Kriegsfolgen und Krise bereiten Klassenkämpfe vor
Die Welt ist seit dem Krieg in der Ukraine eine andere. Wie zuvor das Corona-Virus – das es geschafft hatte, die Welt nicht nur herunterzufahren sondern auch tiefgreifende Veränderungen in den ökonomischen, politischen und sozialen Beziehungen zu beschleunigen – wirkt auch der vom russischen Regime begonnene Angriffskrieg als Beschleuniger von Krisen und Verschiebungen. Einige Entwicklungen sind zwar noch nicht völlig absehbar sind. Aber schon jetzt steht fest, dass sie in Deutschland große Ausmaße annehmen. Diese verstärken schon jetzt die politische Instabilität gewaltig.
von Tom Hoffmann, Sol-Bundesleitung
Der Ukraine-Krieg ist auch neun Wochen seit dem russischen Einmarsch in vollem Gange und ein nahes Ende des Krieges, der bereits zehntausendeTote und großflächige Zerstörung gefordert hat, ist nicht in Sicht. Einerseits scheint die russische Armee bisher noch nicht ihre volle militärische Stärke entfaltet zu haben, andererseits nimmt das Hochrüsten der ukrainischen Streitkräfte durch westliche Mächte immer neue Dimensionen an. Ohne weitere Verhandlungen und temporäre Waffenstillstände auszuschließen, muss man sich – wie wir bereits an anderer Stelle geschrieben haben– auf einen langgezogenen, blutigen Krieg einstellen.
Globale Folgen des Krieges
Die Folgen dieses Krieges für die Welt und ihre kapitalistische (Un-)Ordnung sind jetzt schon erheblich. Auch wenn die NATO-Staaten aus Sorge vor einer unkontrollierbaren Eskalation nicht mit eigenen Soldat*innen im Krieg intervenieren wollen, hat die Konfrontation mit dem G20-Land Russland eine neue Qualität in den innerimperialistischen Spannungen erreicht. Das hat auch auf andere internationale Beziehungen Auswirkungen, denn der aktuelle Konflikt des Westens mit Russlands findet im Schatten des Konflikts zwischen den USA und China statt. In der sich herausbildenden multipolaren Welt wird der Krieg in der Ukraine nicht der letzte gewesen sein und einige Mächte könnten nun eine Gelegenheit wittern, dass ihnen nicht so genau auf die Finger geschaut wird. In den letzten Tagen allein gab es durch den NATO-Staat Türkei schwere Bombardierungen und den Einsatz von Bodentruppen gegen kurdische Stellungen im Nordirak und einen Raketenangriff Israels nahe der syrischen Hauptstadt Damaskus.
Doch der Krieg hat auch tiefgreifende ökonomische Folgen für die Welt. Er verschärft Deglobalisierungstendenzen und treibt die Energiepreise weiter in die Höhe. Russland und die Ukraine sind zudem wichtige Exportländer für Lebensmittel wie Getreide oder Sonnenblumenprodukte. Laut Vereinten Nationen stiegen im März die Lebensmittelpreise global im Vergleich zum Vorjahresmonat um 34 Prozent. Diese Entwicklung kann in zahlreichen Ländern eine Hungerkrise auslösen oder verstärken und damit die ohnehin katastrophale soziale Lage von zig Millionen Menschen in der neokolonialen Welt weiter massiv verschlechtern. In vielen Ländern drohen Schuldenkrisen, wie aktuell in Sri Lanka, und weitere Konflikte bis hin zu Kriegen oder Aufständen.
Für die herrschende Klasse in Deutschland bringt der Krieg besondere Probleme und Herausforderungen mit sich. Die sogenannte „Zeitenwende“ eröffnet aber auch ein neues Kapitel: Die Herrschenden wollen entschlossener auf der internationalen Bühne auftreten.
Deutsche Wirtschaft hart getroffen
Die deutsche Wirtschaft ist nicht nur grundsätzlich extrem abhängig von Exporten und damit anfälliger für internationale Krisen und Einbrüche im Welthandel. Die Probleme der Industrie, welche schon vor Kriegsausbruch durch instabile Lieferketten und teilweisem Vorproduktemangel in Schwierigkeiten war, haben sich durch den Krieg verschärft. Immer wieder gab es Kurzarbeit und Produktionsstopps, zum Beispiel in der Stahlindustrie oder bei Autobauern.Die fallenden Lebensstandards durch die Inflation werden gleichzeitig die Nachfrage sowohl in Deutschland als auch international drücken.
Die ökonomische Entwicklung war schon vor dem Krieg instabil. Wie mittlerweile alle wissen, speisen sich zudem die deutschen Energieimporte zu sehr großen Teilen aus russischen Quellen. Die seit letztem Jahr steigenden Preise für Energie sind seit Kriegsbeginn explodiert, was allein schon dem deutschen Kapital Sorgen bereitet. Im Zuge der westlichen Sanktionen und der russischen Gegenmaßnahmen ist ein völliger Stopp der russischen Gaslieferungen nicht ausgeschlossen.
Möglicher Erdgas-Importstopp
Unter den deutschen Kapitalist*innen ist die Angst vor einem Komplett-Importstopp von russischem Erdgas groß. Insbesondere die Grundstoffindustrie, die Stahl- und Eisenindustrie, Glaserzeugung und Chemieindustrie wären von einem unmittelbaren Gasembargo massiv betroffen und müssten vermutlich die Produktion zu großen Teilen stilllegen. BASF-Chef Martin Brudermüller warnte in der FAZ in diesem Fall vor einer „Zerstörung der gesamten Volkswirtschaft“. Ein Liefer- oder Importstopp hätte weitreichende Folgen nicht nur für die betroffenen Bereiche, sondern auch bei den weiteren Gliedern der Wertschöpfungskette in anderen Industriebetrieben. Die Chemieindustrie allein verbraucht 15 Prozent des Gesamt-Erdgasverbrauchs. Allein in dieser Branche arbeiten 464.000 Beschäftigte plus eine halbe Million in der Zuliefererindustrie.
