklung die bereits in der Pandemie eingesetzt hat.

Das bedeutet, dass soziale und Verteilungsfragen zunehmend in die öffentliche Debatte geraten, wenngleich die Sorgen vor eine Ausbreitung des Ukraine-Kriegs oder beispielsweise dem Klimawandel nicht verschwinden werden. Angesichts der vielen Einschränkungen ist die Wut auf Krisenprofiteure, wie die Mineralölkonzerne, groß. Krisenbewusstsein bedeutet aber noch nicht automatisch oder unmittelbar auch die Entwicklung von Klassenbewusstsein. Die Erkenntnis, in einer Krisenphase zu leben, bedeutet noch nicht zwangsläufig die Schlussfolgerung gezogen zu haben, sich als Beschäftigte gegen die Unternehmer*innen zu organisieren. Es heißt auch noch nicht, die Ursache im kapitalistischen System erkannt zu haben und die Schlussfolgerung zu ziehen, sich politisch zu organisieren. Das liegt zu einem großen Teil auch daran, dass es angesichts der Politik der meisten Gewerkschaftsführer*innen und der Krise der LINKEN an einem naheliegende Angebot fehlt.

Auch 32 Jahre nach der Wiedervereinigung hängt der Osten Deutschlands in vielerlei Hinsicht dem Westen hinterher. Existenz und Niedergang des Stalinismus mit all seinen Widersprüchen sowie die Restauration des Kapitalismus vor drei Jahrzehnten, in deren Folge große Teile der industriellen Basis zerstört und Unternehmen privatisiert wurden, sowie Massenarbeitslosigkeit herrschte, beeinflussen bis heute die ökonomische und politische Lage sowie das Bewusstsein verschiedener Klassen und Schichten. Wirtschaftsleistung pro Kopf, Produktivität, Löhne, Arbeitszeiten, Tarifbindung – in verschiedenen Bereichen liegt Ostdeutschland weiterhin schlechter als der Westen und schließt sich die Lücke nur langsam bzw. stagniert. Gleichzeitig gibt es eine Reihe ökonomischer und sozialer Veränderungen in den letzten Jahren. Dazu gehört zum Beispiel die weitere Zunahme von Investitionen und Ansiedlungen großer Konzerne (wie Tesla in Grünheide oder Intel in Magdeburg) oder das Eintreten einer Generation ohne die direkten Wendeerfahrungen in den Arbeitsmarkt oder der relativ zur Bevölkerungszahl gesehen höhere Anteil von Arbeitskämpfen als im Westen. Die politische Lage ist im Osten ebenfalls eine spezifische, was sich allein durch die im Vergleich zum Westen deutlich kritischere Haltung zur Ukraine-Politik der Bundesregierung zeigt. Diese spezifische Lage prägt das politische System und auch die etablierten bürgerlichen Parteien. In bestimmten Schichten existiert weiterhin das Gefühl von einer „westlichen Elite“ dominiert zu werden – was in engem Zusammenhang mit den „Wendeerfahrungen“ steht. Der Aufstieg der weitgehend vom Höcke-Flügel kontrollierten Ost-AfD zur stärksten Oppositionspartei in den „neuen Bundesländern“, in Sachsen zur stärksten Partei insgesamt, ist in erster Linie Ausdruck der großen Entfremdung breiter Teile der Bevölkerung vom pro-kapitalistischen Establishment. Dennoch ist er in Verbindung mit dem politisch verwirrten Bewusstsein eine große Hürde beim Wiederaufbau einer kämpferischen Arbeiter*innenbewegung. Der Niedergang der LINKEN im Osten, vorangetrieben durch ihre Integration in den bürgerlichen Politikbetrieb und Regierungsbeteiligungen, spielt dabei eine wesentliche Rolle. Die Querdenker*innen waren in Teilen des Ostens besonders stark und von rechten Kräften geprägt. Doch auch im Osten gibt es eine Polarisierung.

Jugendliche sind besonders von der multiplen Krise betroffen. Es geht letztlich um ihre Zukunft. Laut einer Studie der Vodafone-Stiftung von Ende 2021 haben 86 Prozent der Jugendlichen Zukunftssorgen. Das war noch vor dem Krieg in der Ukraine, der die Angst vor einer militärischen Eskalation zurück ins Bewusstsein junger Menschen geholt hat. Die Klimakrise, deren Auswirkungen immer direkter spürbarer werden, wirft einen großen Schatten auf die Zukunftsaussichten der Jugend. Doch auch die Auswirkungen der sich entwickelnden sozialen und ökonomischen Krise werden junge Menschen besonders zu spüren bekommen – wie bereits 2020, als viele Jugendliche und Studierende ihre oftmals prekären Jobs verloren haben. Die Arbeitsbelastung von Auszubildenden wird ebenfalls wachsen, die Probleme des Fachkräftemangels bei den gleichzeitig vielen offenen Ausbildungsplätzen auszugleichen. 40 Prozent der angebotenen Ausbildungsplätze konnten im letzten Jahr nicht besetzt werden. 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche wachsen heute schon in Armut auf. Junge Menschen wurden doppelt von der Ausweitung des Niedriglohnsektors getroffen: Einerseits sind mehr Familien in Armut gerutscht, andererseits arbeiten junge Menschen öfter in prekären und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Mehr als die Hälfte der 15- bis 24-Jährigen finanzieren sich überwiegend durch ihre Eltern und nur 38 Prozent sind von ihren Eltern finanziell unabhängig. 1991 war noch die Hälfte dieser Altersgruppe finanziell unabhängig. Die Einführung einer elternunabhängigen Grundsicherung von 700 Euro plus Warmmiete und eine drastische Erhöhung der Auszubildendenvergütungen sind nötig, um diesen Trend umzukehren. Die Pandemie hat zudem ein Schlaglicht auf die weitere Verbreitung psychischer Probleme, insbesondere unter Jugendlichen, geworfen und diesen Trend verschärft. Es gibt außerdem eine Krise der politischen Repräsentation von jungen Menschen: Eine deutliche Mehrheit ist der Meinung, dass die Politik bis 2050 weder „den Klimawandel im Griff haben“, noch es in Deutschland ein „erstklassiges Bildungssystem“ geben oder es „sozial gerechter sein“ wird. Das heißt nicht, dass die Jugend „unpolitisch“ wäre. Die Mobilisierungen von Fridays For Future oder Black Lives Matter haben in den letzten Jahren zum Beispiel gezeigt, das sehr viele junge Menschen bereit sind für Veränderungen auf die Straße zu gehen. Gleichzeitig herrscht unter großen Teilen der Jugend, insbesondere unter Jugendlichen aus proletarischen, ärmeren und migrantischen Familien, eine Entfremdung gegenüber dem politischen System. Das ist auch das Vermächtnis der Merkel-Ära. Die junge Generation hat 2021 zum ersten Mal erlebt, dass eine nicht CDU-geführte Regierung gewählt wurde. Doch die gewissen Hoffnungen auf Veränderungen, die es teilweise in die Ampel gab, sind mittlerweile verflogen. Ein Teil dieser Menschen hat bereits die Schlussfolgerung gezogen, dass der Kapitalismus in Frage zu stellen ist. Nur 40 Prozent der 16-29-Jährigen sind der Meinung, dass der Kapitalismus das bestmögliche Wirtschaftssystem für Deutschland ist.

Die Pandemie hat, wie wir analysiert haben, insbesondere für Frauen eine massive zusätzliche Belastung bedeutet. Nicht nur gab es einen gewissen Rollback bei der Verteilung reproduktiver Arbeit (Haushalt, Kindererziehung usw.). Laut Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung übernahmen Mütter in 71 Prozent der Familien den überwiegenden Teil der Betreuungszeit (vor der Pandemie waren es 62 Prozent). Dabei wäre es wichtig, insbesondere die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Die Frauenerwerbstätigkeit liegt bei circa 75 Prozent. Davon sind etwa die Hälfte in Teilzeit beschäftigt. Bei Frauen mit minderjährigen Kindern arbeiten zwei Drittel in Teilzeit. Bei Männern liegt der Anteil, wenn sie minderjährige Kinder haben, bei sechs Prozent. Es gab auch einen Anstieg von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen, was sich auch in den offiziellen Zahlen ausdrückt (wenngleich diese eine riesige Dunkelziffer beinhalten). Zwar wurde nach jahrelangen Protesten nun mit der Streichung des Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs, der „Werbung für Schwangerschaftsabbrüche“ unter Strafe stellte, eine wichtige Forderung der Frauenbewegung und Linken umgesetzt. Allerdings bleibt nicht nur der Paragraf 218, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt, weiter erhalten. Es hat zudem einen Rückgang feministischer Proteste in den letzten Jahren gegeben. Unsere Perspektive, dass sich keine einheitliche internationale Frauenbewegung entwickeln wird, hat sich bestätigt – wenngleich es immer wieder möglich ist, dass Angriffe auf Frauenrechte internationale Proteste auslösen. In der Pandemie waren es oft weiblich geprägte Beschäftigtengruppen im Gesundheits- und Pflegebereich, im Sozial- und Erziehungsdienst oder im Einzelhandel, die ihre gesellschaftliche Rolle als für die Versorgung unverzichtbare Beschäftigte erkannt haben. Für viele Jugendliche ist der Kampf gegen Sexismus und Diskriminierung ein erster Anlass, sich zu organisieren und zu politisieren. Allerdings konnten identitätspolitische Kräfte, welche die tieferen Ursachen für die Unterdrückung von Frauen und LGBTQI nicht mit der Klassengesellschaft verbinden und die Spaltung in der Arbeiter*innenklasse verstärken, ihren Einfluss in Teilen der feministischen und linken Bewegung ausbauen. Mit Ihre Methoden schwächen sie den Kampf gegen Diskriminierung: Aktivist*innen, die ihren Kurs nicht mittragen, werden aktiv bekämpft und durch kaum vermittelbare, spalterische Aktivitäten und Forderungen werden Teile der Arbeiter*innenklasse und Jugend entfremdet. In Teilen der feministischen Bewegung gibt es auch einen scharfen Konflikt über die Frage von Transrechten, welche den Rechten von Frauen gegenüber gestellt werden. Eine sensible Herangehensweise ist dabei wichtig, in der Transrechte nicht gegen das Sicherheitsbedürfnis von Frauen ausgespielt werden. Das Sicherheitsbedürfnis aller und das Selbstbestimmungsrecht von Transpersonen gleichermaßen umzusetzen, wird einen Ausbau von Schutzräumen und sanitären Einrichtungen nötig machen. Wie genau dies organisiert werden kann, sollten die Betroffenen selbst demokratisch entscheiden. Wir erklären, dass der Kapitalismus Diskriminierung nutzt, braucht und fördert. Mit zunehmenden Klassenkämpfen können kleinbürgerliche spalterische Ansätze zurück gedrängt werden und eine Klassenposition im Kampf gegen Diskriminierung und für Selbstbestimmung perspektivisch wieder Stärke erlangen. Wir können mit unserer Herangehensweise damit schon jetzt einen wichtigen Beitrag leisten.

Mit der objektiven Krise des Systems und der Notwendigkeit einer sozialistischen Veränderung auf der einen Seite wächst daher auch der Widerspruch zur Schwäche der Linken und Arbeiter*innenbewegung sowie des verwirrten politischen Bewusstseins der Klasse auf der anderen Seite. Die Krise bedeutet in erster Linie eine weitere Aushöhlung der sozialen Basis des Kapitalismus, die Voraussetzung für mehr Instabilität und soziale Explosionen.

Ampel-Regierung: Keine Stabilität in Sicht

Die Ampel-Regierung aus SPD, Grüne und FDP war mit dem Anspruch angetreten, eine „Reform- und Fortschrittskoalition“ (Annalena Baerbock) in Gang zu setzen. Doch schon der Koalitionsvertrag versprach ein „Weiter So“ der Politik für Banken und Konzerne. Wir sagten bereits im Oktober, dass „einige Mini-Verbesserungen über Gefahren und zukünftige Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse hinwegtäuschen sollen“ und „dass diese Regierung keine breite soziale Basis hat und eine schwache Regierung sein wird, die bei der erstbesten Krise selbst in Probleme geraten kann.“ Das hat sich bestätigt.

Der Krieg in der Ukraine und seine Auswirkungen hat vieles der Ampel-Planung über den Haufen geworfen. Zwar wurden ein paar Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag auf den Weg gebracht bzw. verabschiedet. Dazu gehört der 12-Euro-Mindestlohn ab Oktober 2022, die Abschaffung des Paragraf 219a und der Ausbau von erneuerbaren Energien. Doch der Fokus der Regierung lag auf Krisenbewältigung im Sinne des Kapitals – und in deren Windschatten eine qualitative Veränderung der Außen- und Rüstungspolitik.

Auch wenn es mit Kriegsausbruch kurzzeitig einen kleinen Zustimmungszuwachs gab, ist dieser bereits wieder verschwunden. Die politische Instabilität nimmt zu – nicht zuletzt angesichts der verschiedenen Debatten innerhalb der herrschenden Klasse darüber, wie die Krise zu bewältigen ist. Die Maßnahmen aus dem 40-Milliarden-Nachtragshaushalt, wie der Tankrabatt oder die Einmalzahlung an Beschäftigte, werden selbst von bürgerlichen Kommenator*innen als unzureichend bzw. fehlgeleitet kritisiert. Im Juni waren laut ARD-DeutschlandTrend 59 Prozent unzufrieden mit der Regierungspolitik. Die Unionsparteien haben sich in der Sonntagsfrage wieder vor die SPD gesetzt.

Mittlerweile gehören Streits in der Koalition zum Tagesgeschäft. Diese kreisen insbesondere um die Frage, ob und mit welchen Maßnahmen die steigenden Kosten für Teile der Bevölkerung staatlich aufgefangen werden sollen. Alle Regierungsparteien sind sich einig, dass die Kosten der Krise von der arbeitenden Bevölkerung und so wenig wie möglich von den Konzernen getragen werden sollen. Teile der SPD und der Grünen sprechen sich aber für mehr Entlastungsmaßnahmen, insbesondere für Geringverdiener*innen aus, weil sie die politischen Folgen fürchten, wenn sie darauf verzichten würden. Potenzial für weitere Streits wird es auch geben, wenn sich im Ukraine-Krieg wieder Möglichkeiten für Verhandlungen ergeben.

Die unmittelbare Reaktion der Bundesregierung auf den Krieg war die historische Entscheidung, eine qualitative Veränderung in den Ansprüchen und Möglichkeiten der deutschen Außenpolitik vorzunehmen. Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro wird für die Bundeswehr bereitgestellt und die jährlichen Ausgaben für den Rüstungsetat sollen damit zukünftig auf das NATO-Ziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung angehoben werden. Durch eine Grundgesetzänderung soll es möglich werden, in größerem Umfang neue Schulden aufzunehmen – womit bewiesen wäre, dass die Regeln der Schuldenbremse auch wieder aufgehoben werden können, sofern die herrschende Klasse dies möchte. Diese massive Aufrüstung hat das Ziel aus der Bundeswehr die – wie Finanzminister Christian Lindner sagte – „schlagkräftigste Armee Europas“ zu machen und das militärische Gewicht der Bundesrepublik ihrem ökonomischen Gewicht anzupassen.

Es wäre angesichts dieser Aufrüstung falsch von einer 180-Grad-Wende in der deutschen Außenpolitik zu sprechen – waren sich doch auch die letzten Bundesregierungen nicht zu schade, Waffen an autoritäre, kriegführende Regime wie das saudi-arabische zu liefern oder die Bundeswehr Jahr für Jahr mit mehr Geld auszustatten und in Kriege zur Wahrung „deutscher“ Interessen wie in Ex-Jugoslawien und Afghanistan zu schicken. Doch es ist damit zu rechnen, dass militärische Interventionen in Zukunft in einem größeren Maße zum Repertoire der Bundesregierung gehören und die Bundeswehr auch im Inland mehr Präsenz zeigen wird. Sollte das 2-Prozent-Ziel der NATO erfüllt werden, wäre der deutsche Militärhaushalt der drittgrößte der Welt. Diese wachsende Rolle des deutschen Imperialismus wird über einen gewissen Zeitraum auch die Differenzen in der Europäischen Union, sowie die Spannungen zwischen den Weltmächten vertiefen.

Die verschiedenen, sogenannten „Entlastungspakete“ der Bundesregierung gegen die Auswirkungen der steigenden Preise sollen einerseits einen Nachfrageeinbruch vermeiden und gleichzeitig mit möglichst wenig Zugeständnissen Massenprotesten entgegenwirken. Das letzte Paket soll mit der Zahl von 65 Milliarden Euro blenden (obwohl der Bund nur die Hälfte der Kosten tragen will). Alle von der Bundesregierung bisher beschlossenen Maßnahmen werden aber die Folgen der Preissteigerungen nicht auffangen, sondern höchstens etwas abdämpfen. Die Gasumlage ist hingegen ein heftiger Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse und Mittelschichten, weil auf ihre Kosten der Gasmarkt gestützt werden soll. Dass sich hier ursprünglich sogar Unternehmen bewerben konnten, die aktuelle Profite machen, zeigt wie unternehmerfreundlich die Ampel-Koalition ist. Dass dagegen sogar die CDU Sturm lief, zeigt wie hoch der Druck ist, sich als Anwalt der kleinen Leute in Zeiten der großen Inflation zu präsentieren. Maßnahmen, wie die Erweiterung des Wohngelds, können einen gewissen Effekt bei den Ärmsten haben. Das Angebot, einen steuerfreien Einmal-Bonus von bis zu 3000 Euro zu ermöglichen, ist zudem der Versuch die anstehenden Tarifrunden nicht eskalieren zu lassen. Das gibt den Gewerkschaftsführungen ein Instrument gegenüber den Kolleg*innen, geringere Entgelterhöhungen zu „rechtfertigen“. Es wird sich zeigen, ob diese Maßnahmen eine dämpfende Wirkung auf die kommenden Klassenkämpfe haben werden. Gänzlich verhindern werden sie Proteste allerdings nicht. Der Unmut ist zudem groß, dass durch die Steuerreform vor allem die Spitzenverdiener*innen profitieren.

Die Entscheidung, das Monatsticket im Öffentlichen Personennahverkehr für drei Monate auf neun Euro zu begrenzen, trifft auf viel Zustimmung. Nach drei Wochen wurden 16 Millionen Tickets verkauft, hinzukommen die 10 Millionen Abokunden aus dem Bestand. Die Deutsche Bahn sprach von bis zu 10 Prozent mehr Fahrgästen. Das zeigt gerade mal in Ansätzen das Potenzial für eine Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene. Doch die Einführung des 9-Euro-Tickets trifft auf eine Bahn in großer Krise. Schon ohne die zusätzlichen Passagiere ist die Bahn überlastet. Teilweise sind in diesem Jahr weniger als 60 Prozent aller Fernzüge pünktlich – Negativrekord. Es herrscht ein massiver Investitionsstau. Deutschland gab 2020 nur 88 Euro pro Kopf für Investitionen in die bundesweite Schieneninfrastruktur aus – in Österreich waren es 249 Euro, in der Schweiz 440 Euro. Es ist völlig klar, dass der ÖPNV und Fernverkehr als Alternative zum lokalen Individualverkehr dauerhaft kostenlos bzw. massiv vergünstigt und ausgebaut werden muss. Allerdings leiden die Beschäftigten unter der hohen Belastung, die durch das 9-Euro-Ticket noch gestiegen ist. Beide Bahn-Gewerkschaften, EVG und GDL, haben sich gegen eine Fortführung des Tickets unter den aktuellen Bedingungen ausgesprochen. Eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets ist gleichzeitig aus gesamtgesellschaftlicher Sicht sinnvoll und nötig. Sie muss deshalb mit einer unmittelbaren Personal- und Investitionsoffensive einhergehen, auch wenn diese nicht über Nacht wirken und die Belastung verringern könnte. In der Zwischenzeit sollte es Belastungszuschläge für die Beschäftigten geben. Eine demokratische Kontrolle von Beschäftigten, Gewerkschaften und Nutzer*innen über den Bahnbetrieb und die Personalplanung könnte in dieser Übergangszeit einen Ausgleich zwischen Personalbelastung und Betriebsangebot schaffen.

