Die Bolschewiki und der Krieg

Über den Umgang von Marxist*innen mit dem Ersten Weltkrieg

Vorbemerkung: Angesichts des Ukraine-Kriegs und der Debatten innerhalb der Linken und Arbeiter*innenbewegung um eine korrekte Positionierung veröffentlichen wir an dieser Stelle einen älteren Artikel von Peter Taaffe zur Haltung der russischen Bolschewiki um Lenin und Trotzki zum Ersten Weltkrieg. Der Artikel stellt nicht nur dar, von welcher grundlegenden Analyse und Haltung die Revolutionär*innen ausgingen und wofür sie im Rahmen der organisierten, bewussteren Teile der Bewegung kämpften, sondern auch wie sie ihre Ansprache an die Masse der arbeitenden Bevölkerung richteten. Der Artikel erschien zuerst in englischer Sprache auf www.socialistworld.net am 21. Juli 2014.

Die Schrecken des Ersten Weltkriegs und die daraus resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen führten zu massenhaften Aufständen. Allein in Russland führte dies zu einer erfolgreichen Revolution und der Schaffung des ersten Arbeiter*innenstaates der Welt. Dies war nur möglich, weil die Arbeiter*innen von den Bolschewiki angeführt wurden, die mit einer klaren marxistischen Analyse und einem revolutionären Programm ausgestattet waren.

Von Peter Taaffe, politischer Sekretär der Socialist Party und Mitglied des Internationalen Sekretariats des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationae

„Aber die Bourgeoisie ist nicht dumm, das kann man ihr nicht absprechen, – sie hat bereits seit Anfang des Krieges die Gefahr vorausgesehen, hat aus diesem Grunde die Revolution, solange es möglich war, mit Hilfe ihrer eifrigen Generäle zurückgehalten. (…) Aber bereits in der ersten Epoche des gegenwärtigen Krieges (…) wenn ich (… ) mit bürgerlichen Politikern sprach, hörte ich von ihnen sachte und leise, dass das Resultat dieses Krieges die große Revolution sein würde. Sie, diese bürgerlichen Politiker, hoffen selbstverständlich, mit ihr fertig zu werden. Wenn wir die bürgerlichen Zeitungen und Zeitschriften, zum Beispiel die englische Zeitschrift, die sich «Economist» nennt, für die Monate August und September oder Oktober 1914, des ersten Kriegsjahres, lesen, so ist in dieser Zeitschrift bereits vorausgesagt, dass das Endresultat des Krieges in allen Ländern, die in ihn hineingezogen sind, die sozialrevolutionäre Bewegung sein würde.“ (Leo Trotzki, Die Sowjet-Macht und der internationale Imperialismus, 21. April 1918)

Die seriösen Vertreter*innen der Kapitalist*innen kommen in der Regel zu denselben Schlussfolgerungen wie weitsichtige Marxist*innen nur aus dem entgegengesetzten Klassenstandpunkt. Die Kapitalist*innen dachten zu Beginn des Ersten Weltkriegs, sie könnten mit der Revolution fertig werden. Sie rechneten jedoch nicht mit der Führung, die Lenin, Trotzki und die Bolschewiki der russischen und weltweiten Arbeiter*innenklasse boten. Lenin vertrat zu Beginn des Krieges eine klare, prinzipielle Klassenposition, richtete sein Programm aber auch auf das sich entwickelnde Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse und ihrer verschiedenen Schichten aus.

Alle echten sozialistischen Internationalist*innen verurteilten den Krieg. Sie prangerten auch die rechten Führer*innen der Zweiten („Sozialistischen“) Internationale aufs Schärfste an, die sich hinter ihre eigenen Regierungen und Kapitalist*innen stellten, um den Krieg zu rechtfertigen und die Arbeiter*innenklasse zum Abschlachten und Leiden zu verdammen. Karl Kautsky war bis zu diesem Zeitpunkt aufgrund seiner großen politischen Autorität als “Papst” des internationalen Sozialismus anerkannt. Aber er und andere Verräter*innen des Sozialismus wurden von Lenin, Trotzki und anderen Revolutionär*innen als „Sozialchauvinist*innen“ verurteilt: sozialistisch in Worten, aber verräterische Nationalist*innen in der Praxis.