Doch es ist nicht so, dass die deutsche Wirtschaft vor dem Krieg kerngesund gewesen wäre. Entgegen der Prognosen der zahlreichen Expert*innen, dass nach dem massiven Einbruch im Corona-Jahr 2020 ein rasche Erholung (die V-Kurve) einsetzen würde, stagnierte das Bruttoinlandsprodukt. Schon Ende letzten Jahres schrumpfte die Wirtschaft wieder und gab es Warnungen vor einer sogenannten „technischen Rezession“ im ersten Quartal dieses Jahres. Im Gegensatz zu zwanzig anderen EU-Mitgliedsstaaten hat Deutschland das Vorkrisenniveau noch nicht erreicht.
Düstere Aussichten
Der Krieg in der Ukraine hat die ökonomischen Probleme unmittelbar verschärft. Alle Forschungsinstitute mussten ihre Wachstumsprognosen senken, teilweise um mehr als die Hälfte. Die sogenannten „Wirtschaftsweisen“ der Bundesregierung rechneten noch im letzten Jahr mit 4,6 Prozent Wachstum, jetzt gehen sie von 1,8 Prozent für 2022 aus. Das gewerkschaftsnahe IMK prognostizierte bei einem Importstopp von russischem Gas (und einer Deckung der Hälfte der entstehenden Lücke aus anderen Quellen) eine tiefe Rezession von minus sechs Prozent für dieses Jahr. Ob das eintritt und welche Entwicklungen bis Jahresende noch bevorstehen, ist im Moment alles andere als absehbar. Zumindest kurzfristig ist ein Einbruch im März und den Folgemonaten wahrscheinlich. Dass die deutsche Wirtschaft bis Jahresende de facto stagniert, scheint aktuell am oberen Ende der Erwartungen bürgerlicher Ökonom*innen zu liegen. Allerdings kann es von dort auch ein ganzes Stück bergab gehen. Nicht nur, aber insbesondere, der aktuelle Lockdown in zahlreichen chinesischen Städten ist ein Faktor, der das Krisenpotenzial für die von China zum Teil extrem abhängige deutsche Wirtschaft erhöht. Die Zunahme der imperialistischen Spannungen, auch mit China, stellt die deutschen Kapitalist*innen vor große Probleme – insbesondere in der Automobilindustrie. Noch machen Mercedes-Benz, BMW, Volkswagen und Co. Rekordgewinne – allein im vergangenen Jahr stieg der Ertrag pro Neuwagen um 61 Prozent. Wie lange der chinesische Markt diese Entwicklung stützt, ist allerdings offen.
Rekordinflation
Doch die trotz Krise weiter steigenden Profite haben auch eine andere Quelle. Denn die andere wirtschaftliche Entwicklung, die alle zu spüren bekommen, ist die Inflation. Im März lag die allgemeine Preissteigerung mit 7,3 Prozent laut Statistischem Bundesamt so hoch wie zuletzt 1981. Diese Entwicklung wird insbesondere von den Energiepreisen getragen. Krisenprofiteure sind u.a. die Mineralölkonzerne. Laut einer Studie von Greenpeace belaufen sich die zusätzlichen Roherlöse auf über drei Milliarden Euro seit Beginn des Ukraine-Kriegs – allein in Deutschland sind es 38,2 Millionen Euro pro Tag. Auf der anderen Seite frisst die Inflation die Löhne auf.Die Verbraucherpreise allein für Haushaltsenergie erhöhten sich im März um fast vierzig Prozent. Viele dürften diese und andere Erhöhungen allerdings nicht schrittweise sondern schlagartig zu spüren bekommen, wenn die Abrechnungen in den Briefkästen eintrudeln. Familien ohne Rücklagen werden in massive Probleme geraten.
Neues Krisenbewusstsein
Zusammen mit dem Krieg legen diese düsteren wirtschaftlichen Aussichten die Grundlage für eine tiefgreifende Veränderung im Bewusstsein breiter Teile der Bevölkerung. Der Ausbruch des Krieges, die geografische Nähe und das Eskalationspotenzial der beteiligten Atommächte – all das hat die überwiegende Mehrheit zunächst geschockt und die Angst vor dem Krieg in den Vordergrund gerückt. Doch ohne dass diese Ängste verschwinden, verallgemeinern sich die Zukunftsängste und beziehen sie die wirtschaftliche Entwicklung mit ein.
Nur noch jeder Fünfte ist laut einer Umfrage von Allensbach optimistisch gestimmt für die Zukunft, der schlechteste Wert seit 1949. Laut SPIEGEL-Umfrage befürchten vier von fünf eine Weltwirtschaftskrise und einen wirtschaftlichen Umbruch in Deutschland. Während im Corona-Krisenjahr 2020 nie mehr als dreißig Prozent der Bevölkerung mit einer Verschlechterung der eigenen wirtschaftlichen Lage in den nächsten Jahren rechneten, sind es nun 43 Prozent. Es gibt viele weitere Umfragen, die aufzeigen, dass die Inflation nicht mehr nur die Allerärmsten, sondern die breite Masse der Bevölkerung trifft. Die Einkommen werden ausgehöhlt und viele beginnen sich einzuschränken. In breiten Teilen der Bevölkerung macht sich die Erkenntnis breit, dass wir in wirtschaftlichen Krisenzeiten stecken und diese nicht schnell vorübergehen.