Auch mit der neuen Ampel-Regierung setzt sich die Corona-Politik für die Konzerne fort. Mitten in der Sommerwelle schränkt der Gesundheitsminister den Zugang zu kostenlosen Schnelltests erheblich ein. Für den Herbst und Winter steht mit großer Wahrscheinlichkeit eine neue Welle bevor. Der sogenannte Expertenrat der Bundesregierung schreibt: „Die verbleibende Impflücke und die abnehmende Immunität im Laufe der Zeit, die fortschreitende Virusevolution und die Krankheitsaktivität durch andere Atemwegserreger werden das Gesundheitssystem und die kritische Infrastruktur im Herbst/Winter wahrscheinlich erneut erheblich belasten.“ Die Frage ist, wie groß die Welle ausfällt und wie gefährlich das Virus zu diesem Zeitpunkt sein wird. Ebenso ist nicht ausgeschlossen, dass andere Viren oder Krankheitserreger die Belastung in den Krankenhäusern verstärken.

Verzichtspropaganda, Schuldenbremse und drohende Angriffe

Schon jetzt sind die Maßnahmen aus dem „Entlastungspaket“ aber nur die Ergänzung zur massiven Verzichtspropaganda, die auf allen Kanälen die arbeitende Bevölkerung auf Einschnitte im Lebensstandard trimmen soll. Christian Lindner spricht von „drei bis vier, vielleicht fünf Jahren der Knappheit.“ Wirtschaftsminister Habeck ruft angesichts der Reduktion der russischen Gaslieferungen zum Energiesparen auf, die Bundesnetzagentur will die Mindesttemperatur in Wohnungen senken, die Vermieter garantieren müssen. Die bürgerlichen Ökonom*innen warnen vor der sogenannten „Lohn-Preis-Spirale“ und rufen die Gewerkschaften zur Mäßigung ihrer Forderungen auf.

Dieser Propaganda dürfen Linke und Gewerkschaften nicht auf den Leim gehen. Es sind nicht steigende Löhne, die für die Preissteigerungen verantwortlich sind. Die Ursachen für die Inflation sind vielfältig. Die seit dem Corona-Einbruch gestiegene Nachfrage – u.a. getrieben durch die staatlichen Rettungspakete – trifft auf nach wie vor existierende Probleme auf der Angebotsseite. Dieser Flaschenhals bremst die wirtschaftliche Erholung, u.a. durch Unterbrechung von Lieferketten durch zu geringe Investitionen, durch die fortgesetzte Corona-Pandemie (Lockdowns), durch Folgen des Klimawandels (z.B. Dürre in Taiwan im letzten Jahr) und seit diesem Frühjahr vor allem durch die Folgen des Krieges in der Ukraine und der westlichen Sanktionen, insbesondere die gestiegenen Energiepreise, welche sich auf andere Warenpreise auswirken. Verschärft werden die Angebotsengpässe durch Spekulation. Ein Teil der Inflationsdynamik lässt sich aus Extraprofiten von Kapitalist*innen in Quasi-Monopolstellung erklären. Die anderen Kapitalist*innen geben die gestiegenen Preise weiter, um die eigenen Profite zu schützen. Nur weil das Kapital seine Gewinne erhalten will, macht das die Arbeiter*innenklasse nicht der weiteren Inflation schuldig, wenn sie höhere Löhne fordert. Steigende Löhne über der Inflationsrate, also Reallohnerhöhungen, sind nötig, um die sinkenden Lebensstandards breiter Teile der Bevölkerung aufzuhalten. Unsere Forderungen, die wir gegen die Inflation aufgestellt haben und die den Kampf für Sofortmaßnahmen mit der Notwendigkeit von Gemeineigentum und einer sozialistischen Veränderung verbinden, bleiben aktuell.

Sei es die Aufrüstung, die Mogelpackung „Entlastungspaket“, die Wirtschaftshilfen für die Konzerne oder die Investitionen in die Energiewende: Sie alle werden aktuell durch neue Staatsschulden finanziert. Viele pro-kapitalistische Kommentator*innen sorgen sich davor, dass der Staat zu generös „mit der Gießkanne“ Geld verteilt, was er selbst nicht hat. Sie sorgen sich vor der Zukunft, denn die Verschuldung schiebt die entscheidende Frage vor sich her: Wer bezahlt die Rechnung? Finanzminister Lindner konnte sich beim Haushaltsentwurf für 2023 durchsetzen und die Schuldenbremse wieder zur Geltung bringen. Ob dies jedoch tatsächlich Bestand halten wird ist angesichts der vielen zweifelnden Stimmen aus SPD und Grünen nicht sicher.

Der Bundeshaushalt für 2022 hat ein Volumen von 496 Milliarden Euro und sieht eine Neuverschuldung von 140 Milliarden Euro vor. Hinzukommen die 100 Milliarden für die Bundeswehr. Das sind insgesamt 25 Milliarden Euro mehr Schulden als im letzten Jahr – zudem wurden nicht genutzte Kreditermächtigungen aus älteren Sonderfonds umgewidmet für die Finanzierung der Energiewende. Die deutsche Staatsverschuldung ist in der Pandemie zwar enorm gestiegen – von 55,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukt in 2015 auf fast 70 Prozent 2021. Allerdings liegt dieser Wert noch unter dem Hoch nach der letzten Krise und deutlich unter dem Durchschnitt der EU und Eurozone. Deutschland hat als imperialistische Großmacht deutlich mehr Spielraum als andere Länder.

Der von der Ampel im Juli beschlossene Haushaltsentwurf für 2023 sieht Ausgabenkürzungen im Umfang von 50 Milliarden Euro vor. Weitere Kürzungen sind für die Jahre 2024 und 2025 im Finanzplan vorgesehen. Die Schuldenbremse soll laut diesem Entwurf eingehalten und damit die Neuverschuldung massiv gekürzt werden – auf 17,2 Milliarden Euro.

Das Kapital hat gleichzeitig ein Interesse an Investitionen, die seine Profitbedingungen und Ausgangslage im internationalen Konkurrenzkampf verbessern – u.a. in Militär, in den Ausbau erneuerbarer Energien, Subventionen für die Industrie usw. Es sind auch neue „Entlastungspakete“ möglich, mit dem Ziel den sozialen Frieden und die eigene politische Legitimation etwas zu stützen. Bei einer Rezession könnten wieder Rettungspakete für die Profite der Wirtschaft nötig werden. Vor dem Hintergrund ist das letzte Wort über die Einhaltung der Schuldenbremse trotz des beschlossenen Entwurfs noch nicht gesprochen und ist es absolut möglich, dass die Schuldenbremse doch noch einmal ausgesetzt oder umgangen wird.

Doch vor allem die FDP, die den radikal-neoliberalen Flügel des Kapitals vertritt, wird sich für eine Reduzierung der Neuverschuldung einsetzen. Unabhängig vom Schicksal der Schuldenbremse drohen Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse. Es spricht viel dafür, dass diese im nächsten Jahr beginnen, damit sie nicht zu nah an die nächste Bundestagswahl geraten. Schon jetzt gibt es Diskussionen über die Rente (die Zuschüsse machen immerhin ein Fünftel des Staatshaushalts und ein Drittel der Rentenzahlungen aus) oder eine Ausweitung der Wochenarbeitszeit. Die Zusatzbeiträge der Gesetzlichen Krankenversicherung sollen um 0,3 Prozentpunkte steigen. Eine doppelte Strategie des Kapitals scheint wahrscheinlich: Einerseits eine Form des Krisenkeynesianismus mit staatlichen Investitionen und möglicherweise weitreichenden Maßnahmen, inklusive Eingriffen in Rechte des Privateigentums, wo es den Interessen des deutschen Kapitalismus entspricht – wie aktuell die staatliche Kontrolle über die Gazprom-Tochter Germania und die staatliche Beteiligung bei Uniper. Gleichzeitig andererseits neoliberale Maßnahmen, Kürzungen und Sozialabbau sowie weitere Privatisierungen.

Veränderungen im politischen System

Ob diese Pläne umgesetzt werden können, ist eine andere Frage und hängt nicht zuletzt von der ökonomischen Entwicklung und vom Klassenkampf ab. Klar ist, dass diese Regierung keine stabile soziale Basis hat. Ob sie ihre volle Amtszeit durchhält, ist völlig unklar. In jedem Fall sind Rücktritte einzelner Minister*innen und Kabinettsumbildungen möglich. Auch ein vorzeitiges Ende der Regierung kann nicht ausgeschlossen werden, sollten Konflikte wie um die Schuldenbremse eskalieren.

Die Bundestagswahlen haben oberflächlich betrachtet eine Stärkung des Lagers der etablierten, bürgerlichen Parteien mit sich gebracht – sowohl AfD als auch LINKE haben hingegen Stimmen verloren. Dafür gab es Verschiebungen: Die CDU verlor fast vier Millionen Stimmen im Vergleich zu 2017. Die SPD erreichte trotz Zugewinnen nur das drittschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Dagegen konnten Grüne und FDP zulegen. Das Wahlergebnis steht aber nicht im Widerspruch zur sich seit Jahren fortsetzenden Legitimationskrise des politischen Systems – nur drückte sich die Unzufriedenheit mit der großen Koalition anders aus als in der Vergangenheit. Weder auf der Linken noch auf der (von der CSU aus gesehen) Rechten gab es ein die Enttäuschten ansprechendes Angebot. Die „Partei der Nicht-Wähler*innen“ war trotzdem wieder stärkste Kraft und die sogenannten „sonstigen Parteien“ konnten um drei Prozentpunkte zulegen.

Die Landtagswahlen in diesem Jahr haben diesen Trend grundsätzlich bestätigt. In Nordrhein-Westfalen, im Saarland und in Schleswig-Holstein – überall ist die Wahlbeteiligung gesunken. In Nordrhein-Westfalen haben lediglich 55 Prozent der Wahlberechtigten abgestimmt, 1,275 Millionen Wähler weniger Wähler als 2017.

Besonders die Wahlen in Nordrhein-Westfalen, dem größten Bundesland, stehen sinnbildlich für die sich weiter entwickelnde politische Krise. Alle großen Parteien – mit Ausnahme der Grünen – haben verloren. Der historische Niedergang der SPD setzt sich fort. Während die Partei 1990 noch 50 Prozent der Stimmen gewann (bei einer Wahlbeteiligung von fast 73 Prozent), bekam sie im Mai 2022 noch 27 Prozent, 740.000 Stimmen weniger als 2017. Selbst die Union, die als Wahlsiegern gefeiert wurde, konnte lediglich ihr prozentuales Ergebnis wegen der niedrigen Wahlbeteiligung steigern. Absolut verlor sie 240.000 Stimmen.

Bereits der Wahlkampf zu den Bundestagswahlen 2021 hat die Volatilität des Parteiensystems gezeigt. Viele hatten die SPD und Olaf Scholz abgeschrieben, letztlich wurde die SPD doch stärkste Kraft – u.a. weil sie wie so oft in Wahlkämpfen links blinkte und soziale Themen aufgriff. Ihr Erfolg bei der Saarland-Wahl, der ihr eine Alleinregierung ermöglicht, baute zum Teil auch darauf – vor allem aber lag es an der Unzufriedenheit mit der CDU, der niedrigen Wahlbeteiligung und der 5-Prozent-Hürde, die dazu führte, dass 22 Prozent der Stimmen nicht im Landtag vertreten sind. In Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein hat sie massiv verloren. Die wachsende Unzufriedenheit mit der Ampel-Regierung im Bund ist in großem Maße ein wachsendes Problem für die SPD. In Umfragen liegt sie mittlerweile deutlich hinter den Unionsparteien. Die gewissen Hoffnungen auf eine SPD-geführte Regierung haben sich schnell wieder abgekühlt. Der Kurswechsel des Gesundheitsministers Lauterbach vom Ober-Corona-Warner zu demjenigen, der zu einem Zeitpunkt sogar die Isolationspflicht abschaffen wollte, steht ebenfalls für diese Entwicklung. Insbesondere wachsende soziale Probleme durch die Krisenentwicklung werden die Unzufriedenheit mit der Kanzlerpartei stärken. Das wird auch die Unruhe in den Reihen der SPD wieder verstärken.

Die CDU und ihr neuer Chef Friedrich Merz scheinen durch diese Entwicklung gestärkt zu sein, sie sind in den bundesweiten Umfragen aktuell und wurden in Nordrhein-Westfalen wieder die stärkste Kraft. Das kann aber weder über ihre Niederlage bei den Bundestagswahlen und den Verlust der Kanzlerschaft nach 16 Jahren, noch über die absoluten Verluste bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland in diesem Jahr hinwegtäuschen. Die Probleme beider früher sogenannten „Volksparteien“, die früher über 90 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten, liegen in der Aushöhlung der sozialen Basis des Kapitalismus begründet. Zudem bestehen in der Union weiterhin unterschiedliche Ansätze nebeneinander, wie mit der Krise im Interesse der Herrschenden umgegangen werden soll. Ein Teil setzt auf eine härtere Gangart im Klassenkampf von oben, im Zweifel auf Kosten der Sozialpartnerschaft mit der Gewerkschaftsbürokratie. Ein anderer Teil setzt weiter wie in den vergangenen Jahren auf deren Einbindung und fürchtet besonders (und zurecht) die sozialen und politischen Explosionen, die eine solche Politik bedeuten würde. Friedrich Merz, neoliberaler Ex-Banker und tendenziell Vertreter der Erstgenanntem, versucht noch den Spagat, beide Ansätze unterzubringen. Er hat mit Mario Czaja einen Vertreter des „Sozialflügels“ zum Generalsekretär gemacht, der in Berlin-Marzahn/Hellersdorf überraschend das Direktmandat gewonnen hatte. Merz versucht damit auch, sein eigenes Image als kaltherziger Neoliberaler abzuschwächen. Die CDU bereitet sich auf eine Krise der Ampel vor, um in diesem Fall als Ersatzmannschaft der herrschenden Klasse einzuschreiten. Früher oder später bereiten Differenzen zwischen den verschiedenen Flügeln aber den Boden, auf dem die Krise der Union – u.a. auch mit der Schwesterpartei CSU – wieder offener aufbrechen kann.

Die andere Verliererin des Ampel-Bündnis ist bisher die FDP. Konnte sie sich zur Bundestagswahl noch über die großen Stimmenanteile unter insbesondere jungen Menschen und darüber freuen, dass sie große Teile ihres Programms in den Koalitionsvertrag einfließen lassen konnte. Seitdem hat sie ihre Regierungsbeteiligung in Nordrhein-Westfalen verloren, wo sie vor allem für ihre Bildungspolitik abgestraft wurde, und liegt in bundesweiten Umfragen wieder unter zehn Prozent. Im Bund stößt die neoliberale Partei ihrer Klientel mit den Rekordschulden auf, die der Vorsitzende Christian Lindner angesichts von Krise und Aufrüstung verkünden muss. Diese Verluste dürften für die „kleine Partei des großen Koalition“ der wesentliche Grund sein, die Einhaltung der Schuldenbremse ab nächstem Jahr immer wieder einzufordern. Es ist im Bereich des möglichen, dass die FDP ihre „parteipolitischen“ Interessen zu einem bestimmten Zeitpunkt über den Erhalt der Ampel-Regierung stellt. Nicht ausgeschlossen ist auch, das Teile des Bürgertums zu einem bestimmten Zeitpunkt auf einen Wechsel drängen, wenn sich die Möglichkeit eines Jamaika-Bündnis ergibt und sie sich davon eine schnellere Durchsetzung größerer Angriffe erhoffen. Christian Lindner prägte 2017 bereits den Ausspruch „Lieber nicht regieren, als falsch regieren“, als er das Aus der Jamaika-Verhandlungen (zum Leidwesen großer Teile des Kapitals) verkündete. Gleichzeitig ist das nicht ausgemacht und sind Kompromisse und Tricks möglich. So versprach Lindner vor dem Bund der deutschen Industrie im Sommer: „Wir werden die Schuldenbremse erreichen, ohne bei den Investitionen zu sparen und ohne Steuererhöhungen.“ Sonderhaushalte oder -vermögen, wie aktuell für die Bundeswehr, wären dafür eine Möglichkeit.

Die einzige Partei, die seit der Bundestagswahl zulegen konnte, sind die Grünen. In der Regierung präsentieren sich insbesondere Robert Habeck und Annalena Baerbock – die Wirtschafts- bzw. Außenministerin – als verlässliche Repräsentant*innen der herrschenden Klasse. Beide stehen auch wie keine anderen Minister*innen für den neuen Aufrüstungskurs und einen offensiven Kurs gegenüber Russland und China. Sie profitieren daher auch von der medialen Begleitpropaganda, die diesen Kurs in der Bevölkerung festigen soll. Die Grünen sind angesichts der Schwäche von CDU/CSU und SPD zu einer zentralen Partei des Bürgertums geworden und ein unverzichtbarer Bestandteil des Parteienarsenals der Herrschenden. Sie stützen sich insbesondere auf urbane, kleinbürgerliche, ökonomisch gut gestellte Schichten. Sie profitieren außerdem weiterhin – insbesondere unter einem Teil von Jugendlichen – davon, dass sie als die „Klimapartei“ gelten. Ihre reale Politik wird diesem Anspruch selbstverständlich nicht gerecht. Die Grünen können auch stolpern, wie es der Bundestagswahlkampf gezeigt hat. Ihre aktuelle Stärke und ihre inhaltliche Offenheit zu anderen Parteien der Bourgeoisie macht sie aber zu einer wichtigen Stütze des Kapitalismus. Das gilt auch für eine zukünftige Regierungskrise und/oder einen möglichen Regierungswechsel. In sechs Landesregierungen koalieren die Grünen bereits mit der CDU.