Niemand war in seinen Verurteilungen bissiger als Lenin, der Führer der russischen Bolschewiki. Er verurteilte diese so genannten Führer*innen nicht nur, sondern formulierte die Politik des „revolutionären Defätismus“. Seitdem hat jedoch vielleicht kein anderer Aspekt von Lenins Ideen und Schriften so viel Verwirrung und politische Fehler verursacht. Diese Formulierung wurde von allen möglichen Sektierer*innen benutzt, um manchmal die haarsträubendsten und falschesten politischen Positionen zu rechtfertigen, insbesondere in der Frage des Krieges. Sie wurde fälschlicherweise als Parole in Kriegen verwendet, was, wie wir zeigen werden, überhaupt nicht die Intention von Lenin war, als er diese Idee bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs erstmals formulierte.

Ein solcher Fehler ist nur möglich, wenn man Lenins Formulierung aus ihrem historischen Kontext herausreißt – verbunden mit der Unfähigkeit zu verstehen, an welches isolierte, begrenzte Publikum von politisch fortgeschrittenen Arbeiter*innen er sich in dieser Phase wandte. Später, als es darum ging, zu den russischen Massen zu sprechen und sie zu führen, wählte Lenin einen anderen Ansatz.

Bei Ausbruch des Krieges erklärte Lenin: „Der europäische, die ganze Welt erfassende Krieg trägt den scharf ausgeprägten Charakter eines bürgerlichen, imperialistischen, dynastischen Kriegs. (…) Das Verhalten der Führer der deutschen sozialdemokratischen Partei – der stärksten und einflussreichsten Partei in der II. Internationale (1889-1914) –, die für das Kriegsbudget gestimmt hat und sich die bürgerlich-chauvinistischen Phrasen der preußischen Junker und der Bourgeoisie zu eigen macht, ist direkter Verrat am Sozialismus. Die gleiche Verurteilung verdient das Verhalten der Führer der belgischen und der französischen sozialdemokratischen Partei, die den Sozialismus verrieten, indem sie in die bürgerlichen Ministerien eintraten.“ (Lenin, Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Kriege, September 1914) Ebenso verurteilte Lenin die englischen „Labour“-Opportunist*innen, die während des Krieges ihre eigene Bourgeoisie unterstützten. Er kritisierte auch das so genannte „Zentrum“ innerhalb der internationalen Arbeiter*innenbewegung, die den Krieg nur halb ablehnte.

Lenin schrieb: „In Wirklichkeit hilft die Politik Kautskys und die der Sembat-Henderson in gleicher Weise ihrer eigenen imperialistischen Regierung, da sie die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Hinterlist des Rivalen und Feindes lenkt und über die ebenso imperialistischen Schritte ‚ihrer‘ Bourgeoisie den Schleier nebelhafter Gemeinplätze und frommer Wünsche breitet. Wir würden aufhören, Marxisten, ja überhaupt Sozialisten zu sein, wenn wir uns auf eine sozusagen christliche Betrachtung der Güte wohlgefälliger Gemeinplätze beschränken wollten, ohne ihre wirkliche politische Bedeutung zu enthüllen.“ (Lenin, Bürgerlicher und sozialistischer Pazifismus, 1. Januar 1917) Er verurteilte die Kapitalisten auf allen Seiten: „Die beiden kriegführenden Gruppen von Nationen stehen an Grausamkeit und Barbarei in der Kriegführung einander nicht nach.“ (Lenin, Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Kriege, September 1914)