Das wird bedeuten, dass soziale und Verteilungsfragen in den nächsten Monaten zunehmend in die öffentliche Debatte geraten, wenngleich die Sorgen vor eine Ausbreitung des Ukraine-Kriegs oder beispielsweise dem Klimawandel nicht verschwinden werden. Für die (nicht mehr so) neue Ampel-Regierung entwickelt sich damit der nächste Problemherd. Schon in ihren ersten Monaten wurde ihr pompös formulierter Anspruch, eine neue Art der Politik zu etablieren, mit der Realität konfrontiert. Immer wieder brechen Differenzen innerhalb der Regierung hervor. Auch wenn es mit Kriegsausbruch kurzzeitig einen kleinen Zustimmungszuwachs gab, ist dieser bereits wieder verschwunden. Die politische Instabilität nimmt zu – nicht zuletzt angesichts der verschiedenen Debatten innerhalb der herrschenden Klasse. Laut Insa-Umfrage sind mittlerweile 55 Prozent unzufrieden mit der Regierung und 49 Prozent mit der Arbeit von Olaf Scholz.
Impfpflicht-Debakel
Dass hat auch damit zu tun, dass die Bilanz der Regierung schon jetzt massiv durch das Scheitern der allgemeinen Impfpflicht geschädigt wurde – das größtmögliche Desaster eines zentralen Projekts insbesondere für den Bundeskanzler und den Gesundheitsminister. Die Hoffnungen auf eine vorsichtigere Pandemiepolitik, die einige mit Karl Lauterbach verbunden hatten, dürften seit seiner angekündigten Rücknahme der Isolationspflicht von Corona-Infizierten ebenfalls verflogen sein – auch wenn er diese Ankündigung wegen des großen Unmuts darüber gleich wieder einkassieren musste. Dabei ist völlig klar, dass auch diese Regierung eine Pandemiepolitik betreibt, die nicht den Interessen der Arbeiter*innenklasse, sondern dem Weg der möglichst geringfügigsten Belastung der Banken und Konzerne folgt. Man darf nicht vergessen, dass gerade Karl Lauterbach an der Ökonomisierung des Gesundheitswesens als Berater der damaligen Ministerin Ulla Schmidt mitgearbeitet und das Fallpauschalensystem mitzuverantworten hat. Auch wenn der Krieg die Pandemie als Dauerthema in den Hintergrund gedrängt hat: In den letzten Wochen gab es Rekordinzidenzen und damit sehr hohe Krankenstände und Belastungen in Krankenhäusern und öffentlichen Einrichtungen. Teilweise starben über 300 Menschen pro Tag. Trotz über zwei Jahren Pandemie ist das Gesundheitswesen immer noch auf Profit getrimmt, wird nach Fallpauschalen abgerechnet und gibt es keine gesetzliche Personalbemessung nach Bedarf. Selbst wenn das Virus in den wärmeren Monaten nun nicht mehr so stark zirkulieren sollte, ist es wahrscheinlich, dass es mit neuen Varianten und der weiter niedrigen Impfquote in den älteren Jahrgängen ein Comeback im Herbst hinlegen wird. Umso wichtiger, dass Beschäftigte an den Uni-Klinika in Nordrhein-Westfalen und Dresden den Staffelstab der Berliner Krankenhausbewegung aufnehmen und für mehr Personal kämpfen wollen.
Historische Aufrüstung…
Die unmittelbare Reaktion der Bundesregierung auf den Krieg war aber die historische Entscheidung, eine qualitative Veränderung in den Ansprüchen und Möglichkeiten der deutschen Außenpolitik vorzunehmen. Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll für die Bundeswehr bereitgestellt werden und die jährlichen Ausgaben für den Rüstungsetat sollen auf das NATO-Ziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung angehoben werden. Durch eine Grundgesetzänderung soll es möglich werden, in größerem Umfang neue Schulden aufzunehmen – womit bewiesen wäre, dass die Regeln der Schuldenbremse auch wieder aufgehoben werden können, sofern die herrschende Klasse dies möchte. Diese massive Aufrüstung, die keinem einzigen Menschen in der Ukraine irgendein Leid ersparen wird, hat allein das Ziel aus der Bundeswehr die – wie Finanzminister Christian Lindner sagte – „schlagkräftigste Armee Europas“ zu machen und das militärische Gewicht der Bundesrepublik ihrem ökonomischen Gewicht anzupassen. Die Herrschenden nutzen den Krieg in der Ukraine, in dem der Westen zur Abwechslung mal nicht als eindeutiger Aggressor auftritt und er seine eigene Verantwortung für den seit Jahren in der Ukraine ausgetragenen, imperialistischen Konflikt besser verstecken kann, für eine Militarisierung der Außenpolitik. Erstmals soll eine „Nationale Sicherheitsstrategie“ ausgearbeitet werden, inklusive der Stärkung der europäischen Armeekapazitäten und Rüstungsindustrie. Die Herrschenden nutzen das verbreitete Solidaritätsgefühl in der Bevölkerung mit den Menschen in der Ukraine aus, um neue Standards bei Waffenexporten an pro-kapitalistische Kräfte auch in Krisengebieten zu etablieren und die Bundeswehr aufzurüsten.Eine ideologische Kampagne wird von großen Teilen der herrschenden Klasse vorangetrieben, welche vergangene „Fehler“ in der Russland- bzw. Ostpolitik deutscher (Ex-)Politiker*innen, insbesondere der SPD, in den Fokus rückt und kritisiert. In der Vergangenheit hatten wichtige Teile des deutschen Establishments auf Kooperation mit russischen Führern gesetzt, um die Interessen des deutschen Kapitalismus zu bedienen. Gerichtet ist diese Kampagne auch an die heutige SPD-Führung und Teile der Grünen, um Kritik an der massiven Aufrüstung zu unterdrücken. Gerhard Schröder, der sich als Putinvertrauter auch nach seiner Kanzlerschaft weiter bereichert hat, oder Manuela Schwesig, deren dubiose Verstrickungen rund um das Nord Stream 2-Projekt ihr noch zum Verhängnis werden können, geben dabei eine willkommene Zielscheibe ab.