Gefahr von rechts

Der Krieg in der Ukraine hat bereits zu einer großen Migrationsbewegung geführt. Hunderttausende Menschen sind nach Deutschland gekommen. Wie bereits 2015 war die erste Reaktion geprägt von großer Solidarität der arbeitenden Bevölkerung durch Sach- und Geldspenden. Viele Tausende nahmen Geflüchtete in ihre Wohnungen auf. Erneut war es die Hilfsbereitschaft von Freiwilligen an Bahnhöfen und Ankunftszentren, ohne die die staatlichen Behörden mit der Situation völlig überfordert gewesen wären. Dennoch haben im Gegensatz zu 2015 Staat und Behörden in einem ganz anderen Ausmaß unmittelbar Unterstützung für ankommende Ukraine-Geflüchtete organisiert und Mittel bereit gestellt. Geflüchtete mit ukrainischem Pass mussten sich nicht unmittelbar registrieren und können sich in der EU frei bewegen. Das steht in schreiendem Widerspruch zum Umgang mit Geflüchteten ohne ukrainischen Pass oder aus Afghanistan, Syrien oder vom afrikanischen Kontinent, die an der EU-Außengrenze weiterhin von der Grenzschutzagentur Frontex zurückgewiesen werden und weitaus schwierigere Bedingungen vorfinden, wenn sie es nach Deutschland schaffen. Es gab viele Berichte von rassistischem Aussortieren Geflüchteter aus der Ukraine von Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe. Aus anderen Ländern stammende Geflüchtete mussten in Deutschland teilweise ihre Unterkunft für ukrainische Geflüchtete räumen. Die rassistische Ungleichbehandlung ist vielen Menschen nicht entgangen. Auch wenn einige Geflüchtete sicher hoffen, bald wieder in ihre Heimat zurückzukehren, ist nicht klar wie lange der Krieg anhält. Viele suchen nach Wohnungen, Schul- und Kitaplätzen und Jobs, während genau diese in vielen Städten wie Berlin schon vorher knappes Gut waren. Da nicht die nötigen Investitionen in bezahlbaren Wohnraum, Kita- und Schulplätze sowie ausreichend Personal im öffentlichen Dienst getätigt wird, müssen wir damit rechnen, dass in einigen Orten Spaltungen und Rassismus wieder zunehmen. Das gilt auch für weitere Migrationsbewegungen – laut UN gab es erstmals in diesem Jahr über 100 Millionen Menschen auf der Flucht weltweit.

Die gesamte ökonomische und soziale Entwicklung deutet darauf hin, dass die politische Polarisierung in Deutschland weiter zunehmen und möglicherweise auch auf der Wahlebene wieder sichtbarer als in der Vergangenheit wird. Die Gefahr von rechts durch die AfD ist keineswegs gebannt (und Politiker*innen anderer pro-kapitalistischer Parteien können ebenso wieder auf einen offener rassistischen Kurs umschwenken, wenn sie sich davon Unterstützung versprechen). Die AfD steckt dennoch auch nach ihrem Parteitag im Sommer vorerst in einer Krise. Nach dem Austritt von Ex-Co-Chef Meuthen ist der „gemäßigte“ Flügel der Partei, der die AfD unmittelbar für Regierungsbeteiligungen mit anderen pro-kapitalistischen Parteien fit machen will, weiter geschwächt. Auf dem Riesaer Parteitag wurde dagegen deutlich, wer im Hintergrund der AfD die Fäden in der Hand hält. Björn Höcke hat im Bundesvorstand eine Mehrheit seiner Unterstützer*innen untergebracht und prägte mit vielen Anträgen die Debatte. Die beiden neuen Vorsitzenden Chrupalla und Weidel, die mit 54 bzw. 67 Prozent gewählt wurden, sind Vorsitzende nach seinen Gnaden und auf Zeit – das zeigte auch das chaotische Ende des Parteitags, welchem ein Kräftemessen zwischen Höcke und den neuen Vorsitzenden um die Haltung zur EU und zu Russland vorausging. Höcke hat deutlich gemacht, dass er die Partei in naher Zukunft völlig übernehmen will. Es ist möglich, dass diese Perspektive noch zu einer Spaltung oder einer Austrittswelle im noch eher “moderat“ geprägten Westen führt. Höckes völkisch-rassistischer Flügel ist hingegen besonders in den Ost-Landesverbänden stark, wo die AfD die stärksten Stimmenergebnisse erzielen kann. Der Flügel besteht nicht nur aus Menschen, deren große Mehrheit man wie Höcke getrost Nazis nennen kann, sondern unterhält auch enge Verbindungen zur rechtsextremen und faschistischen Szene. Eine weitere Radikalisierung der AfD nach rechts wäre eine große Gefahr für die Arbeiter*innenbewegung, Linke und Minderheiten – selbst wenn dies vorübergehend zu ihrer Schwächung bundesweit führen würde und nicht heißen müsste, dass die Partei als solche unmittelbar zu mehr faschistisch-terroristischen Methoden greift. Die Partei verlor zwar bei der Bundestagswahl Stimmen, aber hat eine mittlerweile gefestigte Wählerschaft und auch eine Höcke-geführte AfD würde vermutlich über der 5-Prozent-Hürde bundesweit liegen. 2024 finden außerdem die nächsten Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen statt. Bis dahin kann einiges passieren – soziale Krisen, Migrationsbewegungen oder politische Erschütterungen bspw. in der EU können der AfD Aufschwung geben, wenn es keine starke linke Alternative geben. Die AfD und andere rechte Kräfte werden versuchen, das Thema Preissteigerungen von rechts zu besetzen. Hierbei werden sie auch das Klientel des Mittelstandes besonders adressieren, also kleine Gewerbetreibende und Selbständige sowie kleine Landwirte, die durch die Inflation und explodierende Energiepreise ebenso in existenzielle Not geraten können. Dabei stellen sie Forderungen nach Steuererleichterungen in den Vordergrund. Gleichzeitig ist es entscheidend zu betonen, dass die Partei im Rahmen des kapitalistischen Systems verankert ist und keine Antworten auf die multiple Krise für die Arbeiter*innenklasse und Mittelschichten hat. Eine Rechtsentwicklung und Stärkung der AfD kann auch erneut zu Gegenbewegungen auf der Linken führen.

Im Windschatten der AfD bleiben rechtsextreme Gruppen eine Gefahr. Während die NPD ihren Niedergang der letzten Jahre fortsetzte und auch die Kleinpartei Die Rechte an Mitgliedern verlor, konnte sich zum Beispiel der III. Weg weiter aufbauen. Nicht zu unterschätzende Teile des staatlichen Repressionsapparats – Polizei, Bundeswehr, Justizwesen – sind durchsetzt mit rechten bis rechtsextremen Netzwerken. Immer wieder gibt es Razzien und große Waffenfunde bei Neonazi- und Reichsbürger-Gruppen. Immer wieder gibt es rechte Anschläge, wie in Hanau oder in Berlin-Neukölln. Eine sich nach rechts entwickelnde AfD wird den Aufbau rechtsextremer und faschistischer Gruppen erleichtern – nicht zuletzt finanziell. Den etablierten Parteien geht diese Entwicklung teilweise selbst zu weit (auch wenn sie eine gewisse Aktivität von Neonazi-Kräften immer geduldet haben), sie haben aber kein Interesse an einer unabhängigen und demokratischen Aufarbeitung und Untersuchung rechter Umtriebe im Staatsapparat.

Nicht verschwunden sind außerdem die Querdenker*innen, auch wenn ihre Demonstrationen angesichts der Pandemieentwicklung weniger geworden sind. Dennoch hat sich diese Szene über die Pandemie radikalisiert: Es gab Mordaufrufe, Farbanschläge und Bedrohungen von politischen Gegner*innen. Die Pandemie hat offengelegt, dass es in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine besonders ausgeprägte Verbreitung kruder esoterischer und anthroposophischer Ideen gibt. Die sogenannten „Corona-Demos“ wurden zudem von rechten und rechtsextremen Gruppen unterstützt und teilweise organisiert, in der Hoffnung dieser sich darüber aufzubauen. Insbesondere in Ostdeutschland, aber auch nicht nur dort, gibt es zudem Regionen und große Teile der Bevölkerung, in denen es ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen und politischen Parteien gibt. Das Ungeimpften-Bashing der Regierenden hat den Querdenker*innen daher noch mehr Auftrieb gegeben. Wie wir erklärten, war es ein Fehler der meisten Gegenproteste, dass sie dies mitgemacht haben – statt sich mit einer linken Kritik an der Corona-Politik der Regierung von dieser zu distanzieren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es wieder zu Protesten der Querdenker*innen kommt, wenn die Regierung aufgrund des Pandemieverlaufs sich erneut dazu entschließt, Einschränkungen im gesellschaftlichen Leben vorzunehmen. Allerdings ist es unwahrscheinlich und haben bereits die letzten Monate gezeigt, dass sich aufgrund des Charakters und der Zusammensetzung der Querdenker*innen daraus eine nachhaltige Bewegung entwickelt. Möglich ist, dass Teile der Querdenker*innen sich weiter in Richtung rechter Ideen und Reichsbürger-Gruppen entwickeln. Möglich ist aber auch, dass wir Teile der Querdenker*innen auf zukünftigen sozialen Protesten wiedertreffen.

Rechtsextreme Gruppierungen, rechtsoffene Verschwörungstheorien und Nationalismus sind Teil der politischen Reaktionen auf die sich entwickelnde kapitalistische Krise. Vor diesem Hintergrund ist es die Aufgabe vor allem auch der Gewerkschaften, jeglicher Spaltung entgegenzutreten, indem sie erklären, dass zum Beispiel genug Geld für die Aufnahme von Geflüchteten und die Verbesserung der Lebensbedingungen der gesamten Arbeiter*innenklasse vorhanden ist, dass Migrant*innen nicht zu Sündenböcken gemacht werden dürfen sondern es den gemeinsamen Kampf der Arbeiter*innenklasse unabhängig von Herkunft und Aussehen für gemeinsame soziale Interessen braucht. Entscheidend ist, dass sich Gewerkschaften und Linke vom pro-kapitalistischen Establishment klar abgrenzen und eine unabhängige politische Position einnehmen. Das ist in Verbindung mit einem kämpferischen Programm die Voraussetzung, um Teile der Arbeiter*innenklasse und Mittelschichten zurückzugewinnen, die in rechten oder verschwörungstheoretischen Ideen Antworten auf die Krise suchen.

Soziale Bewegungen

Bereits in den vergangenen Jahren haben wir analysiert, dass wir es nicht mit einem gesellschaftlichen Rechtsruck sondern mit einer Polarisierung zu tun haben. Ausdruck davon war nicht nur zum Beispiel der Aufstieg der AfD sondern auch große Demonstrationen mit hunderttausenden Teilnehmer*innen gegen TTIP oder unter dem #unteilbar-Banner. Die Krisen und Widersprüche des Kapitalismus führen zu Widerstand und Bewegungen. Die schon jetzt großen Auswirkungen der Inflation, wie auch die sich entwickelnde ökonomische Krise werden aber der Nährboden für wachsende Wut und Proteste einer Qualität sein, wie wir sie in den letzten Jahren nicht erlebt haben.

Die Inflation bedroht den Lebensstandard breiter Teile der Bevölkerung, insbesondere die Ärmsten werden in existenzielle Krisen geworfen. Das kann ein Ausmaß an Verzweiflung und Wut in diesen Schichten hervorrufen, welches wir lange nicht gesehen haben. Gleichzeitig sehen wir, dass die bisherige Politik der Gewerkschaftsführung in den überwiegenden Fällen nicht darauf abzielt, die arbeitende Bevölkerung zu mobilisieren, um Verbesserungen zu erkämpfen. Die Krise der LINKEN führt dazu, dass die Partei nicht als Werkzeug gesehen wird, um Kämpfe zu führen. Zudem bieten auch bestehende soziale Bewegungen bisher keine Perspektive für verallgemeinerte Kämpfe. Das kann bedeuten, dass sich soziale Protestbewegungen explosiv und an bestehenden Strukturen vorbei entwickeln. Die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich war ein Beispiel, wie sich solche Explosionen entwickeln können. Das bedeutet auch, dass diese ein hohes Maß an politischer Verwirrung in sich tragen können.

Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung der großen Immobilienkonzerne im letzten Jahr war ein wichtiger ideologischer Sieg, der internationale Beachtung bekam. Über eine Million Berliner*innen stimmten für die Enteignung – in 14 der 16 Bezirke überwogen die „Ja“-Stimmen. Damit erhielt der Volksentscheid mehr Stimmen als alle nun regierenden Parteien zusammen. Selbst wenn ein solcher Erfolg heute noch nicht einfach in anderen Städten zu wiederholen wäre, drückt er das Potenzial dafür aus, wie auch radikale, sozialistische Forderungen die Arbeiter*innenklasse und sozial Benachteiligten vereinen können. Die Umsetzung des Volksentscheides lässt wie zu erwarten seitdem aber auf sich warten. Die LINKE, die sich als einzige Partei hinter die Enteignungsforderung gestellt hat, setzte die Regierung mit SPD und Grünen fort, die versucht, eine Umsetzung auf die lange Bank zu schieben. Eine Expert*innenkommission soll erörtern, ob und wie eine Enteignung umsetzbar wäre. Die regierende SPD-Bürgermeisterin Franziska Giffey ist bekennende Gegnerin der Enteignung. Im Sommer stimmte allerdings ihre eigene Partei dafür, bei einer positiven Entscheidung der Expertenkommission eine schnelle Gesetzesvorlage zu erarbeiten. Ein Bruch der Koalition an dieser Frage ist möglich.

Die Berliner Mieter*innenbewegung ist trotz des Volksentscheid-Erfolges allerdings schwächer als noch vor ein paar Jahren. Die Kampagne des Volksentscheids wird mittlerweile von kleinbürgerlichen und identitätspolitischen Kräften um die Interventionistische Linke dominiert, welche viele ältere Aktive in den letzten Monaten zum Rückzug bewogen hat. Bundesweit ist die Mieter*innenbewegung ebenfalls geschwächt. Gleichzeitig bleibt das Wohnen eine wichtige soziale Frage, welche auch unter dem Einfluss der Inflation und der steigenden Energiepreise steht. Explodierende Nebenkostenabrechnungen, Gassperren bis hin zu Zwangsräumungen können zu Widerstand und notwendigerweise Selbstorganisation führen.

Auch die Klimabewegung steckt in einer Krise. Das (mehr oder weniger) verdeckte Ziel großer Teile der Fridays-For-Future Führung, ein hohes Stimmenergebnis der Grünen und eine entsprechende Regierungsbeteiligung mit auf den Weg zu bringen, ist zwar erfüllt. Nur ist die Ampel-Regierung nicht gewillt und in der Lage eine Politik zu machen, die das dringend nötige im Kampf gegen den Klimawandel angeht. Ihre im Koalitionsvertrag festgehaltenen Vorhaben verfehlen die Pariser Klimaziele. Mit der potenziellen Gas-Krise diskutiert sie sogar über eine Rückkehr zur Atomkraft bzw. eine Aufhebung des Fracking-Verbots und will wieder mehr Kohle verfeuern. Es ist klar, dass Demonstrationen allein nicht ausreichen, um etwas zu verändern. Ein größer werdender Teil der Klimabewegung hat den Schluss gezogen, dass es radikalere Aktionsformen bis hin zu Sabotage-Aktionen braucht. Dabei stellt sich die grundsätzliche Frage, wie die Gesellschaft verändert werden kann und welche soziale Kraft mit welchen Mitteln dazu in der Lage ist. Es ist entscheidend sowohl die Beschäftigten der entsprechenden Industrien als auch die arbeitende Bevölkerung im breiteren Sinne anzusprechen und ein Programm zu entwickeln, welches ihre Interessen mit denen des Klimaschutzes übereinbringt. Als ver.di und Fridays for Future 2020 eine Allianz für bessere Arbeitsbedingungen im ÖPNV und für Klimaschutz gründeten und es in der Tarifrunde im Nahverkehr zu gegenseitigen Solidaritätsbesuchen kam, war das ein Schritt in die richtige Richtung. In München haben linkere Teile der Klimabewegung gemeinsam mit betroffenen Kolleg*innen gegen die Schließung eines Bosch-Werks protestiert – und für die Umstellung auf eine klimafreundliche Produktion. Leider sind solche Beispiele seltene Ausnahmen und widersprechen dem allgemeinen Trend. Aktionen wie die Autobahnblockaden der Gruppe „Letzte Generation“ führen zu Skepsis und Ablehnung bei Teilen der Arbeiter*innenklasse. In der nächsten Periode kann es zu starken Anti-Krisen-Protesten kommen, bei denen soziale Forderungen vordergründig in Gegensatz zu klimapolitischen Forderungen stehen. Teile der Klimabewegung könnten hier ihre Fehler weiter verstärken, indem sie die berechtigten Sorgen der Arbeiter*innenklasse nicht aufgreifen, sondern sich sogar gegen sie stellen. Auch die fortschrittlicheren antikapitalistischen Kräfte innerhalb der Umweltbewegungen schaffen es oft nicht im ausreichenden Maß, die soziale Frage mit der Klimafrage zu verbinden und eine Brücke zu den Interessen von Arbeiter*innen herzustellen. Proteste und Kämpfe der Klimabewegung sollten zudem Formen wählen, welche diesem Ziel, die arbeitende Bevölkerung zu gewinnen und zu mobilisieren, nicht zuwiderlaufen sondern so ein Programm transportieren können und den Schulterschluss mit der Arbeiter*innenklasse und Gewerkschaften suchen. Blockaden können eine sinnvolle Protestform sein, allerdings nur, wenn man sich dabei nicht in Widerspruch zur Arbeiter*innenklasse begibt. Die Aufgabe von Marxist*innen ist es, mit einem klar sozialistischen Programm Klassenstandpunkte (auch) in der Klimabewegung zu vertreten und zu verteidigen. Zentral ist dabei programmatisch die Frage von Gemeineigentum und demokratischer Planung.

DIE LINKE und die Frage einer neuen Arbeiter*innenpartei

DIE LINKE steckt in der tiefsten Krise ihrer 15-jährigen Geschichte. Sie hinkt den Anforderungen, die der krisengeschüttelte Kapitalismus an eine sozialistische Partei stellt, meilenweit hinterher. Ihre Zukunft ist ungewiss. Schon bei den letzten Bundestagswahlen ist sie nur durch die Erringung von drei Direktmandaten in Fraktionsstärke ins Parlament eingezogen, aber war unter der Fünf-Prozent-Hürde geblieben. Im Westen ist sie nur noch in Hessen und den Stadtstaaten Bremen und Hamburg im Landesparlament vertreten. Bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen schnitt sie schlechter ab als die WASG im Jahr 2005 bei ihrem ersten Wahlantritt. Es treten mehr Mitglieder aus der Partei aus, als in sie eintreten. Und eine Abspaltung von Sahra Wagenknecht und ihren Unterstützer*innen erscheint immer wahrscheinlicher. Damit stellt sich die Frage nach der Entwicklung einer politischen Interessenvertretung für die Lohnabhängigen, einer neuen Arbeiter*innenpartei, neu.

Zwei Parteien in einer?

In der Linkspartei herrscht die große Unübersichtlichkeit. Die Trennlinien verlaufen nicht (mehr) eindeutig nach politischen Vorstellungen und Programmen. Das war früher einmal so, als man grob von einem gänzlich auf Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen orientierenden rechten Flügel und einem linken Flügel bestehend aus Revolutionär*innen und Reformist*innen, welche in weiten Teilen das Mitregieren zwar nicht ausschloss, aber einen antikapitalistischen Anspruch und Bewegungsorientierung vertrat, sprechen konnte.