Revolutionärer Defätismus

In Russland begann er mit einer Kritik an seiner „eigenen“ herrschenden Klasse: „Aufgabe der Sozialdemokratie Russlands ist in Sonderheit und in erster Linie der schonungslose und unbedingte Kampf gegen den großrussischen und zaristisch-monarchistischen Chauvinismus und gegen seine sophistische Verteidigung durch die russischen Liberalen, die Kadetten, durch einen Teil der Narodniki und durch andere bürgerliche Parteien.“ Er fuhr fort zu erklären: „Vom Standpunkt der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen aller Völker Russlands wäre die Niederlage der Zarenmonarchie und ihrer Armeen das geringere Übel, – dieser Monarchie, die Polen, die Ukraine und eine ganze Reihe anderer Völker Russlands unterjocht hält und die ständig den Nationalhass schürt mit dem Zweck, die Herrschaft der Großrussen über die anderen Nationalitäten noch zu verschärfen und die reaktionäre und barbarische Regierungsgewalt der Zarenmonarchie zu stärken.“ (Lenin, Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Kriege, September 1914)

Der letzte von Lenin hier verwendete Satz konnte als “revolutionärer Defätismus” ausgelegt werden. War das richtig? Wenn dieser für den Gebrauch unter den Massen in jener Etappe gedacht war – was Lenin nie beabsichtigte oder jemals tat -, wäre die Antwort aus marxistischer Sicht: Nein. Dies konnte keine Losung zur Gewinnung der Massen sein und war so auch nicht beabsichtigt.

Ein Hinweis auf die Stimmung zu Beginn des Ersten Weltkriegs findet sich in Trotzkis Autobiografie Mein Leben. Er wurde Zeuge der feierlichen Pro-Kriegs-Szenen in Wien. Die riesigen Menschenmassen waren in Karnevalsstimmung, völlig ahnungslos, welches Gemetzel folgen würde. Die Erklärung dafür liegt in der scheinbaren Unterbrechung der alltäglichen, betäubenden Routine des Kapitalismus. Das Herannahen des Krieges schien alles zu erschüttern und bot große Veränderungen im Leben der Arbeiter, die nicht wussten, dass viele von ihnen zur Schlachtbank geführt werden würden. Ähnliche Szenen spielten sich in Berlin, London, Paris und anderswo ab. Die Stimmung änderte sich natürlich grundlegend, als sich die Leichen stapelten und die Verstümmelten und Verletzten von der Front in ihre Häuser auf den Höfen und in den Städten zurückkehrten.

Trotzki, in einem Kommentar am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, gibt uns ein Bild von den Umständen, unter denen Lenin zum ersten Mal die Idee des „revolutionären Defätismus“ entwickelte. In seinen letzten, unschätzbaren Briefen kommentierte Trotzki: „Während des letzten Krieges war nicht nur das Proletariat als ganzes, sondern auch seine Avantgarde und – in gewissem Sinne – die Avantgarde dieser Avantgarde unvorbereitet. Die Ausarbeitung der Prinzipien einer revolutionären Politik gegenüber dem Kriege begann zu einer Zeit, als der Krieg schon voll entbrannt war und der Militärapparat unumschränkte Herrschaft ausübte. Ein Jahr nach Kriegsausbruch war die kleine revolutionäre Minderheit noch gezwungen, sich auf der Zimmerwalder Konferenz einer zentristischen Mehrheit anzupassen. Vor und selbst nach der Februarrevolution fühlten sich die revolutionären Elemente nicht als Kämpfer um die Macht, sondern nur als extreme linke Opposition. Selbst Lenin verlegte die sozialistische Revolution in eine mehr oder weniger entfernte Zukunft. Er schrieb ( 1915 oder 1916) in der Schweiz: ‚Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben‘“ (Trotzki, Bonapartismus, Faschismus und Krieg, 1940)

Der Verrat und Zusammenbruch der Zweiten Internationale war ein schwerer Schlag für die fortgeschrittene Schicht der Arbeiter*innen, einschließlich Lenin und der Bolschewiki. Als Lenin in der Schweiz war, erhielt er die Zeitung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, in der verkündet wurde, dass sie für Kriegskredite an die kaiserliche Regierung gestimmt hatte. Zunächst hielt er sie für eine Fälschung des deutschen Generalstabs. Dies ist nur ein Hinweis auf die Isolation der fortschrittlichen revolutionären Kräfte in dieser Phase. Ein Appell an die Massen in Bezug auf den Krieg und andere Fragen war die Aufgabe der Zukunft und würde einen anderen Ansatz erfordern. Zunächst war es jedoch notwendig, diese Fragen des Krieges und die Haltung der Revolutionär*innen zu ihm zu klären.