Doch angesichts der Aufrüstung wäre es falsch von einer 180-Grad-Wende in der deutschen Außenpolitik zu sprechen – waren sich doch auch die letzten Bundesregierungen nicht zu schade, Waffen an autoritäre, kriegführende Regime wie das saudi-arabische zu liefern oder die Bundeswehr Jahr für Jahr mit mehr Geld auszustatten und in Kriege zur Wahrung „deutscher“ Interessen wie in Ex-Jugoslawien und Afghanistan zu schicken. Doch es ist damit zu rechnen, dass militärische Interventionen in Zukunft in einem größeren Maße zum Repertoire der Bundesregierung gehören und die Bundeswehr auch im Inland mehr Präsenz zeigen wird. Sollte das 2-Prozent-Ziel der NATO erfüllt werden, wäre der deutsche Militärhaushalt der drittgrößte der Welt. Diese wachsende Rolle des deutschen Imperialismus wird über einen gewissen Zeitraum auch die Differenzen in der Europäischen Union, sowie die Spannungen zwischen den Weltmächten vertiefen.
…im Hauruck-Verfahren
Doch selbst in der historischen „Zeitenwende“ der Ampel-Regierung kommen bereits tieferliegende Widersprüche und Instabilität zum Vorschein. Auch wenn man davon ausgehen kann, das eine „Zeitenwende“ in der Außenpolitik des deutschen Imperialismus von einigen politischen Figuren nicht nur seit langer Zeit herbei gewünscht sondern auch vorbereitet wurde, glich ihre Umsetzung einem Hauruck-Verfahren. Vor der Scholz-Rede im Bundestag war nur ein kleiner Personenkreis und nicht mal alle Regierungsmitglieder vom Umfang der Aufrüstung informiert. Scheinbar war es das Ziel schnell Fakten zu schaffen, hinter die nachher niemand mehr zurückfallen sollte und einigen Abgeordneten der Regierungsfraktionen war die Überraschung während Scholz‘ Rede deutlich anzusehen. Es herrscht aber Einigkeit über die massive Aufrüstung unter den etablierten, pro-kapitalistischen Parteien, die sich nur über die genaue Ausgestaltung noch nicht verständigen konnten. Die CDU, deren Stimmen bei einer Grundgesetzänderung entscheidend wären, verlangt, dass die Milliarden nur in die Bundeswehr und nicht auch in andere Bereiche, wie es die Grünen fordern, fließen sollen. Im neuen Finanzplan der Bundesregierung ist außerdem bisher über das Sondervermögen hinaus keine Steigerung der regelmäßigen Ausgaben der Bundeswehr geplant – anders als angekündigt. Auch wenn sicher alle Vertreter*innen der pro-kapitalistischen Parteien für mehr Aufrüstung sind, drückt sich auch auf diesem Feld die tieferliegende Instabilität aus.
Trostpflaster „Entlastungspaket“
Wenig überraschend ist, dass der Umfang des Aufrüstungspakets für die Bundeswehr ein Vielfaches des sogenannten „Entlastungspakets“ darstellt, welches die Regierung gegen die Auswirkungen der steigenden Preise beschlossen hat. 300 Euro brutto sollen Beschäftigte bekommen. Studierende oder Rentner*innen bekommen keine Extrazahlungen. Empfänger*innen von Grundsicherung bekommen zusätzlich 100 Euro – an den viel zu niedrigen Regelsätzen, die 2022 um geradezu hohnhafte drei Euro erhöht wurden, ändert das nichts. Gleichzeitig sollen zum Sommer die Steuern auf Sprit gesenkt werden. Doch wer kontrolliert, ob die Nachlässe nicht in die Taschen der Mineralölkonzerne wandern? Insgesamt werden diese Maßnahmen nicht annähernd ausreichen, um die steigenden Kosten aufzufangen. Das denken laut Umfrage auch zwei von drei Menschen hierzulande. Die Entscheidung, das Monatsticket im Öffentlichen Personennahverkehr für drei Monate auf neun Euro zu begrenzen, dürfte zwar bei vielen auf Zustimmung treffen. Doch warum nur drei Monate? Und ist es nicht absurd, dass sich kurze Zeit nach Verkündung selbst die Verkehrsminister*innen der Bundesländer für einen Nulltarif ausgesprochen haben, weil das die administrativen Kosten verringert? Dabei ist völlig klar, dass der ÖPNV als Alternative zum Individualverkehr nicht nur drei Monate sondern dauerhaft kostenlos sein sollte und massiv ausgebaut werden muss. Unter anderem dafür sollten die 100 Milliarden Euro des Bundeswehr-Sondervermögens im Sinne der Lohnabhängigen zum Beispiel eingesetzt werden.