Damals verwendeten wir die Formulierung, DIE LINKE sei „zwei Parteien in einer“ und das war, wenn auch vereinfachend, eine korrekte Kategorisierung. Die eine Partei verkörperte das, was wir den „Ansatz zu einer neuen Arbeiter*innenpartei“ nannten, die andere war die Fortsetzung der alten PDS – brav, angepasst, staatstragend, in Regierungen prokapitalistische, ja sogar neoliberale Politik exekutierend. Diese „zwei Parteien in einer“ bestanden nicht einfach aus den alten WASG- und den alten PDS-Mitgliedern. Schließlich waren mit und nach der Fusion der beiden Parteien im Jahr 2007 viele neue Mitglieder dazu gekommen. Aber man konnte trotzdem sagen, dass DIE LINKE im Osten eine Fortsetzung der PDS war und im Westen eine Partei entstanden war, die weniger in den Institutionen des bürgerlichen Staates verankert und kämpferischer, antikapitalistischer und bewegungsorientierter war und einen Ansatzpunkt für die Entwicklung einer neuen Arbeiter*innenpartei darstellte..

Die damalige SAV, aus der die Sol hervorgegangen ist, und die rebellische Berliner WASG sprachen sich aus genau diesem Grund gegen die Fusion von WASG und PDS aus: weil diese Fusion die Politik der Regierungsbeteiligungen mit prokapitalistischen Parteien, die von der WASG in ihrer kurzen Geschichte abgelehnt worden war, zu einem konstitutiven Bestandteil der neuen Partei machte und dem Apparat der PDS (Fraktionen, Mitarbeiter*innenstäbe, Rosa-Luxemburg-Stiftung) eine sehr bestimmende Position in der neuen Partei ermöglichte. Unsere Einschätzung war, dass das die Anziehungskraft, die eine neue linke, eine Arbeiter*innenpartei entfalten könnte, begrenzt, dass es die innere Verfasstheit der Partei bürokratisch versteinert und dass die programmatisch inkompatiblen Widersprüche auf Dauer nicht versöhnbar sein würden. Unsere Warnungen bestätigen sich in der aktuellen Krise der LINKEN.

Insbesondere gibt es mittlerweile eine breite Akzeptanz von Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen, die bis tief in die Bewegungslinke hinein reicht und unter anderem dazu führte, dass Protagonist*innen der Bewegungslinken in Bremen eine entscheidende Rolle bei der ersten Regierungsbeteiligung in einem westdeutschen Bundesland spielten. Derzeit regiert die Partei in Bremen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen, wo sie sogar den Ministerpräsidenten stellt, mit – und es macht keinen qualitativen Unterschied!

Diese faktische Rechtsverschiebung fand statt während die parteiinterne Strömung „Bewegungslinke“ im Parteivorstand eine gestärkte Position erlangte. Gleichzeitig waren die Voraussetzungen der Berliner Regierungsbeteiligung seit 2016 andere als in vorherigen Koalitionen, weil diesmal starke Bewegungen (Mieter*innenbewegung, Krankenhausbewegung) mit einer ökonomischen und haushaltspolitischen Situation zusammenfiel, die der LINKEN den Spielraum gab, sich als Unterstützerin dieser Bewegungen zu präsentieren und den Mythos des „rebellischen Regierens“ zu schaffen. Das verstärkte die politische Verwirrung in der Partei zur Frage der Regierungsbeteiligungen.

Die letzten fünfzehn Jahre seit der Gründung der LINKEN zeigten immer wieder, dass eine Partei links von Sozialdemokratie und Grünen in Ost und West dringend nötig ist und für diese auch erhebliches Potenzial besteht. Allein die Tatsache, dass eine solche Partei existierte, war ein Faktor auf Seiten der Arbeiter*innenklasse im Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital. Ohne DIE LINKE hätte es zu vielen Fragen keine vernehmbare politische Opposition gegeben – ob Auslandseinsätze der Bundeswehr, Privatisierungen oder der Steuerpolitik im Interesse der Reichen. Den gesetzlichen Mindestlohn hätte es ohne die Linkspartei in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich auch nicht gegeben. Gleichzeitig bot sie die einzige Plattform für Debatten über eine sozialistische Alternative, die über die bestehenden linken Gruppen hinaus geht und größere Teile der Arbeiter*innenklasse und Jugend erreicht. Aus diesen Gründen war unsere Mitarbeit in der Partei richtig

DIE LINKE hat, teilweise, „gewirkt“ und damit auch Erwartungen geweckt – die sie bitter enttäuscht hat. 2001 hatte die PDS in Berlin 22,1 Prozent, bei der letzten Wahl im Herbst 2021 noch 14,1 Prozent. 1998 waren es in Mecklenburg-Vorpommern 24,4 Prozent, im September letzten Jahres noch 9,9 Prozent. In Brandenburg fiel DIE LINKE von 28 Prozent im Jahr 2004 auf 10,7 Prozent im Jahr 2019. Und auch in Thüringen ging der Prozentsatz von 31 Prozent bei der letzten Wahl auf 24 in der letzten Umfrage in diesem Jahr zurück. Das ist das Resultat der Regierungsbeteiligungen in diesen Ländern und wir werden nicht müde, das immer wieder zu erklären und zu betonen. Diese Enttäuschung mit der LINKEN, vor allem in Ostdeutschland, ist in den letzten Jahren ein wichtiger Faktor bei der Entstehung und Etablierung der AfD als rechtspopulistischer Partei gewesen.

Die derzeitige Krise der Partei ist auch Ausdruck davon, dass sich die multiple Krise des Kapitalismus in den letzten Jahren verschärft hat und die Lücke zwischen den Anforderungen, die sich daraus an eine sozialistische Partei ergeben und der Realität der Linkspartei, größer geworden ist. Tatsächlich hat DIE LINKE weder hinsichtlich der ökonomischen Krisenprozesse, der globalen Corona-Pandemie, des Klimawandels, der Preissteigerungskrise oder des Kriegs in der Ukraine auch nur ansatzweise Antworten gegeben, die Teile der Arbeiter*innenklasse begeistern und mobilisieren könnten. Der Charakter der Partei hat sich noch nicht grundlegend gewandelt, die Negativaspekte ihrer Rolle für die Arbeiter*innenklasse überwiegen noch nicht die Positivaspekte. Aber es ist absolut möglich, dass dies geschieht und die Partei ihren objektiven Gebrauchswert für die Arbeiter*innenklasse in naher Zukunft gänzlich verliert.

Sahra Wagenknechts Linkspopulismus

Mittlerweile herrscht in der Partei, wie gesagt, die große Unübersichtlichkeit, weil Machtbündnisse verschiedener Strömungen wichtiger als politische Prinzipien sind und weil sich um Sahra Wagenknecht herum ein neues politisches Phänomen entwickelt hat, das es 2007 in der Form noch nicht gab – einen national(istisch) ausgerichteten, sich selbst linkskonservativ nennenden, Populismus. Dieser wird von der Sozialistischen Linken (SL) unterstützt. Diese Kräfte haben mit einem Teil des rechten Parteiflügels das so genannte Hufeisenbündnis gebildet, das die Bundestagsfraktion kontrolliert.

Wir haben uns seit 2015 scharf von Sahra Wagenknecht distanziert und erklärt, dass ihre Positionen eine Bedrohung für den Fortbestand der LINKEN darstellen. Dabei haben wir nicht den Fehler gemacht, auf Kritik an anderen Kräften in der Partei zu verzichten, insbesondere auf Kritik an den Reformer*innen, die im selben Zeitraum ihre Orientierung auf Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen ausgebaut haben. Wir erklärten aber, dass die besondere Gefahr, die von Sahra Wagenknecht ausging darin begründet lag, dass sie als Parteilinke galt und ihre migrationsfeindlichen Positionen und vor allem die Rhethorik, in der sie diese vorgetragen hat, zu einer größeren politischen Verwirrung in der Linken, innerhalb und außerhalb der Partei, führen würden. Wagenknecht und ihre Unterstützer*innen haben die breitere Parteilinke damit gespalten und in eine tiefe Krise gestürzt.

Die Positionen Wagenknechts, die sie seit der so genannten Geflüchteten-Krise 2015 verstärkt vertritt und die sich unter anderem in Fragen der Migrations- und Corona-Politik deutlich von den beschlossenen Positionen der Partei unterscheiden, führten im Rest der Partei wiederum zu einer heftigen Gegenreaktion, die ebenfalls eine, wenn auch weniger institutionalisierte Zusammenarbeit von Parteilinken und glühenden Verfechter*innen von Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen verstärkte – verkörpert in den Vorsitzenden-Duos Bernd Riexinger und Katja Kipping sowie Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow. Beim Erfurter Parteitag hat diese Zusammenarbeit eine neue Qualität erreicht, indem erstmals im Vorfeld des Parteitags gemeinsame Erklärungen veröffentlicht wurden, diese Kräfte in der Kriegsdebatte gemeinsam gegen den Antrag von Parteilinken agiert haben und den neuen Parteivorstand fast gänzlich besetzen. Wissler wurde in einem Tandem mit Martin Schirdewan, der dem Reformer*innen-Lager zuzurechnen ist, zur Ko-Vorsitzenden gewählt.

Dass ausgerechnet die Unterstützer*innen von Sahra Wagenknecht in den Debatten um den Erfurter Parteitag herum eine „einladende Parteikultur“ und „konstruktive Zusammenarbeit“ einforderten, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, hat doch Sahra Wagenknecht ein ums andere Mal deutlich gemacht, dass sie Beschlusslagen und Debatten innerhalb der Partei wenig interessieren, was ein wichtiger Faktor dabei war, viele aktive Parteimitglieder gegen sie aufzubringen.

Wissler und Schirdewan wurden von Sören Pellmann und Heidi Reichineck beim Erfurter Parteitag herausgefordert, die als Kandidat*innen des Wagenknecht-Lagers galten. Beide erhielten unter vierzig Prozent der Stimmen. Im Vorfeld des Parteitags wurde die politische Auseinandersetzung durch die Veröffentlichung verschiedener Aufrufe und Erklärungen geführt. Auffällig dabei war, dass niemand die tatsächlichen Konfliktpunkte klar beim Namen nannte und die Differenzen oftmals nur angedeutet wurden.

Lifestyle-Linke, Klimafrage und Klassenpolitik

Im Aufruf „Für eine populäre Linke“, der vor dem Erfurter Parteitag von der Sozialistischen Linken und anderen veröffentlicht wurde, heißt es, die Partei dürfe sich nicht auf bestimmte Milieus verengen. Das ist der Pappkamerad, den Sahra Wagenknecht bei jeder Gelegenheit aufbaut, um in Wirklichkeit etwas anderes zu propagieren: den Kampf gegen Diskriminierung aufgrund von Nationalität, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung als zweitrangig bis hin zu störend zu betrachten. So kann es nicht verwundern, dass dieser Kampf im „Populäre Linke“-Aufruf so gut wie gar nicht vorkommt. Man muss den Eindruck gewinnen, dass es der „Populären Linken“ nur um den Kampf um ökonomische Interessen geht, nicht aber um den Kampf gegen Rassismus, Sexismus und andere Diskriminierungsformen.

Es ist absolut richtig, dass eine sozialistische Partei, die gemeinsamen Klasseninteressen aller Teile der Arbeiter*innenklasse in den Mittelpunkt rücken und um diese herum organisieren und mobilisieren muss. Es ist auch richtig, dass die Hauptorientierung der Partei auf der Arbeiter*innenklasse und der Jugend und den sozialen und ökonomischen Themen liegen sollte, die diese betreffen. Das bedeutet aber nicht, auf einen entschlossenen Kampf gegen Diskriminierung bestimmter Gesellschaftsgruppen zu verzichten, sondern offensiv zu erklären, dass diese Diskriminierung der Spaltung der Arbeiter*innenklasse dient und deshalb nicht nur nicht im Interesse der direkt betroffenen Schichten, sondern auch nicht im Interesse der gesamten Arbeiter*innenklasse ist und daher mit klassenpolitischen Positionen bekämpft werden muss. An anderer Stelle wird deutlich, dass die Wagenknecht-Anhänger*innen nicht für konsequente Interessenvertretung und für offensive sozialistische Politik stehen. So spricht ihr Aufruf sich für „sozialen Ausgleich“ aus, was nur ein anderes Wort für Klassenzusammenarbeit und Sozialpartnerschaft ist. In Zeiten tiefer, multipler Krisen des kapitalistischen Systems und eines verschärften Klassenkampfs von oben, kann es aber nicht Aufgabe einer sozialistischen Partei sein, „sozialen Ausgleich“ zu propagieren, sondern Klassenkampf, also die Durchsetzung von Interessen der Lohnabhängigen und sozial Benachteiligten im Kampf gegen die Reichen und Mächtigen.

Sahra Wagenknecht hat hier trotzdem eine relevante Frage aufgeworfen, darauf aber wie so oft eine falsche Antwort gegeben. Es ist richtig, dass sich identitätspolitische Ansätze auch in der LINKEN ausbreiten und eine Gefahr dafür darstellen, dass die Partei eine Basis in breiteren Teilen der Arbeiter*innenklasse aufbauen kann.

Das gilt auch für eine andere deutliche Streitfrage – die programmatische Antwort auf den Klimawandel. Bernd Riexinger und andere schrieben in ihrem Aufruf vor dem Parteitag: „Es geht um eine Richtungsentscheidung: Steht DIE LINKE für eine Partei, die sich im Wesentlichen auf Sozialstaat und soziale Kernpunkte beschränkt oder für eine sozialistische Politik, die die ökologische Frage als eine der klassenpolitischen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre ernst nimmt.“ Im Aufruf „Für eine populäre LINKE“ heißt es zu dem Thema jedoch: „Wir wollen eine wirksame und eine gerechte Umwelt- und Klimapolitik, die die Perspektive der Beschäftigten beachtet. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen kann nur gelingen, wenn er durch massive staatliche Investitionen gefördert wird. Soziale Absicherung sowie der Erhalt und die Schaffung neuer guter Arbeitsplätze sind dafür Bedingungen.“ Klingt nicht nach einem unüberbrückbaren Widerspruch – weil diese Texte mit Worthülsen arbeiten statt konkret die Meinungsverschiedenheiten zu benennen. Das Ergebnis sind Formelkompromisse auf dem Papier und eine Verhärtung der machtpolitischen Fronten in der Partei.

Entscheidend in dieser Frage ist aus unserer Sicht, dass der Klimawandel nur durch sozialistische Systemveränderung gestoppt bzw. begrenzt werden kann. Eine solche Systemveränderung beinhaltet aber auch, dass nicht die Arbeiter*innenklasse die Kosten des Klimawandels und der zu seiner Beendigung notwendigen Maßnahmen tragen darf. Während der eine Teil in der LINKEN nicht ganz klar in der Frage ist, dass Klimawandel nicht auf Kosten der Arbeiter*innenklasse bekämpft werden darf, erweckt der andere den Eindruck, dass dieser Kampf mit angezogener Handbremse geführt werden müsse, um die Arbeiter*innenklasse nicht zu belasten. Eine wirklich sozialistische Programmatik als dringende Notwendigkeit vertritt keine der beiden Seiten, auch wenn sie den Begriff „sozialistisch“ ab und zu verwenden.

„Weiter so!“ mit der Bewegungslinken

Der Erfurter Parteitag, seine Debatten, Beschlüsse und Personalentscheidungen, hat nicht zu dem geführt, was die Partei braucht: eine wirkliche, tiefgehende und selbstkritische Bestandsaufnahme, eine schonungslose Analyse der Ursachen des Niedergangs und daraus das Ziehen aller notwendigen Schlussfolgerungen. Die wirklich kontroversen Fragen wurden in einem weiteren Versuch, es möglichst allen irgendwie Recht zu machen, umschifft. Das ist ein „Weiter so!“ in die Bedeutungslosigkeit.

Wir treten nicht dafür ein, die Partei auf sozialistische Propaganda zu beschränken oder, wie uns von Linksreformist*innen gerne vorgeworfen wird, nur die rote Fahne zu hissen und möglichst wortradikal aufzutreten. Es geht darum, konsequent den Standpunkt der Arbeiter*innenklasse und Unterdrückten einzunehmen, deren Interessen ohne Rücksicht auf so genannte kapitalistische Sachzwänge zu formulieren, auf Klassenkampf und Massenmobilisierung statt „sozialen Ausgleich“ und Elendsverwaltung in Regierungskoalitionen mit SPD und Grünen zu setzen und dies mit einer systemverändernden Perspektive zu verbinden.

Nach einer aktuellen Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung können sich 18 Prozent der Wähler*innen (die vielen nicht wahlberechtigten Migrant*innen und Jugendlichen sind da nicht eingerechnet) vorstellen, DIE LINKE zu wählen. Die Hälfte – also neun Prozent – davon, das sind über fünf Millionen Menschen, wünschen sich von der Linkspartei „mehr Sozialismus“. Diese zu erreichen, als Wähler*innen zu gewinnen und möglichst viele von ihnen zu mobilisieren und zu organisieren, muss das oberste Ziel der LINKEN sein. Neun Prozent bei den Bundestagswahlen – das wäre fast eine Verdopplung im Vergleich zu den 4,9 Prozent vom September 2021 und Ausgangspunkt für einen Aufstieg der Partei als politische Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten.

Leider nur scheint keine der einflussreichen Kräfte in der Partei auch nur im Entferntesten einen solchen Weg einschlagen zu wollen. Bände spricht hier die Entwicklung von Janine Wissler. Mit radikaler Rhethorik und bewegungsorientierter Basisarbeit hat das damalige Marx21-Mitglied viele Sympathien in der Partei gewonnen. Einmal Parteivorsitzende waren dann die Positionen der Vergangenheit entweder vergessen oder wurde der Spagat geschafft, den Kompromiss mit der Parteirechten in schöne Worte zu gießen. Im Bundestagswahlkampf hat Janine Wissler jedenfalls die Anbiederung an SPD und Grüne mitgemacht und zeichnete mitverantwortlich dafür, dass das Wahlprogramm mitten im heißen Wahlkampf durch ein „Sofortprogramm“ ersetzt und damit entsorgt wurde. Das war nicht nur inhaltlich ein Offenbarungseid, sondern auch methodisch. Einmal mehr umgingen die Spitzenkräfte der Partei die gewählten Gremien und traten mit ihren eigenen, nicht diskutierten und nicht abgestimmten Positionen an die Öffentlichkeit. Janine Wissler sagt, zum Beispiel in ihrer vor dem Parteitag veröffentlichten Stellungnahme, viele richtige Dinge, löst aber den Widerspruch nicht auf, dass sie einerseits erklärt, dass nur durch „eine grundlegende Veränderung unserer Gesellschaft“ und ein „Ende der Ausbeutung von Mensch und den natürlichen Lebensgrundlagen durch die kapitalistische Produktionsweise“ der Klimawandel aufgehalten werden kann, um aber dann letztlich nie über reformistische und systemimmanente Forderungen hinaus zu gehen. Sie benennt zwar die Frage der Überführung von Schlüsselindustrien in öffentliches Eigentum und spricht davon die Eigentumsverhältnisse ändern zu wollen, landet aber bei ihren konkreten Forderungen bei staatlichen Eingriffen in die kapitalistische Wirtschaft. Der Sozialismus wird so zu einem vagen Fernziel statt dringender Notwendigkeit.