In diesem Zusammenhang wurden einige der scharfen Formulierungen Lenins wie der “revolutionäre Defätismus” verwendet, um eine klare Trennlinie zwischen den echten revolutionären Kräften und denen, die den Sozialismus verraten hatten, zu ziehen. Dies war jedoch nicht die agitatorische Losung oder das Programm, mit dem man sich an die breiten Massen wandte. Trotzki formulierte die Frage klar: „Die Aufmerksamkeit des revolutionären Flügels war auf die Frage der Verteidigung des kapitalistischen Vaterlands konzentriert. Natürlich beantworteten die Revolutionäre diese Frage negativ. Das war völlig richtig. Diese rein negative Antwort diente als Grundlage für die Propaganda und die Erziehung der Kader, aber sie konnte die Massen, die keinen fremden Eroberer wollten, nicht überzeugen.“ (Trotzki, Bonapartismus, Faschismus und Krieg, 1940)

Er fügte hinzu „Zwar eroberten die Bolschewiki binnen acht Monaten die überwältigende Mehrheit der Arbeiter, aber entscheidend dafür war nicht die Weigerung, das Bourgeois-Vaterland zu verteidigen, sondern die Losung ‚Alle Macht den Räten!‘ – und nur diese revolutionäre Parole. Die Kritik am Imperialismus, am Militarismus, die Weigerung, die bürgerliche Demokra­tie zu verteidigen usw. – das hätte niemals die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auf die Seite der Bolschewiki gebracht.“ (Trotzki, Bonapartismus, Faschismus und Krieg, 1940)

Lenin konzentrierte sich während des größten Teils des Ersten Weltkriegs auf die allgemeinen theoretischen Fragen: auf das Wesen des Krieges, den Verrat der Zweiten Internationale und die Forderung nach einer neuen, Dritten Internationale, sowie auf das Schicksal der Arbeiter*innenklasse. Die Bolschewiki betonten vor allem die Aufgabe, den Sozialchauvinismus und die Opportunist*innen in den Reihen des „offiziellen“ Sozialismus zu entlarven. Sie waren Teil einer internationalen Strömung – darunter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Deutschland –, die denselben Ansatz verfolgte. Tatsächlich drückte Liebknechts Formel „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ die Politik zur Massenmobilisierung der Arbeiterklasse besser aus.

Lenin führte seinen eigenen „Krieg“ gegen jedes Zugeständnis an den Sozialpatriotismus. Er setzt dies auch nach der russischen Revolution im Februar 1917 fort, indem er diejenigen Bolschewiki wie Stalin und Kamenjew, die die provisorische Regierung, die den Krieg fortsetzte, unterstützten, aus dem Ausland gnadenlos kritisiert. Dieser theoretische Kampf über den Krieg war für die fortgeschritteneren, führenden Schichten der Arbeiter*innenklasse absolut notwendig. Er reichte nicht aus, um die Massen in der weiteren Entwicklung der Revolution zu gewinnen.