Verzichtspropaganda
Schon jetzt sind die Maßnahmen aus dem „Entlastungspaket“ aber nur die Ergänzung zur massiven Verzichtspropaganda, die auf allen Kanälen die arbeitende Bevölkerung auf Einschnitte im Lebensstandard trimmen soll. Der neue CDU-Chef Friedrich Merz sagt, „wir haben den Höhepunkt unseres Wohlstands“ überschritten. Wen der CDU-Chef mit „wir“ meint, sollte klar sein, denn sicher hat der ehemalige BlackRock-Manager, der sich mit seinem geschätzten Vermögen von 12 Millionen Euro selbst zur „gehobenen Mittelschicht“ zählt, weniger seine eigenen Kontoauszüge im Blick. Auch aus den Reihen der Bundesregierung wird der Ton gesetzt, dass der Gürtel wieder enger geschnallt werden muss. Die bürgerlichen Ökonom*innen warnen insbesondere vor der sogenannten „Lohn-Preis-Spirale“ und rufen die Gewerkschaften zur Mäßigung ihrer Forderungen auf.
Dieser Propaganda dürfen Linke und Gewerkschaften nicht auf den Leim gehen. Es sind erstens nicht steigende Löhne, die für die Preissteigerungen verantwortlich sind. Die Ursachen liegen vor allem in der gestiegenen Nachfrage seit dem Corona-Einbruch und den damit einhergehenden steigenden Energiepreisen. Die Energie- und Mineralölkonzerne machen, wie gesagt, Extraprofite, genauso wie Spekulant*innen an der Börse. Die anderen Kapitalist*innen geben die gestiegenen Preise weiter, um die eigenen Profite zu schützen. Der Kapitalismus ist ein chaotisches System, in dem der einzige Zweck der Produktion im erwarteten Profit liegt, der in die Taschen einer kleinen Minderheit der Gesellschaft wandert. Es ist die Arbeiter*innenklasse, die letztlich mit ihrer Arbeitskraft den gesellschaftlichen Reichtum erschuftet. Nur weil die Elite an der Spitze ihre Gewinne erhalten will, macht das die Arbeiter*innenklasse nicht der weiteren Inflation schuldig, wenn sie höhere Löhne fordert. Im Gegenteil sind steigende Löhne über der Inflationsrate, also Reallohnerhöhungen, nötig, um die sinkenden Lebensstandards breiter Teile der Bevölkerung aufzuhalten.
Programm gegen Inflation
Der Kapitalismus ist auch in Deutschland nicht in der Lage, den Lebensstandard breiter Teile der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, geschweige denn ihn nachhaltig anzuheben. Nur eine sozialistische Demokratie, in der die großen Banken und Konzerne in öffentlichem Eigentum sind und demokratisch durch die arbeitende Bevölkerung kontrolliert und verwaltet werden, kann das auf Grundlage demokratischer Planung sicherstellen – und zwar im Einklang mit der Natur. Die Sol fordert in dieser Situation unter anderem:
- Höhere Löhne gegen steigende Preise: Kampf der Gewerkschaften um Nachschlagsforderungen bei laufenden Tarifverträgen! Kein neuer Abschluss länger als 12 Monate und ohne Reallohnsteigerung!
- Mindestlohn ohne Ausnahmen von 15 Euro pro Stunde! Soziale Mindestsicherung und Mindestrente von 900 Euro plus Warmmiete für jede*n Erwachsenen und 700 Euro pro Kind – ohne Bedürftigkeitsprüfung und Schikanen! Automatische Erhöhungen entsprechend der Durchschnittslöhne oder der Inflation (je nach dem, welche höher liegt)
- Automatische Steigerung aller Löhne und Renten an die allgemeine Preissteigerung!
- Einführung von Preisobergrenzen für Güter der Grundversorgung und staatliche Preiskontrollen!
- Öffnung der Geschäftsbücher u.a. der Mineralöl-, Energie, Lebensmittel- und Einzelhandelskonzerne gegenüber demokratisch gewählten Vertreter*innen von Beschäftigten, Gewerkschaften und Verbraucher*innen
- Überführung der großen Banken und Konzerne, begonnen mit der Energieindustrie, in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung!
Wir setzen uns in den Gewerkschaften, der Partei DIE LINKE und sozialen Bewegungen dafür ein, dass die kommenden Verteilungskämpfe mit solch einem Programm offensiv von links geführt und der arbeitenden Bevölkerung Angebote zur Selbstorganisation und Mobilisierung gemacht werden. Das ist alternativlos, denn der Klassenkampf wird so oder so von oben geführt und es spricht viel dafür, dass die Gangart härter wird.
Geflüchtete
Der Krieg ist in Deutschland, insbesondere in Berlin und anderen größeren Städten, durch die vielen Geflüchteten aus der Ukraine angekommen. Wie bereits 2015 war die erste Reaktion geprägt von großer Solidarität der arbeitenden Bevölkerung durch Sach- und Geldspenden. Viele Tausende nahmen Geflüchtete in ihre Wohnungen auf. Erneut war es die Hilfsbereitschaft von Freiwilligen an Bahnhöfen und Ankunftszentren, ohne die die staatlichen Behörden mit der Situation völlig überfordert gewesen wären. Offiziell sind über 350.000 Menschen bisher in Deutschland angekommen – es dürften aber deutlich mehr sein, da viele sich mit ihrem ukrainischen Pass nicht unmittelbar registrieren müssen und sich in der EU frei bewegen können. Das steht in schreiendem Widerspruch zum Umgang mit Geflüchteten aus Afghanistan, Syrien oder vom afrikanischen Kontinent, die an der EU-Außengrenze weiterhin von der Grenzschutzagentur Frontex zurückgewiesen werden und weitaus schwierigere Bedingungen vorfinden, wenn sie es nach Deutschland schaffen. Es gibt Berichte, dass aus anderen Ländern stammende Geflüchtete ihre Unterkunft für ukrainische Geflüchtete räumen mussten. Die rassistische Ungleichbehandlung ist vielen Menschen nicht entgangen.