Problematisch an ihrer Haltung ist auch ist die Reduzierung der Wahlniederlagen und der Krise der Partei darauf, dass „wir in der Öffentlichkeit als zerstritten und uneins wahrgenommen werden“. Dass an der realen Politik der Linkspartei etwas nicht stimmen könnte, kommt ihr scheinbar nicht in den Sinn. So verliert sie auch kein kritisches Wort über die Regierungsbeteiligungen der LINKEN in den Ländern oder über den staatstragenden Kurs der LINKE-Bundestagsfraktion in der ersten Phase der Corona-Pandemie, im Gegenteil sind die Regierungsbeteiligungen für sie Teil des „starken Fundaments“ der Partei. Dass die Wahrnehmung der LINKEN als Teil des politischen Establishments, vor allem in Ostdeutschland, wesentlicher Faktor der Wähler*innenverluste war und ist, scheint sie nicht so zu sehen.

Wie weit die Bewegungslinke in ihrer Prinzipienlosigkeit geht, wird in dem „Intervention“-Aufruf deutlich, der vor dem Parteitag verbreitet wurde und den viele ihrer Mitglieder gemeinsam mit einigen der profiliertesten Befürworter*innen von Regierungsbeteiligungen gezeichnet haben. Nun stehen sich also zwei Hufeisenbündnisse gegenüber, in denen politische Differenzen hinter Worthülsen versteckt werden und die weder eine Erklärung für die Krise der Partei anbieten noch einen Weg aufzeigen, wie diese überwunden werden kann.

Die Bewegungslinken ist scheinbar der Meinung, durch Organising-Konzepte, Haustürgespräche und ein freundlicheres Miteinander die Krise der Partei überwinden zu können. Dabei ist diese Krise auch eine Krise der Bewegungslinken, die mit vielen Vertreter*innen in den letzten Parteivorstand gewählt wurde – und keinen Unterschied gemacht hat. Zweideutig in der Frage der Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen (und diese im ersten westdeutschen Bundesland, Bremen, federführend mitverantwortend), Form über Inhalt stellend und mutlos, die verkrusteten Machtstrukturen in der Partei wirklich herauszufordern, hat die Bewegungslinke eine große Chance vertan – und leider unsere Warnungen bestätigt, die wir äußerten, als in der AKL viele Genoss*innen die Zukunft in der Zusammenarbeit und sogar Mitgliedschaft in der Bewegungslinken sahen.

Antikapitalistische Linke (AKL)

Die Antikapitalistische Linke (AKL) bleibt die einzige Parteiströmung, die in zentralen Fragen wie der Regierungsbeteiligung und des Ukraine-Kriegs an sozialistischen Prinzipien festgehalten hat. Doch auch sie ist von der Krise der Partei betroffen und konnte sich bisher nicht stärker aufbauen, was auch in der AKL einer Bestandsaufnahme bedürfte.

Die AKL ist organisatorisch geschwächt und entwickelt sich politisch in eine ökosozialistische Richtung mit allen entsprechenden kleinbürgerlichen Tendenzen, die das beinhaltet. Die Orientierung vieler AKL-Protagonist*innen auf das Umweltthema geht zu weit. Das zeigte sich unter anderem darin, dass das pünktlich zum Parteitag erschienene AKL-Magazin „aufmüpfig“ den Titel „Ist die erzwungene Stilllegung fossiler Produktionsmittel legal?“ trug und kein anderes Thema beinhaltete. Diese Ausrichtung gilt besonders für den Landesverband NRW, wo die AKL relativ stark ist, aber nicht in der Lage war, einen alternativen Kurs für den Landesverband vorzuschlagen und durchzusetzen.

In den Parteivorstand ist keine offizielle AKL-Vertreter*in mehr hinein gewählt worden. Die AKL ist in den innerparteilichen Machtkämpfen an den Rand gedrängt worden. Das ist teilweise Ergebnis davon, dass sie sich nicht an prinzipienlosen Machtblöcken beteiligt, teilweise aber auch Ergebnis der unkritischen Haltung gegenüber der Bewegungslinken, die teilweise zu Doppelmitgliedschaften prominenter AKL-Sprecher*innen führt und von uns immer kritisiert wurde.

Linksjugend [‘solid]

DIE LINKE ist wahrscheinlich die einzige linke Partei auf der Welt, in der der Jugendverband nicht links von der Parteiführung steht. Linksjugend[‘solid] wird mehrheitlich von stark kleinbürgerlichen, reformistischen, teils reformerischen und antideutschen Kräften dominiert. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dies in absehbarer Zukunft auf Bundesebene ändern wird, auch wenn es im Berliner und hessischen Landesverband zu neuen linken Mehrheiten gekommen ist. Statt einer Ausstrahlungskraft hat der Bundesverband auf proletarische Jugendliche und solche, die auf der Suche nach einer kämpferischen, sozialistischen Alternative sind eher eine abschreckende Wirkung.

DIE LINKE und der Ukraine-Krieg

Keiner der friedenspolitischen Leitanträge zum Erfurter Parteitag brachte den Mut auf, selbstbewusst gegen den Strom der öffentlichen bzw. veröffentlichten Meinung zu schwimmen und die Beschlusslage der Partei aus dem Erfurter Grundsatzprogramm zur NATO auch nur zu zitieren. Kein Wort von der dort festgeschriebenen Forderung nach der Auflösung der NATO, geschweige denn von der politisch sinnvolleren Forderung nach einem Austritt Deutschlands aus der NATO. In keinem der Anträge findet sich eine ausreichende Klassenanalyse der behandelten Themen und auch keine deutliche Zuschreibung des Kapitalismus als tiefere Ursache für alle Missstände. Die Notwendigkeit einer sozialistischen Veränderung der Gesellschaft wird so zu einem frommen Wunsch statt konkreter Zielsetzung.

In der Debatte um den Ukraine-Krieg ist die Verurteilung der russischen Invasion in der Ukraine kein strittiger Punkt, obwohl das vielfach behauptet wird. Strittig ist die Frage, inwiefern dem westlichen Imperialismus eine Mitverantwortung gegeben wird. So beinhalteten die Ersetzungsanträge der Parteilinken beim Parteitag vor allem eine Darstellung der Vorgeschichte der russischen Invasion hinsichtlich der Politik der NATO-Staaten in den letzten Jahren und formulierten eine ablehnende Haltung zur NATO und zu Wirtschaftssanktionen, weil sie die Bevölkerung und nicht die Herrschenden treffen. Keiner der Anträge zog jedoch die Konsequenz, explizit die Beschlusslage der Partei für eine Auflösung der NATO zu verteidigen. Letztlich erhielt der Parteivorstands-Antrag 57 Prozent der Stimmen gegen 42 Prozent des Antrags aus der Parteilinken.

Die große Spaltung und Verwirrung in der Kriegsfrage wird an verschiedenen anderen Stellen deutlich. Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow konnte erklären, er sei gegen Waffen, es sei denn er werde in der gegenwärtigen konkreten Situation konkret gefragt. Auch Berlins LINKE-Senator Klaus Lederer ist für Waffenlieferungen. Die Verschiebungen nach Rechts, die es in dieser Frage innerhalb der Partei gibt, zeigen sich zum Beispiel auch daran, dass der – vormals linke – Landesverband Bremen auf seinem Landesparteitag sich für Waffenlieferungen an die Ukraine und für Wirtschaftssanktionen ausgesprochen hat – übrigens auch ein Hinweis darauf, wie Regierungsbeteiligungen mit prokapitalistischen Parteien DIE LINKE verändern.

Die Parteispitze betont zwar immer wieder, dass die friedenspolitischen Positionen der Partei nicht geschliffen würden. Darauf folgte dann jedoch oftmals ein großes „Aber“ und Ausführungen darüber, dass man jetzt ja Antworten auf die konkrete Situation finden müsse. Das erinnert an die Sozialdemokratie, deren linke Programmatik auch immer nur so lange galt, wie es nicht um deren konkrete Umsetzung ging.

Dieses „Aber“ ging so weit, dass selbst ein von uns eingebrachter Antrag, der nur formulierte, dass die friedenspolitischen Positionen des Parteiprogramms zu Waffenexporten, Auslandseinsätzen der Bundeswehr und der NATO bestätigt werden sollten, abgelehnt wurde.

Auf der anderen Seite wird zwar eine Ablehnung von Waffenlieferungen, Wirtschaftssanktionen und der NATO formuliert, das aber oftmals mit Illusionen in kapitalistische Institutionen und Diplomatie verknüpft und der Traum einer „Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands“ im Rahmen des krisenhaften Imperialismus propagiert. Das kommt vor allem von denjenigen Kräften in der Partei, die vor dem 24. Februar das Putin-Regime oftmals verteidigten und einen Angriffskrieg Russlands ausschlossen.

Unter dem Strich hat die Partei in der Frage von Krieg und Frieden zwar bisher keine neuen Positionen festgeschrieben (abgesehen von der deutlichen Distanzierung vom Putin-Regime), aber sowohl in den Beschlussfassungen, aber auch in dem, was unhinterfragt geäußert werden kann, die Tür zum Schleifen der friedenspolitischen Positionen geöffnet. Den Kapitalismus als Ursache für Kriege formulierte nur noch die Antikapitalistische Linke (AKL). Uns muss gleichzeitig klar sein, dass für die Masse der Lohnabhängigen diese Debatten und Verschiebungen kaum wahrnehmbar sind. Für sie ist DIE LINKE erst einmal weiterhin die Partei, die Waffenlieferungen und Auslandseinsätze der Bundeswehr ablehnt.

#LinkeMeToo

Die Debatte um mutmaßliche sexistische Übergriffe in den Reihen der Linkspartei hat auf verschiedenen Ebenen weitere Missstände in der Partei offenbart. Unabhängig von der konkreten Bewertung der Geschehnisse im hessischen Landesverband wurde deutlich, dass DIE LINKE auch fünfzehn Jahre nach ihrer Gründung keinen Umgang mit Sexismus in den eigenen Reihen gefunden hat, der dem Problem gerecht würde. Es gab weder ausreichend politische Sensibilisierungskampagnen noch gibt es demokratisch gewählte Ausschüsse, an die sich Opfer solcher Übergriffe wenden und die eine Untersuchung durchführen könnten.

Auf der anderen Seite wurden die im hessischen Landesverband aufgekommenen Vorwürfe gegen männliche Parteimitglieder von manchen Kräften in Partei und Jugendverband in eine Kampagne gegossen, die nur noch vordergründig den Kampf gegen Sexismus zum Ziel hatte und vor allem am Stuhl von Janine Wissler als Parteivorsitzender sägen sollte – im Einklang mit dem SPIEGEL, der bekanntermaßen keine Gelegenheit auslässt, der LINKEN zu schaden.

Auch wurde in der #LinkeMeToo-Debatte deutlich, dass unterschiedliche Herangehensweisen mit sexistischen Übergriffen aufeinanderprallen, wie das auch schon in anderen linken Strukturen, wie der Kampagne „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ im Spätsommer letzten Jahres der Fall war. Das so genannte Defma-Konzept (Defma = Definitionsmacht) sieht vor, dass dem mutmaßlichen Opfer unter allen Umständen geglaubt und der/die mutmaßliche Täter*in keine Möglichkeit zur Verteidigung bekommt, geschweige denn eine Untersuchung der Vorfälle stattfindet. In Erwägung, dass nur ein kleiner Teil von Vorwürfen sexueller Übergriffe der Unwahrheit entsprechen – was sicher stimmt – wird die Unschuldsvermutung und das Recht von Angeklagten auf Anhörung und Verteidigung über Bord geworfen und eine wirkliche Auseinandersetzung im Keim erstickt. Die Gremien der Linkspartei haben nicht den Fehler begangen, dem Druck der Defma-Befürworter*innen nachzugeben und Schritte eingeleitet, die in die richtige Richtung gehen, auch wenn wir einige andere bzw. weiter gehende Vorschläge machen würden. Diese betreffen vor allem die Frage, welche Strukturen Machtmissbrauch fördern und wie Vorfälle untersucht werden sollten. Wir stellen die Frage, weshalb es in einer sozialistischen Partei überhaupt Macht gibt, die man missbrauchen kann und fordern, dass Funktionär*innen jederzeit wähl- und abwählbar sein sollten und Mandatsträger*innen und Hauptamtliche nicht mehr verdienen sollten, als einen durchschnittlichen Facharbeiter*innenlohn.

Eine ausreichende inhaltliche Debatte über Sexismus und über die unterschiedlichen Konzepte des Umgangs damit hat bisher aber auch nicht stattgefunden. Die Debatte wird, nicht zuletzt von der Führung von linksjugend[‘solid] sehr emotional und auf einer individuellen Betroffenheitsebene geführt, was keine Grundlage für eine politische Debatte liefert und ausdrückt, dass identitätspolitische Ansätze in der Partei stark präsent sind. In gewisser Hinsicht dominieren diese die Atmosphäre der Debatte, während sich inhaltlich andere Beschlüsse durchgesetzt haben.

Dass die Auseinandersetzung um diese Fragen alles andere als gelöst ist, wurde nach dem Erfurter Parteitag und noch währenddessen deutlich, als Janine Wissler nach ihrer Wahl zur Vorsitzenden in persönlichen Erklärungen angegriffen wurde, weil ihr eine negative Rolle bei der Aufarbeitung von Vorfällen in Hessen vorgeworfen werden und Mitglieder der linksjugend[‘solid] in den sozialen Medien eine heftige Kampagne gegen DIE LINKE fortsetzten. Es wird dringend eine Klärung nötig sein, wie mit Vorwürfen und Vorfällen von Sexismus umgegangen wird. Die in Teilen der kleinbürgerlichen Linken dominierende Definitionsmacht-Logik, die eine unabhängige Untersuchung von Vorfällen, Verteidigung der Angeklagten und Unschuldsvermutung ausschließt, und auch auf diesem Parteitag immer wieder aufblitzte, muss genauso zurück gewiesen werden, wie Relativierung und Herunterreden des Sexismus-Problems.

Der neue Vorstand

Mit dem Erfurter Parteitag erlitt die Sozialistische Linke (SL) und das gesamte Wagenknecht-Lager einen deutlichen Dämpfer und das Bündnis aus Bewegungslinke und einem Teil des Reformer*innen-Lagers wurde gefestigt. Die Parteirechte ist insgesamt im Parteivorstand gestärkt, nicht zuletzt weil der Reformer Tobias Bank sich bei der Wahl zum Bundesgeschäftsführer gegen den Bewegungslinken Janis Ehling durchsetzen konnte. Das überraschte viele und lag wahrscheinlich auch daran, dass Teile des Wissler-Schirdewan-Blocks ein Signal der Integration an diejenigen Reformer*inne aussenden wollten, die zum Bartsch-Wagenknecht-Hufeisen gehören und denen Bank zuzuordnen ist. Positiv an der Zusammensetzung des neuen Parteivorstands ist sicher, dass mit Dana Lützkendorf und Ellen Ost zwei an der Streikbewegung in den Krankenhäusern beteiligte ver.di-Aktive und mit Jana Seppelt, Jan Richter und Tupac Orenella drei weitere Gewerkschafter*innen gewählt wurden (wobei vier von diesen hauptamtlich in der Gewerkschaft oder Bundestagsfraktion arbeiten und sich zeigen wird, wie diese sich in den innerparteilichen Auseinandersetzungen positionieren werden). Allerdings wurde niemand aus der Sozialistischen Linken gewählt (deren Kandidat*innen ihre Kandidaturen zum Teil zurück gezogen hatten), kein*e offizielle Kandidat*in der Antikapitalistischen Linken und kein*e Kandidat*in aus dem größten Landesverband NRW (wo AKL und SL stark sind) wurden gewählt. 15 Mitglieder des Parteivorstands können der Bewegungslinken zugeordnet werden, elf dem Reformer*innenlager. 25 von 26 sind hauptamtlich in Partei, Gewerkschaft oder als Mandatsträger*innen tätig.

Das bedeutet eine formell linke Mehrheit, aber letztlich auch eine Festigung des den Parteivorstand auch in der letzten Phase dominierenden zweiten „Hufeisenbündnisses“ in der Partei bestehend aus den Unterstützer*innen Janine Wisslers und der Bewegungslinken und Teilen des Reformer*innen-Lagers. Also ein „Weiter so!“

Wie weiter?

Wir haben DIE LINKE in den letzten 15 Jahren als den einzigen Ansatzpunkt für eine neue Arbeiter*innenpartei in der Bundesrepublik bezeichnet. Deshalb sind viele Sol-Mitglieder auch Mitglied der Partei bzw. ihres Jugendverbands und deshalb haben wir in vielen Basisstrukturen und Arbeitsgemeinschaften konstruktiv mitgearbeitet, Kampagnen und Wahlkämpfe mitgemacht und Vorschläge für die politische Ausrichtung und praktischen Aktivitäten der Partei und des Jugendverbands gemacht. Innerhalb und gemeinsam mit der AKL haben wir gegen die weitere Verschiebung der Parteipolitik nach rechts gekämpft. Wir sind immer davon ausgegangen, dass die Zukunft der LINKEN offen ist und sich darin entscheidet, wie die innerparteilichen Auseinandersetzungen verlaufen und ob verhindert werden kann, dass die Partei sich gänzlich dem politischen Establishment anpasst. Wir gingen davon aus, dass DIE LINKE im Falle größerer Klassenkämpfe und Massenbewegungen als einzige Kraft mit sozialistischem Anspruch nicht nur Wähler*innenstimmen gewinnen kann, sondern möglicherweise auch eine Anziehungskraft auf frische Schichten der Arbeiter*innenklasse und der Jugend ausstrahlen kann. Und wir gingen davon aus, dass im Falle einer gänzlichen Anpassung an das prokapitalistische Establishment und eines Regierungseintritts auf Bundesebene, aus den linken Kräften der Partei, die einen solchen Weg nicht mitmachen, die Basis für eine neue, breite sozialistische Kraft entstehen kann. Außerhalb der LINKEN gab und gibt es keine Kräfte, die dafür einen konkreten Ansatzpunkt darstellen.

Die derzeitigen Verwerfungen und die Krise der Partei haben aber eine neue Qualität erreicht. Das betrifft den Niedergang bei Wahlen, den Mitgliederrückgang (der aktuell mit sehr vielen politisch motivierten Austritten zusammen hängt), es betrifft den Grad der politischen Prinzipienlosigkeit und auch des politischen und ideologischen Versagens aller wesentlicher Kräfte in der Partei angesichts der multiplen Krisen des Kapitalismus, vor allem angesichts der Corona-Pandemie und des Ukraine-Kriegs.

Zur Zeit ist keine Kraft in Sicht, die das Ruder herumreißen könnte. Angesichts der Tatsache, dass DIE LINKE zur Zeit die einzige politische Kraft links von SPD und Grünen mit einer gewissen Massenbasis ist, ist zwar weiterhin offen, wie sich die Partei entwickeln wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Partei vor dem Hintergrund der tiefen Klassenpolarisierung wieder bessere Umfragewerte und Wahlergebnisse erzielt. Es ist auch möglich, dass sie in begrenztem Maße neue Mitglieder gewinnt, wenn sie zum Beispiel die als „Herbstoffensive“ angekündigte Kampagne gegen Preissteigerungen auf breiter Front umsetzt. Sie bleibt auch ein wichtiger Raum für die Debatte um sozialistische Politik, den Aufbau einer breiten, sozialistischen Arbeiter*innenpartei und auch für die Artikulation der politischen Interessen der Arbeiter*innenklasse – es wird aber leider immer wahrscheinlicher, dass die Partei ihren Gebrauchswert immer mehr verliert und Arbeiter*innen und Jugendliche in den Kämpfen der kommenden Jahre, andere Wege einschlagen werden, um eine politische Interessenvertretung zu schaffen. DIE LINKE wird bzw. Teile der Linkspartei werden, wenn überhaupt, wahrscheinlich nur ein Bestandteil einer zukünftigen politischen Neuformierung sein.