Schnelle Änderungen des Bewusstseins

Lenin war sich dessen in seinen Schriften durchaus bewusst. Im Mai 1917 erklärte er zum Beispiel über die Ansichten eines einfachen Arbeiters: Wir wollen keinen Krieg, um über andere Völker zu herrschen, wir kämpfen für unsere Freiheit. Das sagen alle Arbeiter und Bauern, und sie bringen damit die Ansicht des Arbeiters (…) zum Ausdruck, wie er den Krieg versteht. Sie sagen damit: Wäre das ein Krieg im Interesse der Werktätigen gegen die Ausbeuter, so wären wir für den Krieg. Auch wir wären dann für den Krieg, und es gibt keine revolutionäre Partei, die gegen einen solchen Krieg sein könnte. (…) Wir Soldaten, wir Arbeiter, wir Bauern führen Krieg für unsere Freiheit. Ich werde niemals die Frage vergessen, die mir nach einer Versammlung ein Arbeiter stellte: ‚Was reden sie fortwährend gegen die Kapitalisten? Bin ich etwa ein Kapitalist? Wir sind Arbeiter, wir verteidigen unsere Freiheit.‘“ (Lenin, Krieg und Revolution, 27. Mai 1917)

Lenin antwortete ihm: „Das ist nicht wahr, ihr führt Krieg, weil ihr eurer Regierung von Kapitalisten gehorcht, den Krieg führen nicht die Völker, sondern die Regierungen. Ich wundere mich nicht, wenn ein Arbeiter oder Bauer (…) naiv fragt: Was habe ich mit den Kapitalisten zu tun, wenn ich Krieg führe? Er versteht den Zusammenhang des Krieges mit der Regierung nicht, er versteht nicht, dass der Krieg von der Regierung geführt wird, während er das Werkzeug ist, mit dem die Regierung hantiert.“ (Lenin, Krieg und Revolution, 27. Mai 1917)

Darin zeigt sich das scharfe Gespür Lenins für die Sichtweise der Massen, für ihr Bewusstsein und dafür, wie man sich ihnen in jeder Phase vorsichtig und übergangsweise nähern kann. Natürlich war es notwendig, zu jeder Zeit den Klassencharakter des Krieges zu betonen. Aber das allein reichte nicht aus. Es war notwendig, weiter zu gehen und Übergangsforderungen zu formulieren und für sie zu kämpfen, um zur Entwicklung dieses Bewusstseins beizutragen, das mit dem Lauf der Ereignisse verbunden ist. Vor allem musste der Krieg mit der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Lage der Massen in Verbindung gebracht werden, mit der Idee einer Machtübernahme durch die Sowjets, die ihrerseits mit einer Regierung verbunden war, die „Land für die Bauern, Frieden und Freiheit“ bringen würde.

Dies war keineswegs ein inakzeptables opportunistisches Zugeständnis an den „Defensivismus“ oder das kapitalistische „Vaterland“. Lenin erkannte noch während des Krieges ausdrücklich an, dass die Arbeiterklasse in Zukunft „unabwendbar Verhältnisse antreffen, wo der Klassenkampf innerhalb einer jeden einzelnen Nation mit einem durch eben ihn, diesen Kassenkampf, erzeugten Krieg zwischen verschiedenen Nationen zusammentreffen kann“. Daher seien revolutionäre Kriege, die von revolutionären Klassen geführt werden, nicht auszuschließen. Als Beispiel nannte er die Kriege der großen französischen Revolution von 1792, „der französischen Volksmassen gegen das vereinigte monarchistische, rückständige, feudale und halbfeudale Europa“. (Lenin, Krieg und Revolution, 27. Mai 1917)

Während Lenin also eine „revolutionäre“ Position der „Landesverteidigung“ für die „unbestimmte Zukunft“ akzeptierte, griff er die „Landesverteidigung“ nach der Februarrevolution gnadenlos an und wandte sich gegen all jene – auch in den Reihen der bolschewistischen Partei selbst –, die diese Idee unterstützten, die damit verbunden war, dass die Arbeiter*innenparteien die Macht in Koalitionen mit bürgerlichen Parteien teilten. Diese Position vertrat Lenin auch nach der Februarrevolution, denn die Revolution war noch nicht abgeschlossen. Die Konsequenzen der Koalitionspolitik waren die Fortsetzung des Krieges und die Verteidigung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse. Das bedeutete aber nicht die Wiederholung der bloßen Propaganda gegen den Krieg. Die Bolschewiki passten ihre Herangehensweise, ihr Programm und ihre Slogans der Situation und dem sich rasch verändernden Bewusstsein an.