Auch wenn einige Geflüchtete sicher hoffen, bald wieder in ihre Heimat zurückzukehren, ist nicht klar wie lange der Krieg anhält. Viele suchen nach Wohnungen, Schul- und Kitaplätzen und Jobs, während genau diese in vielen Städten wie Berlin schon vorher knappes Gut waren. Wenn nicht die nötigen Investitionen in bezahlbaren Wohnraum, Kita- und Schulplätze sowie ausreichend Personal im öffentlichen Dienst getätigt wird, kann nicht ausgeschlossen werden, dass in einigen Orten Spaltungen und Rassismus wieder zunehmen.
Polarisierung und Gefahr von Rechts
Die gesamte ökonomische und soziale Entwicklung deutet darauf hin, dass die politische Polarisierung in Deutschland weiter zunehmen und möglicherweise auch auf der Wahlebene wieder sichtbarer als in der Vergangenheit wird. Die Gefahr von rechts durch die AfD ist keineswegs gebannt (und Politiker*innen anderer pro-kapitalistischer Parteien können ebenso wieder auf einen offener rassistischen Kurs umschwenken, wenn sie sich davon Unterstützung versprechen). Nach dem Austritt von Jörg Meuthen ist die Partei zwar insgesamt geschwächt, aber der rechtsextreme „Flügel“ in der AfD gestärkt und die Partei weiterhin eine ernstzunehmende Kraft. Nicht verschwunden sind ebenfalls die Querdenker*innen und auch die im Schatten des Krieges fast zu Randnotizen gewordenen, wiederholten Razzien und Waffenfunde bei Nazi-Gruppen und rechtsextremen Mitgliedern der Bundeswehr müssen für Linke und die Arbeiter*innenbewegung weiter alarmierend sein. Die Stimmung gegenüber Geflüchteten oder (vermeintlichen) Migrant*innen kann sich wieder ändern. In Zeiten wachsender sozialer Konflikte wird das von den Herrschenden auch genutzt werden, um Sündenböcke für sinkende Lebensstandards ausfindig zu machen.
Vor diesem Hintergrund ist es die Aufgabe vor allem auch der Gewerkschaften, der Spaltung entgegenzutreten, indem sie erklären, dass genug Geld für die Aufnahme von Geflüchteten und die Verbesserung der Lebensbedingungen der gesamten Arbeiter*innenklasse vorhanden ist und den Kampf für eine höhere Besteuerung der Reichen und Konzerne aufnehmen.
Schuldenbremse und kommende Angriffe
Und früher oder später stehen Verteilungskämpfe an. Sei es die Aufrüstung, die Mogelpackung „Entlastungspaket“, die Wirtschaftshilfen für die Konzerne oder die Investitionen in die Energiewende: Sie alle werden aktuell durch neue Staatsschulden finanziert. Viele pro-kapitalistische Kommentator*innen sorgen sich davor, dass der Staat zu generös „mit der Gießkanne“ Geld verteilt, was er selbst nicht hat. Sie sorgen sich vor der Zukunft, denn die Verschuldung schiebt die entscheidende Frage vor sich her: Wer bezahlt die Rechnung? Finanzminister Christian Lindner ist fest gewillt, die Schuldenbremse ab 2023 wieder gelten zu lassen. Im neuen Finanzplan der Bundesregierung für den Haushalt 2023 ergibt sich ohne weitere Kredite aus der Differenz der veranschlagten Steuereinnahmen und geplanten Staatsausgaben ein Minus von 62,7 Milliarden Euro. Kürzungen bei wichtigen sozialen Ausgaben des Staates und Angriffe auf Lebensstandards und Rechte der Arbeiter*innenklasse stehen dann bevor. Diese können auf verschiedenen Ebenen umgesetzt werden. So kündigte der Gesundheitsminister bereits steigende Krankenkassenbeiträge an. Das Hin und Her bei den Kürzungen im Berliner Bildungswesen, die aktuell der rot-grün-rote Senat in Berlin diskutiert, sind ebenfalls ein Vorgeschmack auf Einschnitte bei kommunalen und Landeshaushalten. Dagegen braucht es den Widerstand, insbesondere von Gewerkschaftsseite.
Es ist gleichzeitig nicht in Stein gemeißelt, dass die Schuldenbremse ab 2023 wieder vollumfänglich umgesetzt wird und auch unter kapitalistischen Strateg*innen dürfte darüber diskutiert werden. Sondervermögen sind eine Möglichkeit, sie auch in Zukunft zu umgehen. Deutschland hat wegen seiner ökonomischen Stärke viel mehr Möglichkeiten als andere, auch europäische Länder, um schuldenfinanziert weiter zu wirtschaften (wenngleich ein solcher Kurs mit jenen Ländern der EU zu weiteren Spannungen führen dürfte, die Deutschland gleichzeitig zu ausgeglichenen Haushalten ermahnt). Doch unabhängig der genauen Form stehen die Zeichen im nächsten Jahr auf mehr Angriffe auf die Lohnabhängigen. Eine doppelte Strategie des Kapitals scheint wahrscheinlich: Einerseits eine Form des Krisenkeynesianismus mit staatlichen Investitionen und möglicherweise weitreichenden Maßnahmen, inklusive Eingriffen in Rechte des Privateigentums, wo es den Interessen des Kapitalismus entspricht – wie aktuell die staatliche Kontrolle über die Gazprom-TochterGermania. Gleichzeitig andererseits neoliberale Maßnahmen, Kürzungen und Sozialabbau sowie weitere Privatisierungen.