Davon ist umso mehr auszugehen, da eine Trennung von Sahra Wagenknecht und ihren Anhänger*innen von der Partei wahrscheinlicher geworden ist. Einzelne ihrer Unterstützer*innen haben die Partei schon verlassen, darunter auch wichtige Akteure, wie Oskar Lafontaine.

Während Sahra Wagenknechts Positionen in vielen Fragen eindeutig Rechts von der offiziellen Programmatik der LINKEN stehen (das gilt in Bezug auf Migrations, Corona- und Wirtschaftspolitik, den Kampf gegen Diskriminierung und ihre Ignoranz innerparteilicher Demokratie), sieht das im Vergleich zur konkreten Politik der LINKEN, insbesondere in den Landesregierungen, zu sozial- und friedenspolitischen Fragen schon anders aus. Je nach konkreter Situation kann eine Abspaltung von Sahra Wagenknecht und ihren Unterstützer*innen auch als Schritt nach links wahrgenommen werden, zumindest in manchen Politikfeldern. Sollte der Anlass eine weitere Aufgabe friedenspolitischer Grundsätze der Partei sein, werden möglicherweise Kräfte diesen Schritt mitgehen, die sich das noch vor einem Jahr nicht hätten vorstellen können.

Es wäre jedenfalls ein Fehler aus der geschwundenen Macht Wagenknechts in der Partei zu schließen, dass ein solches Projekt nicht eine große (Wahl-)Resonanz in Teilen der arbeitenden Bevölkerung und der Mittelschichten finden könnte. Das nicht zuletzt weil es das Gefühl von Teilen der Arbeiter*innenklasse zum Ausdruck bringen würde, dass DIE LINKE nicht mehr ausreichend ihre Interessen vertritt, aber auch weil Wagenknecht den in Teilen der Arbeiter*innenklasse bestehenden rückständigen Ideen nachgibt (und diese damit gleichzeitig verstärkt). Dann gäbe es zwei linke Parteien in der Bundesrepublik.

Wie sich eine von Wagenknecht geführte Partei entwickeln würde, ist nicht vorherzusehen. Vieles spricht dafür, dass sie auf Wahlebene erfolgreich sein kann, möglicherweise sogar erfolgreicher als DIE LINKE. Es ist gut vorstellbar, dass sie spätestens zur Europawahl den Schritt einer Parteineugründung gehen und bei diesen Wahlen antreten, wo es einfacher ist bundesweit anzutreten und Parlamentssitze zu gewinnen, weil es keine Fünf-Prozent-Hürde gibt. Inhaltlich wird ihre Entwicklung sehr vom Verlauf der objektiven Entwicklungen und Klassenkämpfe abhängen, aber auch davon, wie weit nach Rechts sie sich personell öffnen wird. Der Populismus und Opportunismus kann bedeuten, dass sich Klassenkämpfe einerseits in einem wortradikaleren Auftreten ausdrücken werden, aber sie auch für migrationsfeindliche Stimmungen, wie nach dem Zuzug vieler Geflüchteter 2015, offen sein wird.

Es ist auf jeden Fall davon auszugehen, dass eine solche Partei mehr einem auf eine Person zugeschnittenen Wahlverein mit Top-Down-Strukturen gleichen würde und noch weniger demokratische Entscheidungsprozesse und Mitgliederbeteiligung als bei der LINKEN bestehen würden.

Wir werden unser Verhältnis zur LINKEN und ggf. zu einer neuen von Wagenknecht geführten Partei vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklungen diskutieren müssen. Es gilt natürlich weiterhin, dass wir gegen weitere Rechtsverschiebungen und für ein sozialistisches Programm kämpfen. Gegenüber einer Wagenknecht-Partei sollten wir, wie wir das schon mit „Aufstehen“ gemacht hatten, bei aller Kritik eine Herangehensweise entsprechend der Einheitsfront-Methode anwenden.

15 Jahre nach Gründung der LINKEN sieht es nicht gut aus für die Partei und damit auch für die Aussichten auf die zeitnahe Entstehung einer politischen Interessenvertretung der Arbeiter*innenklasse mit Massenbasis. Wären die Kräfte des Marxismus in diesem Zeitraum innerhalb der Partei und der gesamten Arbeiter*innenklasse und Jugend stärker gewesen, hätten sie den Gang der Ereignisse möglicherweise beeinflussen und den Niedergang der LINKEN verhindern können. Diese Kräfte aufzubauen ist die wichtigste Aufgabe.

Gleichzeitig bleibt die „doppelte Aufgabe“ bestehen und wir propagieren weiterhin die Idee einer sozialistischen Arbeiter*innenpartei und unterstützen konkrete Schritte in diese Richtung. Der Niedergang der LINKEN kann aber bedeuten, dass es dazu für einen Zeitraum keine erfolgversprechenden Ansätze gibt und sich Wellen von Klassenkämpfen ohne eine politische Interessenvertretung und auch nur eine starke parlamentarische Linke entwickeln werden. Eine solche politische Interessenvertretung kann sich dann in Zukunft aus verschiedenen Quellen speisen – gewerkschaftlichen Kämpfen, sozialen Bewegungen, lokalen Kandidaturen linker Kräfte, aus den bestehenden linken Parteien. Wann es zu Parteibildungsprozessen kommen wird, die das Potenzial haben werden, eine sozialistische Massenpartei zu schaffen, ist offen. Es ist möglich, dass wir vor einer längeren Phase stehen, in der sich in Bezug auf eine politische Interessenvertretung der Arbeiter*innenklasse nicht viel tut, genauso sind an einem bestimmten Punkt des Klassenkampfes und der sozialen und politischen Polarisierung sprunghafte Entwicklungen möglich. Je stärker wir zu diesem Zeitpunkt sind, desto mehr werden wir den Gang der Ereignisse und die Bildung einer Arbeiter*innenpartei beeinflussen können.

Betriebe und Gewerkschaften

Aufgrund der multiplen kapitalistischen Krise verschlechtert sich die Lage der Arbeiter*innenklasse spürbar: durch die galoppierende Inflation, durch das Kaputtsparen der öffentlichen Daseinsvorsorge in den letzten Jahrzehnten sowie Ökonomisierung und Privatisierungen, enorm angestiegene Arbeitsbelastung in vielen Bereichen, drohende Energieverknappung, mögliche Arbeitsplatzverluste durch die nahende Rezession und aufgrund technologischer Umrüstung auf E-Motoren etc.

Die vorherrschende Politik der Sozialpartnerschaft aller Führungen der DGB-Gewerkschaften hat in der Pandemie bedeutet, dass weiterer Verzicht geübt und eine Propaganda des „gemeinsam durch die Krise“ betrieben wurde. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass es in den letzten zwei Jahren Reallohnverluste gab. Währenddessen haben Teile der Kapitalist*innen Sondergewinne einfahren können. Mit dem Beginn des Krieges und vor dem Hintergrund, dass die SPD in der Regierung ist, hat die Gewerkschaftsführung diese Politik weiter geführt. Durch die Reallohnverluste und die massive Teuerung und andere ungelöste Missstände wie Personalmangel geraten sie immer stärker unter Druck von unten. Diese Situation kann zu sozialen Explosionen führen. Allerdings ist es aufgrund der Rolle der Gewerkschaftsbürokratie und ihrer sozialpartnerschaftlichen Ausrichtung sehr schwierig, dass sich der Druck in den größeren Tarifrunden Bahn brechen kann. In Abwesenheit von organisierter Gegenwehr durch die Gewerkschaften kann es auch zu anderen Formen von Widerstand kommen, entweder in einzelnen Betrieben oder durch Proteste oder Protestwellen auf der Straße, bis hin zu Krawallen wie wir sie aus den französischen Vorstädten kennen.

Inflation

Die massiven Preissteigerungen sind aktuell ein zentraler Faktor. Sie kommen zusätzlich zu den seit Jahren rasant steigenden Mieten. Sie treffen alle Schichten der Arbeiter*innenklasse. Für diejenigen, die sich im Niedriglohnbereich befinden oder von Sozialleistungen abhängig sind, kann es existentielle Ausmaße annehmen. Laut dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes lebten 2021 13,8 Millionen Menschen in Deutschland in Armut (16,6 Prozent), 600.000 mehr als vor der Pandemie. Jedes 4. Kind ist arm. Die nun explodierenden Preise werden verheerende Auswirkungen auf diese Teile der Arbeiter*innenklasse haben. Aber auch Teile der Arbeiter*innenklasse, die über Durchschnittslohn verdienen, kann die Entwicklung große Einschnitte bedeuten, insbesondere, wenn sie Kredite für ein Haus oder andere Güter abzubezahlen haben. Gleichwohl sind nicht alle gleichermaßen betroffen und kann das Bewusstsein darüber variieren.

Mit etwas Verzögerung nehmen aber immer mehr Menschen der Arbeiter*innenklasse die Inflation in ihrer Lebensrealität als große Belastung wahr. Es führt auch nach und nach zu einer Steigerung bei den Lohnforderungen und Erwartungen in bisherigen Tarifauseinandersetzungen. Die Gewerkschaftsführungen mussten dieser Stimmung Rechnung tragen. Wahrscheinlich werden weiterhin Warnstreikmobilisierungen – eventuell in größerem Ausmaß – durchgeführt, um angesichts der gestiegenen Wut Druck aus dem Kessel zu lassen. Gleichzeitig tun sie alles, um eine Mobilisierung jenseits von Warnstreiks – also Urabstimmung und Vollstreik, was Erwartungen und Kampfbereitschaft anfeuern und zudem zu einer politischen Radikalisierung führen könnte – zu verhindern. Tarifabschlüsse werden durch das Aufaddieren von nicht tabellenwirksamen Einmalzahlungen, Nichtberücksichtigung von Kompensationen und Einberechnen von Urlaubs- und Ausgleichstagen schöngeredet (um der Öffentlichkeit ein höheres Ergebnis vorgeben zu können).

Das Selbstbewusstsein von Teilen der Arbeiter*innenklasse ist aktuell einerseits aufgrund der relativ hohen Beschäftigtenzahlen gestärkt. In vielen Bereichen wird Personal gesucht, was es den Beschäftigten erleichtert, einen höheren Preis für ihre Arbeitskraft zu verlangen. Das ist sogar in Bereichen wie der Luftfahrt der Fall, wo es noch vor zwei Jahren einen massiven Stellenkahlschlag gab und nun der daraus resultierende Personalmangel zu Flugstornierungen führt. Mit 9,5 Prozent mehr Lohn bzw mindestens 350 Euro brutto bei 12 Monaten Laufzeit hatten sich die bei ver.di organisierten Kolleg*innen beim Bodenpersonal der Lufthansa (ca 20.000 Beschäftigte) an die Spitze der Tarifforderungen gesetzt. Das Tarifergebnis verdeutlichte, dass die Beschäftigten in einer guten Ausgangsposition waren. Allerdings bleibt es bei genauem Hinsehen (mit dreistufigen Erhöhungen und einer Laufzeit von 18 Monaten) immer noch hinter dem zurück, was eigentlich nötig gewesen wäre. Die ver.di-Führung verzichtete auch hier auf eine Zuspitzung, indem sie in der dritten Verhandlungsrunde einen Abschluss vereinbarte. Dennoch sollte dieser Abschluss mit den von ver.di-Seite verbreiteten Zahlen von Lohnzuwächsen zwischen 377 und 498 Euro brutto monatlich bzw bis zu 18,4 Prozent als Beispiel heran geführt werden, was für andere Bereiche erkämpft werden muss, wie zum Beispiel im öffentlichen Dienst. Auch hier sind viele Bereiche von eklatantem Personalmangel betroffen und ist deshalb nicht nur ein Inflationsausgleich, sondern auch eine deutliche Reallohnerhöhung vonnöten. Der Warnstreik an den Häfen war der längste seit 40 Jahren und spiegelte zum einen wider, dass der Druck aufgrund der Inflation wirkte, wie auch die Wut über den enorm gestiegenen Arbeitsdruck auf die Beschäftigten. Auch hier ist das Selbstbewusstsein hoch aufgrund des Personalmangels. Auch ohne Streik stauen sich die Frachtschiffe, weil es zu wenig Personal an den Häfen für die Be- und Entladung gibt. Die Stimmung und Kampfbereitschaft war so hoch, dass sich großer Unmut über einen Vergleich von ver.di und den Unternehmen vor dem Hamburger Arbeitsgericht breit machte. Die Kolleg*innen waren empört darüber, dass dieser Vergleich vorsah, dass eine Streikpause von mehr als einem Monat aufgezwungen wurde und in dieser Zeit weiter verhandelt werden sollte. Die ver.di-Führung vereinbarte innerhalb der erzwungenen Friedenspflicht ein Verhandlungsergebnis, welches sie als das beste in diesem Jahr im Vergleich mit allen Branchen bezeichnete. Für einen Teil der Beschäftigten gab es zumindest in der ersten Stufe zwischen 7,9 und 9,4 Prozent Erhöhung. Allerdings beträgt die Laufzeit zwei Jahre, was unterm Strich Reallohnverlust bedeuten wird. Es gab von einigen Kolleg*innen großen Unmut mit dem Ergebnis, weil gerade die schlechter bezahlten Beschäftigten wieder einmal schlechter da stehen, weil sie den angestrebten Inflationsausgleich nicht bekommen. Auch in diesem Kampf wurde deutlich, dass allein Druck von unten nicht ausreicht, um den Willen der Streikenden durchzusetzen und der systematische Aufbau einer organisierten klassenkämpferischen Opposition gegen den sozialpartnerschaftlichen Kurs nötig ist.

Die Mehrheit von Beschäftigten arbeitet in nicht tarifgebundenen Bereichen und von ihnen viele zu prekären Bedingungen. Sie sind besonders stark von der Inflation betroffen. Einige von ihnen wenden sich an Gewerkschaften, um ihre Lage zu verbessern. In einigen Fällen kann es auch zu von den DGB-Gewerkschaften unabhängigen Versuchen kommen, sich zur Wehr zu setzen. Dies haben wir 2021 beim Gorilla-Streik gesehen. Diese Entwicklung wurde aber dann von ver.di aufgegriffen, und es gibt Anstrengungen zur Organisierung im gesamten Lieferdienstbereich.

Gleichzeitig gibt es immer noch nur sehr begrenzte Erfahrungen von kollektiver gewerkschaftlicher Gegenwehr. Deshalb fehlt vielen Kolleg*innen die Vorstellungskraft für Streiks und Arbeitskämpfe und die Möglichkeit, sich kollektiv zur Wehr zu setzen. Das Bewusstsein ist bei den meisten bis in die elementaren Fragen des Klassenkampfes und der gewerkschaftlichen Organisierung weit zurück geworfen. Bei den Mitgliedszahlen haben die Gewerkschaften in Deutschland – im Gegensatz zum Beispiel zu Großbritannien und USA – noch keinen umgekehrten Trend verzeichnet und sind weiter gesunken.

Gerade vor dem Hintergrund einer SPD-geführten Bundesregierung wollen die Führungen der DGB-Gewerkschaften – von denen viele weiterhin eine enge Verbindung zur SPD haben, wie auch die ehemalige SPD-Generalsekretärin und seit Mai neue DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi – größere gewerkschaftliche Kämpfe verhindern. Gleichzeitig wächst der Druck aufgrund der materiellen Lage der Beschäftigten und der Spielraum für die Kapitalistenklasse für Zugeständnisse wird angesichts der ökonomischen Lage immer geringer. Allerdings verfügen einige Konzerne aufgrund der Rekordprofite über gewisse Polster, die sie zur Befriedung – zum Beispiel in Form hoher Einmalzahlungen – einsetzen können. Tendenziell nimmt der der Druck im Kessel aber zu, auch wenn nicht klar ist, wann er zum Durchbruch kommen kann.

Bisherige Lohntarifrunden

Schon in der Stahltarifrunde war die Forderung nach 8,2% – im Vergleich mehr als in anderen Bereichen – ein Ausdruck der wachsenden Stimmung von unten. Auf den Warnstreikkundgebungen musste die IG Metall-Bürokratie einen radikalen und kämpferischen Ton anschlagen, und sprach von einem Vollstreik in allen Hütten. Das Ergebnis von umgerechnet 4,3% auf 18 Monate Laufzeit, laut IG Metall das beste seit 30 Jahren, wurde von vielen Kolleg*innen nur mit geballter Faust hingenommen, weil es immer noch Reallohnverlust bedeutet. Ein Erzwingungsstreik in der Stahlindustrie, vor dem Hintergrund der vollen Auftragsbücher, hätte erfolgreich sein können, und wäre ein positives Beispiel gewerkschaftlicher Kampfkraft gewesen. Für die Gewerkschaftsführung war stattdessen wichtig, kein Beispiel eines hohen Ergebnisses und eines solchen Kampfes zu schaffen. Die IGM-Führung erklärte hingegen, dass es für Gewerkschaften angeblich nicht möglich sei, allein mit Tarifergebnissen die hohe Inflation auszugleichen.

Bei der Telekom zeigte sich auch eine größere Erwartungshaltung, die mit einem Ergebnis, das noch vor dem Stahlergebnis einen deutlichen Reallohnverlust darstellt, enttäuscht wurde. Allerdings konnte die Gewerkschaftsbürokratie hier reale Mobilisierungsschwächen als Argument nutzen, um zu behaupten, dass es nicht möglich gewesen sei, mit einem Erzwingungsstreik mehr durchzusetzen. Dies ist teilweise noch Folge der Niederlage des sieben Wochen andauernden Streiks gegen die Zerschlagung der Telekom 2007.

Wir argumentieren für einen konsequenten Kampf in allen Bereichen, die sich in Tarifauseinandersetzungen befinden, für Reallohnsteigerungen und für die Zusammenführung von Streiks. Ausgehend davon könnten die nicht-tarifgebundenen Bereiche mitgezogen und organisiert werden, sowie eine gesamtgesellschaftliche Bewegung von hunderttausenden in den Betrieben und auf der Straße organisiert werden, mit der auch politische Forderungen nach Preiskontrollen, Preisobergrenzen der Anhebung von Renten und Sozialleistungen sowie einer automatischen Anpassung der Löhne, Renten und Sozialleistungen an die Inflation durchgesetzt werden könnten.

Kommende Lohntarifrunden 2022/2023

Der Verlauf der weiteren Tarifrunden ist nicht klar und hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Aufgrund des Mangels einer organisierten Opposition in den Gewerkschaften und aufgrund der Tatsache, dass es keine linkeren Führungen in deutschen Gewerkschaften gibt (außer ein paar linksreformistischen Funktionär*innen vor allem in ver.di, aber auch vereinzelt in anderen Gewerkschaften), sind die Möglichkeiten, dass sich dieser Druck so weit steigert, dass es zu Erzwingungsstreiks kommt, begrenzt. Dennoch ist es auch nicht ganz ausgeschlossen.