In seinem Vortrag Krieg und Revolution ist sich Lenin der Sehnsucht der Massen nach Frieden, aber auch der Angst vor dem „fremden Eindringling“ bewusst. Er erklärt: „Man unterschiebt uns die absurde Ansicht, wir wollten einen Separatfrieden. Die deutschen Kapitalisten und Räuber unternehmen Friedensschritte, indem sie erklären: Ich gebe dir ein Stück der Türkei und Armeniens, wenn du mir erzhaltige Böden gibst. (…) Welcher Unsinn, wir wären für eine Beendigung des Krieges durch einen Separatfrieden. Den Krieg, den die Kapitalisten der reichsten Mächte führen (…) durch einen einseitigen Verzicht auf Kriegshandlungen beenden zu wollen, das ist eine solche Dummheit, dass es uns sogar lächerlich scheint, sie zu widerlegen. (…) Den Krieg, den die Kapitalisten aller Länder führen, kann man nicht ohne die Arbeiterrevolution gegen diese Kapitalisten beenden.“ (Lenin, Krieg und Revolution, 27. Mai 1917)

Er fügte hinzu: „Wenn der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten die Macht übernähme und die Deutschen den Krieg fortsetzten, was würden wir tun? (…) Wenn die revolutionäre Klasse Russlands, die Arbeiterklasse, an der Macht sein wird, dann muss sie den Frieden anbieten. (…) Wir schlagen nicht vor, den Krieg mit einem Schlag zu beenden. Wir versprechen das nicht. (…) Leicht wird man aus diesem entsetzlichen Krieg nicht herauskommen können. Drei Jahre führt man Krieg. Man wird zehn Jahre Krieg führen müssen, oder aber man darf vor einer schwierigen, harten Revolution nicht zurückschrecken. Einen anderen Ausweg gibt es nicht. Wir sagen: Der durch die Regierungen der Kapitalisten begonnene Krieg kann nur durch die Arbeiterrevolution beendet werden.“ (Lenin, Krieg und Revolution, 27. Mai 1917)

Übergangsmethode

Gleichzeitig verknüpften Lenin und die Bolschewiki den Krieg mit den alltäglichen Bedingungen der Volksmassen. Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll (Oktober 1917) war in der Realität ein Übergangsprogramm, auf das Trotzki bei der Formulierung seines berühmten Manifests für die Vierte Internationale im Jahr 1938 zurückgriff. Lenin stellte eine Reihe von Forderungen auf: Verstaatlichung der Banken, Arbeiter*innenkontrolle, Öffnung der Unternehmensbücher für die Einsichtnahme durch Arbeiter*innen- und Bäuer*innenkomitees, Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses usw.

In Krieg und Revolution greift Lenin die Frage der Besteuerung der Kapitalisten auf und kritisiert Matwej Skobelew, ein menschewistisches Mitglied der provisorischen Regierung, aus einer Position heraus, die „gemäßigt“ scheint. Er führt aus: „Wenn nun Skobelew gestern in seiner Rede erklärte: Wir werden den ganzen Profit einziehen, 100 % werden wir nehmen, so hat er den Mund zu voll genommen ganz nach Ministerart. Wenn sie die heutige ‚Retsch‘ zu Hand nehmen, dann werden Sie sehen, wie die Reaktion auf diese Stelle in der Rede Skobelews ist. Dort steht geschrieben: ‚Das ist ja Hunger, Tod, 100% – das bedeutet – alles!‘ Minister Skobelew geht weiter als der extremste Bolschewiki. (…) Wir sind niemals so weit gegangen. Wir haben niemals vorgeschlagen, 100% des Profits wegzunehmen. (…) Nehmen sie die Resolution unserer Partei , und sie werden sehen, dass wir darin in einer ausführlicher begründeten Form dasselbe vorschlagen, was ich vorgeschlagen habe. Die Kontrolle über die Banken muss eingeführt werden und dann eine gerechte Einkommenssteuer.“ (Lenin, Krieg und Revolution, 27. Mai 1917)