Krise der Linken
Der Krieg in der Ukraine verschärft das, was Marxist*innen die objektive Krise des kapitalistischen Systems nennen. Dadurch wird die Notwendigkeit einer sozialistischen Umgestaltung eigentlich um so dringender, doch vielen dürfte solch eine Alternative zum Kapitalismus weiter weg denn je erscheinen – gibt es doch gerade keine größere politische Kraft, die solch ein Programm zum Ausdruck bringt. Im Gegenteil erleben wir seit Beginn der Corona-Krise eine weitgehende Kapitulation linker Organisationen und Parteien und ein hohes Maß an politischer Verwirrung.
Die Partei DIE LINKE ist mittlerweile in einer existenzbedrohenden Krise. Die Bundestagswahlen waren für die Partei ein absoluter Tiefschlag und auch die letzten Landtagswahlen im Saarland setzten die Desasterkette fort. Über 55.000 Stimmen hat die Partei dort gegenüber 2017 verloren. Es ist völlig klar, dass Oskar Lafontaine mit seinem Last-Minute-Austritt aus der Partei dafür einen großen Teil der Verantwortung trägt. Dennoch befindet sich die Gesamtpartei im Niedergang. DIE LINKE ist nur noch in drei Westparlamenten vertreten, davon in zwei Stadtstaaten. In den Bundesländern Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, in denen in diesem Jahr noch gewählt wird, liegt die Partei nach aktuellen Umfragen deutlich unter der 5-Prozent-Hürde. Die aktuellen Vorwürfe sexueller Übergriffe haben die innerparteiliche Krise weiter verschärft und der Rücktritt von Susanne Hennig-Wellsow als Ko-Parteivorsitzende hat vollends offenbart, dass die Partei am Abgrund steht – wie wir an anderer Stelle ausgeführt haben.
Eigentlich müsste eine linke Partei von den zu erwartenden Verteilungskämpfen in der Zukunft profitieren, doch der Zustand und die reale Entwicklung LINKEN machen das alles andere als sicher. Im Gegenteil geht seit Kriegsausbruch der Reformerflügel in die Offensive, um eine Neuausrichtung in der Friedens- und Außenpolitik der Partei beim nächsten Parteitag zu erzwingen. An dieser Frage kann sich auch der Konflikt mit den Kräften um Sahra Wagenknecht wieder zuspitzen und der Austritt von Oskar Lafontaine legt nahe, dass diese Kräfte ihre Zukunft außerhalb der Partei sehen.
Doch nur weil die LINKE aus der Krise nicht herauskommt, heißt dass nicht das die etablierten, pro-kapitalistischen Parteien Stabilität genießen. Auch die Saarland-Wahl ist dafür ein Beleg, wenn man mehr als nur die Sitzverteilung betrachtet. Die Wahlbeteiligung ist massiv gesunken – mehr als jede*r Dritte hat nicht gewählt. 22,3 Prozent der gültigen Stimmen sind im Landtag aufgrund der undemokratischen Fünf-Prozent-Hürde nicht repräsentiert – ein Armutszeugnis für die parlamentarische Demokratie. Vor diesem Hintergrund ist auch der Wahlsieg der SPD, die in absoluten Zahlen nicht mal 40.000 zusätzliche Stimmen gewinnen konnte, und die „Stärke“ ihrer Alleinregierung zu bewerten. Eine Ursache liegt in der Schwäche der LINKEN und auch in dem sozialeren Profil, dass sich die SPD gegeben hatte.
Nein zum Verzicht
Die Arbeiter*innenklasse sollte solchen Versprechungen von pro-kapitalistischen Politiker*innen nicht trauen – insbesondere angesichts der ökonomischen Entwicklung. Diese wird auch dazu führen, dass die Kapitalseite Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen ausüben will. Es ist aus vergangenen Krisen bekannt, dass die Gewerkschaftsführungen diesem Druck viel zu oft und viel zu bereitwillig nachgeben. Dass durch Verzicht keine Arbeitsplätze gerettet werden, zeigt der Stellenabbau der in vielen Industriebetrieben schon vor dem Ausbruch der Pandemie seit 2019 massiv zugenommen hat.
Gleichzeitig gibt es immer noch zu wenige Erzieher*innen, Krankenpfleger*innen, Lehrer*innen. Doch in der aktuellen Tarifrunden im Sozial- und Erziehungsdienst weigern sich die Vertreter*innen der kommunalen Arbeitgeber, über die Forderungen von ver.di nach Entlastung zu verhandeln. Dies wäre aber eine dringende Maßnahme, um mehr Beschäftigte für diese Berufe zu gewinnen. Hier wäre es nötig, dass die ver.di-Führung ernsthaft einen Erzwingungsstreik vorbereitet und dass die DGB-Gewerkschaften einen solchen Kampf mit einer breiten Solidaritätskampagne unterstützen.