Die „konzertierte Aktion“ ist der Versuch, soziale Explosionen und größere Kämpfe zu verhindern. Dabei soll die Gewerkschaftsbürokratie die Rolle übernehmen, ein Maßhalten zu rechtfertigen und der Masse der arbeitenden Bevölkerung zu erklären, warum es keine andere Wahl gibt, als Verzicht zu üben, um durch die Krise zu kommen. Auf einen Teil der Arbeiter*innenklasse wird die Propaganda wirken Andere werden dadurch in ihrer Kritik gegenüber den Gewerkschaften bestätigt. Dies wird auch von rechtspopulistischen Kräften genutzt werden. Es kann aber auch eine – zunächst noch – kleine Anzahl von Kolleg*innen geben, die sich von einem Angebot für eine kämpferische Alternative von links zum Kurs der Sozialpartnerschaft angesprochen fühlen.

Metalltarifrunde

Im September/Oktober werden Verhandlungen und Warnstreiks im Rahmen der Metall-Tarifrunde stattfinden. Aus Stuttgarter Großbetrieben wurden nicht nur Forderungen zwischen 11 und 15 Prozent aufgestellt, sondern auch offene Kritik an der aufgestellten Forderung von acht Prozent und am zu niedrigen Ergebnis im Stahlbereich geäußert. Die Stimmung wird nicht nur durch die Inflation angeheizt, sondern auch durch die Tatsache, dass es seit viereinhalb Jahren keine Tabellenerhöhung gab. Wirtschaftlich gibt es unterschiedliche Voraussetzungen zwischen den großen Konzernen, die wieder Rekordgewinne eingefahren haben, und kleineren mittelständischen Unternehmen. Entsprechend kamen aus solchen Betrieben eher einstellige Prozentforderungen. Hier kann wieder das Argument genutzt werden, dass diese mit höheren Löhnen zu Arbeitsplatzvernichtung gezwungen würden , angesichts einer sich verschärfenden Weltmarktsituation.

Die weitere wirtschaftliche Entwicklung, wie die Möglichkeit einer Rezession mit harter Landung, kann die Stimmung stark verändern. Ängste um Arbeitsplatzverluste könnten zu einer Schockwirkung führen und die kämpferische Stimmung negativ beeinflussen. Es ist klar, dass die IG Metallführung eine größere Mobilisierung nicht will und dass es aufgrund des Fehlens einer organisierten klassenkämpferischen Opposition wenig wahrscheinlich ist, dass der Druck von unten ausreicht. Erschwerend könnte noch eine erneute Corona-Welle im Herbst hinzukommen, und Großmobilisierungen deswegen abgesagt werden. Wir sollten dennoch eine Zuspitzung in der Auseinandersetzung nicht gänzlich ausschließen.

Tarifrunde öffentlicher Dienst

Die Tarifrunde für Bund und Kommunen beginnt Anfang 2023 . Die Forderungsdiskussion beginnt im September. Abgesehen von der allgemeinen Stimmung zur Inflation hat sich in Teilen des öffentlichen Dienstes Wut über die Situation des Personalmangels und der im Vergleich zu niedrigen Bezahlung angestaut. Diese Wut hat sich noch durch den heuchlerischen Applaus aus der Politik während der Pandemie gesteigert, weil sich die Situation gleichzeitig nicht verbessert, sondern im Gegenteil eher verschlechtert hat. Mit dem Beschluss über das 100-Milliardenpaket für die Aufrüstung wird es schwieriger für die Regierung, gleichzeitig Verzicht zu fordern. Das Problem des Personalmangels verschärft sich noch durch einen hohen Altersdurchschnitt in vielen Bereichen.

In jedem Fall wird die Tarifrunde Fragen der Staatsfinanzen aufwerfen, die wir offensiv und weitergehend politisch aufgreifen können. Hier wird es nicht nur darum gehen, wofür Geld ausgegeben wird, sondern auch um die Notwendigkeit innerhalb der tiefen Krise auf die Vermögen der Superreichen und Gewinne der Konzerne zuzugreifen, um die für die Gesellschaft lebensnotwendigen Aufgaben sowie für bessere Arbeitsbedingungen und ausreichende Bezahlung zu finanzieren.

Weitere Tarifrunden

Zeitgleich zur Tarifrunde Metall- und Elektroindustrie wird die Tarifrunde in der Chemieindustrie neu aufgegriffen, nachdem sie mit Vereinbarung für eine Sonderzahlung verschoben wurde. Hier könnte allerdings die Situation schwieriger werden, wenn es zu den angekündigten Gasengpässen kommt. Dann dürfte das Damoklesschwert von Arbeitsplatzverlusten über den Beschäftigten hängen und die Stimmung dämpfen.

Zum Ende des Jahres läuft der Tarifvertrag bei der Post aus, zum Frühjahr 2023 ist Handel und Einzelhandel dran, wo die meisten Beschäftigten aufgrund der niedrigen Löhne stark von der Inflation getroffen sind.

Schon jetzt wird auch die Tarifrunde bei der Bahn für 2023 vorbereitet. Auch hier hat sich bei ersten Diskussionen in der EVG gezeigt, dass Kolleg*innen gewillt sind, sich die Verluste aus der Inflation wieder zu holen. Die GdL geht einige Monate später in die Auseinandersetzung. Insgesamt dürfte auch hier das Selbstbewusstsein groß sein aufgrund der Notwendigkeit für die DB, immer weiter Personal aufzustocken. Außerdem haben die Beschäftigten der Bahn aufgrund der Auswirkungen eines Streiks auf Infrastruktur und Wirtschaft eine potentiell große Macht.

Proteste und Kämpfe außerhalb der Tarifbindung

Mehr als die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in Bereichen ohne Tarifvertragsbindungen. Viele von ihnen gehören gerade zu den schlechter bezahlten Beschäftigten. Sie werden massiv von der Inflation betroffen sein. Hier kann es einerseits zu Kämpfen an den Gewerkschaften vorbei kommen. Hier können sich neue Organisationsformen bilden, wie es bei Gorillas der Fall war, oder auch zu Versuchen, sich mit kleineren Gewerkschaften zu organisieren. Tendenziell werden aber die DGB-Gewerkschaften diejenigen sein, die für viele erster Anlaufpunkt sind.

Dauerbrenner Thema Entlastung

Nicht nur das Thema Inflation brennt Kolleg*innen unter den Nägeln. Wie auch schon in den letzten Jahren ist die Arbeitsbelastung durch Verdichtung der Arbeit ein Dauerbrenner, fast ohne Ausnahme in allen Bereichen. Gerade da, wo es um die Arbeit mit Menschen geht, bekommt diese enorme Arbeitsbelastung eine weitere Komponente, nämlich, dass Kolleg*innen sich nicht mehr in der Lage fühlen, ihrer Aufgabe und Verantwortung gerecht zu werden. Das führt auch zu einer enormen emotionalen Belastung und Wut über die Zustände, wie wir es in den Kämpfen um Entlastung in Krankenhäusern, bei den Streiks der Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst und teilweise bei Protesten von Lehrer*innen sehen.

Sozial- und Erziehungsdienst

Die Tarifrunde für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst in diesem Jahr war die (wegen der Pandemie verschobene) Fortsetzung der Aufwertungskampagne, die im Jahr 2015 zu einem vier-wöchigen Streik geführt hatte. Dieser Streik war bedeutsam gewesen, weil er auch im Vergleich zu anderen Tarifauseinandersetzungen mehr demokratische Einbeziehung von Kolleg*innen in die Streikführung ermöglichte, insbesondere durch die Einrichtung der so genannten Streikdelegiertenkonferenz auf Bundesebene. Dies war einerseits – aus Sicht der Ver.di-Bürokratie – als Mittel für mehr Einbeziehung geeignet, um mehr Kolleg*innen in der Gewerkschaft zu organisieren. Insoweit es aber dann als Mittel von streikenden Kolleg*innen verstanden wurde, demokratisch darüber zu entscheiden, ob ein Angebot als ausreichend anzusehen ist und ob beziehungsweise wie der Streik weiter geführt werden sollte, ging das aus Sicht der Bürokratie zu weit. Der damalige ver.di-Vorsitzende Bsirske rief ohne Einbeziehung dieser Konferenz die Schlichtung an, was zu großem Unmut führte und in der Folge zu einer Ablehnung des Ergebnisses. Die Bürokratie schloss daraus, die Streikdelegiertenkonferenz wieder abzuschaffen.

An ihre Stelle rücken die Tarifbotschafter*innenkonferenzen, die aber nicht vergleichbar sind. Sie werden als reine Top-Down-Veranstaltungen im digitalen Format durchgeführt, bei denen es keine wirkliche Diskussion gibt und selbst die Fragen im Chat moderiert werden. Die Rolle der Tarifbotschafter*innen ist allein die Weitergabe von Informationen an die Kolleg*innen im Betrieb. Diese Struktur wurde mittlerweile in vielen Tarifauseinandersetzungen eingeführt und es besteht die Gefahr, dass sie teilweise als Ersatz für Vertrauensleutestrukturen fungieren, die in vielen Betrieben in den letzten Jahrzehnten ausgedünnt wurden.

Die diesjährige Fortsetzung der Tarifrunde im S&E Bereich wurde von Anfang an von Seiten der ver.di-Bürokratie nicht mit der Perspektive eines erneuten Erzwingungsstreiks geführt. Die halbherzige Herangehensweise der Führung spiegelte sich in vergleichsweise geringeren Mobilisierungen wider. Dazu kam, dass für die meisten Kolleg*innen das Kernproblem der Überlastung und zu großen Betreuungschlüsseln schon bei den Forderungen nicht angegangen wurde. Zudem wurde keine systematische Solidaritätskampagne aufgebaut, um einen möglichen Streik durch die Unterstützung von Eltern und durch die Gewerkschaften zu stärken. Bei der Mitgliederbefragung stimmten nur knapp mehr als die Hälfte derjenigen, die ihre Stimme abgaben, für das Ergebnis. Das zeigt, wie groß der Unmut und die Kampfbereitschaft bei Kolleg*innen ist. Diese Stimmung wird sich auf die Tarifrunde öffentlicher Dienst auswirken, wo die kommunalen Beschäftigten im Bereich Sozial- und Erziehungsdienst wieder beteiligt sind.

Krankenhausbewegung

Seit dem Streik an der Charité für einen Tarifvertrag Entlastung hat es immer wieder neue Tarifkämpfe in verschiedenen Kliniken für solche Tarifverträge gegeben, und es geht weiter. Bei den erzielten Tarifverträgen wurden jeweils Schlüsse gezogen, wie sie zu verbessern sind. Doch auch die Geschäftsführungen findet immer wieder neue Mittel, um erhöhte Kosten für eine Personalaufstockung zu umgehen.

Diese Kämpfe um Entlastung haben in den betreffenden Kliniken zu enormer Streikerfahrung und dem Entstehen einer neuen Schicht von Aktiven geführt, wobei einige von ihnen sich nach dem Streik wieder zurück zogen. Es wurde deutlich, dass es möglich ist, im Krankenhaus effektive Streiks durchzuführen. Gleichzeitig sollten wir das Erreichte nicht, wie einige Teile im Gewerkschaftsapparat, nahezu kritiklos abfeiern, ohne die Probleme zu benennen und daraus wichtige Lehren für nächste Kämpfe zu ziehen. Auch die Berliner Krankenhausbewegung war enorm beeindruckend, besonders der Anteil an Kolleg*innen, die eine Rolle gespielt haben, den Streik zu organisieren, indem sie ihre Stationen zum Streik mobilisierten, als Teamdelegierte, die ihre Teams informierten und die Verhandlungen begleiteten, Reden auf Streikdemonstrationen hielten, Pressearbeit leisteten – und dann noch in Notdiensten einsprangen. Das alles über sechs Wochen. Es war ein großer Fortschritt, dass Charité und Vivantes sowie Vivantes Töchter zeitgleich in den Arbeitskampf gingen, was über Jahre von Aktivist*innen gefordert worden war. Zudem ist es gelungen, innerhalb der Kampagne und auch während des Streiks insgesamt etwa 2500 neue Mitglieder für ver.di zu gewinnen. Allerdings ist der Arbeitskampf besonders am Schluss nicht optimal gelaufen.

Im Ergebnis wurden die Tarifverträge Entlastung von ver.di und auch Kolleg*innen als großer Erfolg bilanziert. Trotzdem ist auch hier kritisch zu sehen, dass eine Öffnungsklausel beim TVE Vivantes dazu führte, dass die Geschäftsleitung zunächst damit durchkam, das System der Belastungspunkte nicht umzusetzen. Die Umsetzung sollte statt im März dann erst im Juli erfolgen, was für viele Kolleg*innen frustrierend war. An der Charité hat bislang die Umsetzung des im Tarifvertrag festgeschriebenen Belastungssystems noch nicht zu Personalaufbau geführt und eine weitere genauere Untersuchung der Wirkung des TVE ist nötig, um entsprechend Lehren für die Tarifbewegung zu ziehen. Eine entscheidende Schwäche war, dass es keine ausreichende Diskussion und Vorbereitung auf die Situation gab, die zwangsläufig eintrat: Dass ein Teil der Berliner Krankenhausbewegung zu einem Tarifabschluss kommt, während andere noch kein Ergebnis haben. Wie zu erwarten, blieben am Ende die Beschäftigten der Tochtergesellschaften bei Vivantes übrig. Es wurde letztlich keine Angleichung an den TVÖD erreicht, auch wenn eine stufenweise Anpassung vereinbart wurde. Trotzdem hat unterm Strich die Berliner Krankenhausbewegung eine positive Wirkung auf das Bewusstsein bei vielen Kolleg*innen und auch auf andere gehabt, dass es möglich ist, zu kämpfen und tausende Kolleg*innen haben konkrete Erfahrungen im Streik gesammelt.

Wir haben zur Berliner Krankenhaus-Bewegung mehrere Artikel geschrieben, und sowohl Vorschläge für die Bewegung als auch eine kritische Bilanz mit wichtigen Lehren für zukünftige Kämpfe gezogen. Wir haben unter anderem deutlich gemacht, dass die Durchführung von täglichen Streikversammlungen nötig wäre, um den Kolleg*innen die volle demokratische Kontrolle über den Arbeitskampf zu übertragen. Zudem haben wir zentrale Fragen zur Strategie aufgeworfen, nämlich wie einer Aufspaltung der Bewegung und Taktiken der Geschäftsführung entgegen gewirkt werden kann, den Streik auszusitzen. Leider hatte die Arbeitskampfleitung keine ausreichende Antwort auf diese Fragen.

Solidaritätsstreiks für die Töchterbeschäftigten von den Kolleg*innen in der Pflege nach Abschluss des TVE wurden eigentlich diskutiert, sind aber nicht durchgeführt worden. Wir haben außerdem zu einem früheren Zeitpunkt im Streik die Notwendigkeit von täglichen Streikversammlungen und demokratischen Entscheidungen der Streikenden über Abbruch oder Weiterführen des Arbeitskampfes eingebracht, wie es noch bei der Charité und CFM durchgesetzt worden war. Zudem hatten wir die Idee einer DGB-weiten Solidaritätskampagne bis hin zu Soli-Streiks in die Diskussion gebracht. Für diese Idee gab es unter Kolleg*innen enormen Zuspruch, weshalb dafür sehr schnell viele Unterschriften zusammen kamen und sich auch spontan ein Kreis von Kolleg*innen bildete, mit dem wir in Diskussion standen.

In der Krankenhausbewegung in NRW (an der wir allerdings nicht so nah dran waren) wurde – gegen Teile der ver.di Führung – durchgesetzt, dass die angestrebten Entlastungstarifverträge in den sechs Uniklinka nicht nur für Pflegepersonal, sondern auch alle Funktionsbereiche gelten. Das zeigt, wie auch da der Druck von unten wirkt. Gleichzeitig wurden Mängel aus der Berliner Krankenhausbewegung nicht aufgearbeitet und die Blockadehaltung von Seiten der Geschäftsleitungen, unterbrochen von Verhandlungen und Zusagen, die aber nicht umgesetzt werden, zehrten an den Kräften der Streikenden, ohne dass die Gewerkschaftsführung eine adäquate Antwort geben würde. Auch hier wäre eine systematische Solidaritätskampagne durch ver.di und den DGB in ganz NRW vonnöten gewesen. Im Ergebnis wurde zwar ein erster Flächentarifvertrag auf Landesebene zu Entlastung durchgesetzt und in diesem wurden auch einige Verbesserungen für Beschäftigte in Funktionsbereichen ausgehandelt. Diese Regelungen sind aber insgesamt schlechter als für Pflegekräfte. Outgesourcte Bereiche werden außen vor gelassen. Es gibt auch einige Fallstricke, die unterm Strich schlechtere Regelungen bedeuten als in Berlin. Besonders ist hier zu nennen, dass die Klinikleitungen erst ab 2024 verpflichtet werden, die Erfassung der Belastungspunkte durchzuführen. Bis dahin soll es nur pauschale Entlastungstage geben. Zudem soll Belastung teilweise in Form von Zulagen anstatt in freier Zeit ausgeglichen werden. Die Streikversammlung in Düsseldorf stimmte gegen die Eckpunkte für den Tarifvertrag. Insgesamt wurde das Ergebnis angenommen und wird von einem großen Teil von Aktiven trotz Kompromissen berechtigt als Erfolg ihres langen Arbeitskampfes gesehen.

Wir sagen, dass die Kämpfe für Tarifverträge für Entlastung, um für eine spürbare und wirkliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Patientenversorgung zu kommen, Ausgangspunkt für eine größere, gesellschaftspolitische Bewegung sein sollten. Wir schlagen deshalb vor, dass ein bundesweiter Kampf für Entlastung auf die Tagesordnung gesetzt werden muss – auf der Grundlage einer Mobilisierung der gesamten Gewerkschaftsbewegung, und der Verbindung mit politischen Forderungen nach massivem Ausbau des Gesundheitswesens nach Bedarf, Abschaffung des Fallpauschalensystems und Rekommunalisierung der Krankenhäuser.

Zudem ist es wichtig, das Zusammenführen von Arbeitskämpfen und Streiks hin zu machtvollen gemeinsamen Bewegungen zum Thema zu machen. Diese Perspektive müssen wir immer wieder in verschiedenen Kämpfen aufzeigen, auch wenn die Umsetzung angesichts mangelnder Erfahrungen aus den letzten Jahrzehnten und dem als träge empfundenen DGB-Apparats und wegen des Ausbleibens solcher Mobilisierungen über Jahrzehnte aktuell weit weg erscheint. Dennoch trifft die Idee auf ein Grundverständnis von Solidarität innerhalb der Arbeiter*innenklasse. Wenn sie einmal in konkretes Handeln umgesetzt würde, kann das enorme Auswirkungen auf weitere Arbeitskämpfe haben. Auch, wenn es noch eine Weile dauern kann, werden solche Entwicklungen in den nächsten Jahren wichtig.