Lenin plädierte hier nicht für eine vollständige Enteignung, sondern für eine „gerechte Steuer“ für die Kapitalisten. Entscheidend war jedoch, dass dies mit der Frage der Arbeiter*innenkontrolle verbunden war, die als Schule für die Arbeiter*innen gedacht war, in der sie schrittweise lernen sollten, wie sie die Fabriken und schließlich die Gesellschaft leiten sollten. Aber er wendet die gleiche Methode auch gezielt im Zusammenhang mit dem Krieg an: „Die Verteidigungsfähigkeit eines Landes mit nationalisierten Banken ist größer als die eines Landes, in dem die Banken in Privathänden bleiben. Die militärische Macht eines Bauernlandes, in dem sich der Boden in den Händen von Bauernkomitees befindet, ist größer als die eines Landes mit gutsherrlichen Grundbesitz.“ (Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, Oktober 1917)

Er argumentiert, dass das Beispiel des revolutionären Frankreichs nur eines zeigt: Um Russland zur Selbstverteidigung fähig zu machen, um auch in Russland „Wunder“ des Massenheroismus zu erreichen, muss alles Überholte mit “jakobinischer” Rücksichtslosigkeit hinweggefegt und Russland wirtschaftlich erneuert und regeneriert werden. „Das kann aber im 20. Jahrhundert nicht durch die Beseitigung des Zarismus allein geschehen (Frankreich hat sich vor 125 Jahren nicht darauf beschränkt). Das lässt sich nicht einmal allein durch die revolutionäre Beseitigung des gutsherrlichen Grundbesitzes zuwege bringen (nicht einmal das haben wir getan, denn die Sozialrevolutionäre und Menschewiki haben die Bauernschaft verraten!), nicht einmal allein durch die Übergabe des Grund und Bodens an die Bauernschaft. Denn wir leben im 20. Jahrhundert; die Herrschaft über den Grund und Boden ohne die Herrschaft über die Banken ist nicht hinreichend, um das Leben des Volkes umgestalten und erneuern zu können.“ (Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, Oktober 1917)

Revolutionäres Programm

Dies ist ein Beispiel dafür, wie man jederzeit das Level des Bewusstseins der Massen berücksichtigen muss und versuchen kann, es voranzutreiben und auf neue Höhen zu heben. Lenin und die Bolschewiki waren zwar gegen den Krieg, erkannten aber an, dass er eine Tatsache war. In einer Rede vor den Delegierten der bolschewistischen Fraktion der Sowjets erklärte er: Die Massen gehen an die Frage nicht theoretisch, sondern praktisch heran. Unser Fehler ist das theoretische Herangehen. Zu einem revolutionären Krieg, (…), darf ein klassenbewusster Proletarier seine Zustimmung geben. Den Vertretern der Soldatenmasse muss man die Frage praktisch stellen, anders geht es nicht. Wir sind durchaus nicht Pazifisten. (…) Die Klasse der Kapitalisten, die mit den Banken verbunden ist, kann keinen anderen Krieg führen als einen imperialistischen. Die Arbeiterklasse kann es.“ (Lenin, Rede in der Versammlung der bolschewistischen Mitglieder der Allrussischen Konferenz der Arbeiter- und Soldatenräte, 17. April 1917) Dies ist eine völlig revolutionäre, realistische Art, die Frage zu stellen, eine Methode, die den Sektierer*innen fremd ist.