In den Gewerkschaften wächst ebenso der Druck von unten, den steigenden Preisen entsprechende Lohnforderungen entgegenzusetzen. Angesichts sinkender Lebensstandards der arbeitenden Bevölkerung stehen die Gewerkschaften bei den Tarifrunden in diesem Jahr in der Pflicht, in die Offensive zu gehen und sich nicht auf Warnstreiks zu beschränken.
Es ist vor diesem Hintergrund falsch, dass die IG BCE-Führung in die erste große Tarifrunde des Jahres in der Chemieindustrie ohne konkrete Lohnforderung gegangen war. Das geschah schon vor Kriegsausbruch, der dafür ohnehin keine Rechtfertigung sein kann, da sich die Lebenshaltungskosten seit dem noch mehr erhöht haben. Die weiteren Verhandlungen wurden nun ohne Kampf in den Herbst verschoben. Die Einmalzahlung von 1400 bis 1000 Euro, deren Höhe von der Unternehmenslage abhängt, ist keine tabellenwirksame Erhöhung und liegt auch prozentual unter der aktuellen Monatsinflation. Doch in dem nun zeitlichen Zusammenlaufen mit der Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie liegt immerhin eine Chance für gemeinsamen Kampf. Das sollte von IG BCE und IG Metall genutzt werden, um gemeinsame Mobilisierungen und parallele Streiks vorzubereiten. Nachdem bei der letzten M+E-Runde keine Lohnerhöhung erkämpft wurde, muss die IG Metall eine Entgeltforderung über der Inflation erkämpfen. In der Stahlindustrie hat sie nun die Forderung nach 8,2 Prozent mehr Lohn bei einer zwölfmonatigen Laufzeit erhoben. Das ist eine deutlich höhere Forderung als in der Vergangenheit, was sicher auch die Erwartungshaltung unter Kolleg*innen ausdrückt. Da aber die Gewerkschaftsführung den Kompromiss bei der Aufstellung ihrer Forderungen schon mitdenkt, ist klar, dass sie einen Abschluss unterhalb der Inflationsrate akzeptieren wollen. Das sollte die Gewerkschaftsbasis nicht mitmachen und eine höhere Forderung verlangen. Sollte der IG-Metall-Vorstand der Empfehlung der Tarifkommissionen folgen, muss um die volle Durchsetzung der Forderung (ohne längere Laufzeit) gekämpft werden – auch mit den Mitteln Urabstimmung und Erzwingungsstreik.
Zum Ende des Jahres läuft außerdem der Tarifvertrag für Bund und Kommunen (TVöD) aus. Reallohnerhöhungen müssen auch hier erkämpft werden und es wäre ein Skandal, wenn einerseits über 100 Milliarden in Aufrüstung fließen sollen, aber andererseits Bund und Kommunen behaupten würden, es wäre kein Geld da, um die Forderungen der Kolleg*innen zu erfüllen.
Gewerkschaften in die Offensive
Doch der Lebensstandard beginnt schon jetzt zu sinken. Die Gewerkschaften stehen in der Verantwortung, unmittelbar einen Kampf darum zu führen, dies zu stoppen, indem sie Maßnahmen zur Erhöhung der Löhne, Renten und Sozialleistungen fordern, um den Lebensstandard zu halten und ihn für die Ärmsten zu verbessern. Diese Forderung sollte von Gewerkschaftsaktivist*innen und der LINKEN aufgegriffen werden.
Denn wenn es an einem nicht mangelt in Deutschland, dann ist es Geld. 70 Milliarden Euro allein an Dividenden sollen in diesem Jahr an Aktionär*innen ausgeschüttet werden – so viel wie nie zuvor! Der Großteil des gesellschaftlichen Reichtums liegt in den Händen einer kleinen Minderheit, für die der Begriff „Oligarch*innen“ genauso passend verwendet werden kann, wie für ihre osteuropäischen Pendants. Laut Forbes ist Deutschland das Land mit der viertgrößten Zahl an Dollar-Milliardär*innen weltweit. Diese Damen und Herren kommen allein auf ein geschätztes Vermögen von 555 Milliarden Euro. In einem ersten Schritt sollte dieser Reichtum im Interesse der Gesellschaft, das heißt der arbeitenden Mehrheit, eingesetzt werden, um Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern und auszubauen; den öffentlichen Dienst, das Gesundheits- und Bildungswesen auszubauen; bezahlbaren Wohnraum in öffentlicher Hand zu schaffen; die Energieversorgung auf Erneuerbare umzustellen; und und und. Die Ampel-Regierung ist eine pro-kapitalistische Regierung, die sich mit den Super-Reichen und Kapitalist*innen nicht anlegen und deshalb die zahlreichen Krisen nicht im Sinne der Lohnabhängigen lösen wird. Eine sozialistische Regierung könnte das, in dem sie die großen Banken und Konzerne in öffentliches Eigentum übernimmt, sie demokratischer Kontrolle und Verwaltung unterstellt und einen sozialistischen Wirtschaftsplan demokratisch ausarbeiten lässt, der die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung in den Mittelpunkt stellt. Eine solche Regierung fällt nicht vom Himmel und wird auch nicht plötzlich eines Tages gewählt werden. Sie kann nur aus großen Mobilisierungen, Streiks und Generalstreiks der Arbeiter*innenklasse, dem Aufbau starker Gewerkschaften und einer sozialistischen Arbeiter*innenpartei erwachsen. Auch wenn das für viele noch weit weg scheint: Eine Voraussetzung dafür ist, schon heute in verschiedenen Bewegungen und Klassenkämpfen für ein solches Programm einzutreten.