Organizing

Bei der Berliner Krankenhausbewegung spielten die Organizer*innen eine zentrale Rolle . Dabei wurde deutlich, warum sie einerseits einen großen Zuspruch bei vielen betrieblich Aktiven bekommen, und wo andererseits große Schwächen sind (und auch bei einigen Aktiven auf Kritik oder Ablehnung stoßen). Zum einen haben sie einen realen Effekt, weil sie kompensieren, wo die trägen Gewerkschaftsapparate, in denen viel zu geringe Kapazitäten für den Aufbau von gewerkschaftlichen Strukturen in den Betrieben bereit gestellt werden, versagen: der Erschließung von Betrieben, Gewinnung von Mitgliedern und Aufbau von Strukturen. Vor diesem Hintergrund ist es klar, dass der Einsatz von Organizer*innen einen bedeutenden Effekt hat. Auch das Konzept, zu Beginn mit einer Petition in den Betrieb zu gehen, und damit erst einmal mit Kolleg*innen ins Gespräch zu kommen, ob sie die Forderungen richtig finden, unterschreiben, und auch bereit wären, dafür zu kämpfen, kann sinnvoll sein. Genauso gehört es natürlich zu den elementaren Grundkonzepten, ein Mapping im Betrieb bzw. Unternehmen zu erstellen, um systematisch zu erfassen, wo es Gewerkschaftsmitglieder gibt und wie man dort weiter aufbauen kann.

Dennoch ist das derzeitige Organizing-Konzept von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu kritisieren, die hier nicht alle ausgeführt werden können. Ein Hauptproblem besteht darin, dass damit die Aufgabe, die eigentlich die Gewerkschaften selbst ausüben sollten, und in denen die Kolleg*innen innerhalb des Betriebs die Führung übernehmen sollten, durch von außen kommende Organizer*innen umgesetzt werden sollen. Was das in der Praxis heißt, zeigte sich als die Organize*innen mitten im Streik der Berliner Krankenhausbewegung abgezogen wurden, weil sie bereits für ein anderes Projekt gebucht waren. Das passierte ausgerechnet in einer Phase des Arbeitskampfes, in dem es gerade schwierig wurde, die Reihen zusammenzuhalten. Die Organizer*innen haben auch nicht ausreichend die Kolleg*innen befähigt, die Organisation des Streiks in die eigenen Hände zu nehmen. Stattdessen haben auch viele der Organizer*innen ein Top-Down-Prinzip praktiziert und viele langjährige gewerkschaftlich Aktive klagten über Bevormundung. Zudem verkörpert das Organizing Konzept von Jane McAlevey im Kern einen reformistischen Ansatz. Zwar verkündet sie, es müsse mehr auf Streiks und Kämpfe orientiert werden. Aber sie verbindet diese nicht mit der Perspektive einer Systemveränderung, sondern verharrt auf der Organisierung von Gegenmacht durch Streiks, ohne dabei die Ausrichtung von Sozialpartnerschaft auch politisch anzugreifen. Insofern konnte man auch in der Berliner Krankenhausbewegung einerseits bedeutende fortschrittliche Elemente sehen, wie die Beteiligung von viel mehr Kolleg*innen in den Streikaktivitäten und andererseits konnten diese Ansätze sich nicht voll entfalten.

Wir fordern, dass die Aufgabe von Mitgliedergewinnung und Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen in Betrieben prioritäre und ureigene Aufgabe der Gewerkschaften sein muss. Wir fordern für alle Funktionär*innen – ehrenamtliche wie auch hauptamtliche – Wähl- und Abwählbarkeit, Rechenschaftspflicht, keine Privilegien und einen durchschnittlichen Facharbeiter*innenlohn. Gleichzeitig erklären wir, dass ein gewerkschaftspolitischer Kurswechsel hin zu kämpferischer Gewerkschaftspolitik und weg von Sozialpartnerschaft, Co-Management und Standortpolitik nötig ist, um neues Vertrauen in die Gewerkschaften aufzubauen, und somit in großer Zahl neue Mitglieder zu gewinnen, zu halten und auch neue Aktivenstrukturen in den Betrieben aufzubauen und zu festigen.

Rezession

Eine wirtschaftliche Rezession würde weitere sehr große Veränderungen für die Arbeiter*innenklasse bedeuten. Der Verlust des Arbeitsplatzes und damit der Existenzgrundlage würde sich für einen Teil der Arbeiter*innenklasse stellen. Das könnte zunächst auch eine Schockwirkung haben. Das wäre insbesondere dann der Fall, wenn zu wenige Erfahrungen in Kämpfen wie aktuell um Lohnsteigerungen oder gegen Entlastung gesammelt werden. Auch eine weitere Verschärfung des Krieges mit Auswirkungen auf Deutschland könnte zu einem vorübergehenden Rückgang an Arbeitskämpfen führen. Doch früher oder später werden die materiellen Einschnitte und Verschlechterungen für die Arbeiter*innenklasse – wie auch in anderen Ländern – auch dann zu Abwehrkämpfen führen. Zudem können die Folgen einer Rezession schnelle Bewusstseinsprozesse auslösen und die Eigentumsfrage auf die Tagesordnung setzen. Es würde noch stärker die Krisenhaftigkeit und Perspektivlosigkeit des Systems zutage treten lassen. Einzelne Kämpfe zur Verteidigung von Arbeitsplätzen können radikalere Formen annehmen, bis hin zu Betriebsbesetzungen. Hier könnte es ausgehend von lokalen Kämpfen auch zu Solidaritätsbewegungen kommen, die eine Politisierung nach sich ziehen.

Es ist dabei auch zu erwarten, dass sich rechte Kräfte (Zentrum Automobil, Zentrum Gesundheit und Soziales, AfD) versuchen werden, in solche Kämpfe einzumischen und sie mit nationalistischer Propaganda zu vergiften. Hier können rechte Kräfte absurderweise an einer nationalen Standortlogik anknüpfen, die jahrzehntelang von den Gewerkschaftsführungen selbst vertreten wurde, und eine internationalistische Perspektive sowie die Aussicht eines gewerkschaftlichen Kampfes zum Erhalt von Arbeitsplätzen anstatt sozialverträglicher Abwicklung aus dem Erfahrungshorizont der meisten Kolleg*innen verschwunden ist.

Zustand der Gewerkschaften

Wie wir schon diskutiert haben, sehen wir nicht allein eine Krise der Führung der Arbeiter*inennbewegung, sondern auch ihrer Organisationen. Für die Gewerkschaften bedeutet das ausgedünnte Strukturen von Aktiven und Vertrauensleuten in den Betrieben. Wo es welche gibt, überschneiden sie sich personell in vielen Fällen mit Betriebsräten, und bewegen sich oft auf Linie der Sozialpartnerschaft. Entwicklungen von neuen und jüngeren Aktiven gibt es teilweise in Krankenhäusern, und beispielsweise in Betrieben, in denen es bisher keine gewerkschaftliche Vertretung oder Tarifverträge gab. Trotzdem wird es insgesamt – wenn auch mit Unterbrechungen und nicht geradlinig – eine Tendenz hin zu mehr Gegenwehr und gewerkschaftlicher Organisierung geben. Wie wir auch in der internationalen Resolution festgestellt haben, kann es – in Reaktion auf Blockaden durch die Gewerkschaftsbürokratie – auch Kämpfe an den DGB-Gewerkschaften vorbei geben, neue Ansätze für Organisierung und für neue Gewerkschaften geben.

Es gab insgesamt nur wenige Kämpfe in großen Betrieben oder Branchen in den letzten Jahrzehnten – meist nur Tarifrunden mit Warnstreiks und ohne Urabstimmung für Vollstreiks. Einer der wichtigsten Arbeitskämpfe in den 2000er Jahren war der Streik der Lokführer*innen unter Führung der GDL. Wo es doch welche gab, endeten einige mehr oder weniger in einer Niederlage (wie zum Beispiel der Kampf bei der Telekom 2007 gegen Zerschlagung , oder auch der Ostmetallerstreik für die 35-Stundenwoche in Ostdeutschland), andere endeten in schlechten Kompromissen (der vierwöchige Streik im Sozial und Erziehungsdienst 2015, der von oben abgebrochen wurde). Es gab aber auch andere Auseinandersetzungen, in denen Fortschritte in der Organisierung gemacht und Teilerfolge erkämpft wurden, nicht nur in Krankenhäusern, sondern auch im Einzelhandel, bei Amazon, und einer Reihe von kleineren Betrieben, wo der tariflose Zustand beendet werden konnte. Insgesamt arbeiten nur noch 43 Prozent aller Beschäftigten in Betrieben mit einem Flächentarifvertrag. In Ostdeutschland sind es nur 32 Prozent. In vielen Betrieben gibt es weder Tarifbindung noch Betriebsräte. Der Streikforscher Stefan Schmalz weist darauf hin, dass in den letzten Jahren gerade deshalb Arbeitskämpfe in Ostdeutschland zugenommen haben. Laut der Erfassung des von ihm mitgeleiteten „Streikmonitors“ fanden in den Jahren 2016 bis 2020 ein Viertel von Arbeitskonflikten, meist für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten sowie bessere Arbeitsbedingungen, in Ostdeutschland statt, obwohl hier nur 13 Prozent der Erwerbstätigen leben. (ND Interview mit Stefan Schmalz, 28.03.22) Im Vergleich war das Ausmaß gewerkschaftlicher Kämpfe in der Vergangenheit natürlich ungleich größer, unter anderem mit den großen Streikbewegungen der 1970iger und 80iger Jahren – allen voran dem 7-wöchigen Kampf um die 35-Stunden-Woche 1984 in der Metallindustrie – oder auch dem Arbeitskampf in Duisburg-Rheinhausen gegen die Schließung des Stahlwerks, oder auch der letzte große Streik im öffentlichen Dienst 1992, der aber ausverkauft wurde.

Wichtige Kämpfe stehen aber vor dem Hintergrund der enormen Zuspitzung der Widersprüche des Kapitalismus und der Folgen für die gesamte Arbeiter*innenklasse, in der jetzigen Periode, in die wir eingetreten sind, früher oder später auf der Tagesordnung. Wir sehen, wie aktuell in anderen Ländern Europas neue Kämpfe entstehen, auf die die Herrschenden mit großer Nervosität reagieren, und zum Beispiel in Großbritannien angesichts des RMT-Streiks Vergleiche mit den Streiks der 70iger und 80iger Jahre ziehen. Einzelne Kämpfe und Streiks können wie ein Funke wirken und Kolleg*innen in anderen Bereichen ermutigen, selbst in den Kampf zu treten. Mit entsprechender Dynamik kann das enormen Druck auf die Gewerkschaftsführungen ausüben, auch auf diejenigen die seit Jahrzehnten Co-Management betrieben haben.

Dabei werden wir damit konfrontiert sein, dass viele Erfahrungen wieder neu gemacht werden müssen. Gleichzeitig werden wir als bewusster Teil der Arbeiter*innenbewegung eine wichtige Rolle spielen können, um richtige Schlüsse zu ziehen, und Vorschläge in die Bewegung reinzutragen.

Linke in den Gewerkschaften

Die Anpassung und ideologische Kapitulation von großen Teilen der Linken kann man auch in den DGB-Gewerkschaften nachvollziehen. Schon seit Jahren gibt es zunehmend die Haltung von einigen, dass man als Linke vor allem die Aufgabe hat, im Betrieb selbst Gewerkschaften aufzubauen – da auch durchaus „bewegungsorientiert“, aber dass es falsch wäre, zu versuchen, einen innergewerkschaftlichen Kampf für eine organisierte Opposition für die Durchsetzung einer kämpferischen Politik zu führen. Diese Position wurde in den letzten Jahren mehrheitlich von Akteur*innen auf den Konferenzen der Rosa-Luxemburg vertreten, wie auch von Teilen der OKG („Organisieren, Kämpfen, Gewinnen“).

Gemeinsam mit anderen linken Kräften in den Gewerkschaften haben wir deshalb 2019 die Initiative zur „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ ergriffen, um die Aufgabe des Aufbaus einer gewerkschaftspolitischen Alternative zur Politik der Sozialpartnerschaft und des Co-Managements aufzuzeigen und dazu die Kräfte zusammenzubringen. Wir haben immer gesagt, dass beides in Kombination nötig ist. Auch unsere Genoss*innen leisten, soweit möglich, betriebliche Aufbauarbeit. Ein Beispiel hat ein Genosse in Kassel im letzten Jahr gegeben, der nicht nur eine zentrale Rolle beim Aufbau einer ver.di-Betriebsgruppe in seinem Betrieb gespielt hat, sondern auf dieser Grundlage auch mit dieser Betriebsgruppe einen Tarifvertrag durchgesetzt hat. Andere Genoss*innen haben durch alltägliche Arbeit an einigen Punkten bereits einen Unterschied auf betrieblicher Ebene erzielt, sich Vertrauen und Respekt erarbeitet und teilweise auch kleine Kerne von Aktiven für eine kämpferische Ausrichtung um sich herum. Die alltäglichen Kleinkriege sind notwendige Vorarbeiten für zukünftige Kämpfe und Möglichkeiten.

Weitere Aussichten

Die Arbeiter*innenklasse tritt international in eine neue Periode von Klassenkämpfen ein, auch wenn es nicht klar ist, wann sich Kämpfe auf betrieblicher und gewerkschaftlicher Ebene zuspitzen. Dabei werden Angriffe an verschiedenen Punkten stattfinden. Schon lange wird darüber diskutiert, dass Einschnitte bei den Renten und/oder Verlängerung der Lebensarbeitszeit nötig seien. Im Juni startete der BDI eine Debatte über eine Verlängerung der Arbeitszeit. Zudem wird immer wieder der Wunsch nach Einschränkung des Streikrechts geäußert. Es ist klar, dass die Kapitalseite sich perspektivisch auf einen Klassenkampf von oben vorbereitet.

Gleichzeitig versucht die Bundesregierung aktuell mithilfe einer „konzertierten Aktion“ die Gewerkschaftsbürokratie einmal mehr einzubinden, um die aus ihrer Sicht notwendigen Angriffe auf diese Weise durchzusetzen. Wie genau sich dieser Prozess entwickelt, bleibt abzuwarten. Allerdings ist aus den Erfahrungen mit runden Tischen und konzertierten Aktionen in der Geschichte ersichtlich, dass es für einen gewissen Zeitraum eine Einbindung der Gewerkschaftsbürokratie gibt, um Bewegungen von unten zu verhindern. Selbst ver.di zieht aus der konzertierten Aktion von 1967 auf ihrer Webseite eine kritische Bilanz: „Für die Gewerkschaften hingegen ging die Aktion nicht auf. Es gab zwar weder für Kapitalseite noch für Gewerkschaften bindende Vorgaben, dennoch hielten sich letztere in den Lohnrunden deutlich zurück. In der Folge sanken die Realeinkommen der Beschäftigten, die Wut der Gewerkschaftsmitglieder hingegen wuchs, vor allem deshalb, weil einige Konzerne trotz Wirtschaftskrise beachtliche Gewinne einfuhren. Letzteres ließ sich im Übrigen erneut auch in den zurückliegenden Corona-Jahren beobachten. Ende der 60er Jahre und in den 70er Jahren führte die Gemengelage schließlich in einigen Bereichen zu wilden Streiks.“

Doch in Anbetracht der Schwere der aus Sicht des Kapitals notwendigen Kürzungen und Einschnitte wächst gleichzeitig der Druck von unten.

Mit der Verschuldung für bereits getätigte und kommende Rettungspakete, Aufrüstung und Investitionen für Industrien, und gleichzeitig dem Ziel das Aussetzen der Schuldenbremse zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beenden, drohen weitere massive Einschnitte im öffentlichen Dienst. Diese Einsparungen finden vor dem Hintergrund einer ohnehin ausgedünnten Daseinsvorsorge statt. Das kann viele Auswirkungen haben: harte Lohntarifrunden, Angriffe auf die Arbeitszeiten, weiterer Stellenabbau und Verdichtung der Arbeit, keinerlei Entlastung in Krankenhäusern, Kitas, Schulen, Pflegeheimen, im öffentlichen Personennahverkehr und vielen anderen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge durch eigentlich dringend notwendige und längst überfällige Personalaufstockung. In vielen Bereichen wird sich durch einen hohen Altersdurchschnitt und Flucht aus den Berufen aufgrund der enormen Belastung die Situation nochmals verschärfen. Mit dem Eintreten in eine Rezession kann es außerdem je nach Tiefe Massenentlassungen und Betriebsschließungen in der Industrie geben.

Es werden sich also eine Unmenge von Herausforderungen stellen, auf die momentan programmatisch und organisatorisch von den Führungen der Gewerkschaften keine oder völlig unzureichende Antworten gegeben werden. Die Notwendigkeit, gemeinsam zu kämpfen, wird immer mehr ins Bewusstsein gelangen und kann – wie aktuell in Großbritannien – auch von reformistischen Gewerkschaftsführungen aufgegriffen werden. Das bedeutet nicht, dass Kämpfe dann konsequent zu Ende geführt werden.

Auf der Grundlage der Übergangsmethode, werden wir für die verschiedenen Angriffe und Kämpfe ein Programm vorschlagen, mit Kolleg*innen diskutieren und entsprechend anpassen. Forderungen aus dem Übergangsprogramm von 1938 sind auch in dieser Periode hochaktuell, wie die gleitende Lohnskala, die Offenlegung der Geschäftsbücher, die allgemeine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn und Verteilung der Arbeit auf alle. Die Forderung nach Enteignung unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung wird mit zunehmender Krise in verschiedenen Bereichen einfacher zu erklären, auch wenn Verstaatlichung durch den bürgerlichen Staat vermehrt auf die Agenda kommt. Daran anknüpfend können wir aufzeigen, dass es nur möglich ist, auf der Grundlage einer demokratisch geplanten Wirtschaft und des Gemeineigentums an Produktionsmitteln die Bedürfnisse der Masse der Bevölkerung zu erfüllen und die Umwelt zu retten.

Wir müssen einerseits damit rechnen, dass Kämpfe durch die Gewerkschaftsapparate weiterhin blockiert werden. Dennoch sollten wir vorbereitet sein, dass jederzeit an verschiedenen Stellen Kämpfe entstehen können – zunächst in einzelnen Branchen oder Betrieben. Aus der gesamten Situation ergibt sich, dass in den nächsten Jahren aus Sicht des Kapitals verallgemeinerte Angriffe notwendig werden und können daraus verallgemeinerte Bewegungen entstehen.

Diese Konferenz erkennt an, dass wir am Beginn einer „Zeitenwende“ stehen. Dies betrifft alle Bereiche der kapitalistischen Gesellschaft und den Klassenkampf. Auch wenn wir den genauen Verlauf und das Tempo der Ereignisse nicht vorhersehen können, müssen wir uns auf scharfe Wendungen und plötzliche Veränderungen einstellen und auf eine enorme Beschleunigung aller Krisenprozesse. Aus der in diesem Dokument und in den Dokumenten des CWI vorgenommenen Analyse und entwickelten Perspektiven müssen wir alle nötigen Schlussfolgerungen ziehen. Der Widerspruch zwischen der objektiven Reife der Bedingungen für eine sozialistische Revolution und der subjektiven Schwäche auf Seiten der Arbeiter*innenklasse und der revolutionären Kräfte ist heute größer denn je. Die ideologische Verwirrung in der Arbeiter*innenklasse und auf der Linken verzögert den revolutionären Prozess. Der Aufbau unserer marxistischen Organisation kann eine wichtige Rolle dabei spielen, ihn wiederum zu beschleunigen. Die Krise und Kämpfe, die vor uns liegen, bieten dazu ausreichend Gelegenheiten. Nutzen wir sie!

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