So schrieb Lenin in Die drohende Katastrophe: „Alle von uns geschilderten Maßnahmen zur Bekämpfung der Katastrophe würden, wie wir bereits erwähnt haben, die Verteidigungsfähigkeit oder, anders ausgedrückt, die militärische Macht des Landes außerordentlich stärken.“ Dies wäre jedoch nicht möglich, ohne den Eroberungskrieg in einen gerechten Krieg zu verwandeln: den von den Kapitalisten im Interesse der Kapitalisten geführten Krieg in einen vom Proletariat im Interesse der gesamten arbeitenden und ausgebeuteten Bevölkerung geführten Krieg zu verwandeln.

Die Außenpolitik ist eine Fortsetzung der Innenpolitik – diesen Punkt hat Lenin mit Nachdruck betont. Er betonte, dass es für Russland unmöglich sei, sich ohne die größten Opfer und den Heroismus des Volkes zu verteidigen. Aber er verband dies mit der Notwendigkeit einer grundlegenden sozialen Umwälzung: „Und man kann unter den Massen keinen Heroismus wecken, ohne mit dem Imperialismus zu brechen, ohne allen Völkern einen demokratischen Frieden anzubieten, ohne auf diese Weise den räuberischen, verbrecherischen Eroberungskrieg in einen gerechten, revolutionären Verteidigungskrieg umzuwandeln.“ (Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, Oktober 1917) Der Einwand, das sei alles schön und gut, weil Lenin von einem zukünftigen Arbeiter*innenstaat gesprochen habe, ist nicht zutreffend. Die drohende Katastrophe war ein Programm aus der Zeit vor der Oktoberrevolution, das nur durch die Revolution selbst in die Tat umgesetzt werden konnte. Trotzki und seine Anhänger*innen stützten sich auf Lenins Schriften, um im Zweiten Weltkrieg eine „Militärpolitik“ der Arbeiter*innenklasse zu betreiben.

Diese Frage ist nicht nur von historischem Interesse. Eine Analyse von Lenins Herangehensweise an den Ersten Weltkrieg in seinen verschiedenen Phasen hilft uns zu verstehen, wie die Bolschewiki an die Macht kamen. Dies wurde durch eine ausgefeilte Strategie und Taktik erreicht, nicht durch die ständige Wiederholung abstrakter Propaganda. Propaganda ist absolut notwendig, um die neue Generation von Arbeiter*innen und Jugendlichen in den Grundlagen des Marxismus und Sozialismus zu unterrichten. Aber sie reicht nicht aus, um ein Massenpublikum zu erreichen, wie es Militant, dem Vorläufer der Socialist Party, als einziger aller „marxistischen“ Gruppen in Großbritannien in dem monumentalen Kampf in Liverpool zwischen 1983-87 und im Kampf gegen die Kopfsteuer gelungen ist. Ohne Lenins Herangehensweise an die komplexen Fragen, die der Erste Weltkrieg aufgeworfen hatte, und seine und Trotzkis meisterhafte Anwendung der revolutionären, allseitigen Dialektik wäre dies nicht möglich gewesen.

Wir stehen auf den Schultern von Lenin und Trotzki, und die Arbeiter*innen und jungen Menschen von heute müssen ihre Methode übernehmen, um sich auf die großen Ereignisse vorzubereiten, die vor uns liegen. Ein Krieg in der Größenordnung des Ersten und Zweiten Weltkriegs steht nicht auf der Tagesordnung, nicht zuletzt, weil er zur „gegenseitigen Zerstörung“ der gesamten Menschheit, einschließlich der Kapitalist*innen selbst, führen würde. Dies schließt brutale und grausame regionale Kriege nicht aus, wie die aktuelle Katastrophe im Irak und in Syrien zeigt. Darüber hinaus sind Zusammenstöße zwischen verschiedenen kapitalistischen Mächten und Blöcken möglich – siehe die aktuellen Auseinandersetzungen in der Ukraine, das Gerangel zwischen China und seinen Rivalen in Asien usw. Nur eine sozialistische Welt kann die Schrecken des Krieges für immer verbannen. Die Schriften Lenins während des Ersten Weltkriegs können uns auf diese Aufgabe vorbereiten.