Unruhen, Revolution und Konterrevolution in Asien, Afrika und Lateinamerika

Beschluss des 13. Weltkongress des CWI im Januar 2022

  1. “Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll” – Der Titel des Aktionsprogramms, das Lenin kurz vor der Oktoberrevolution 1917 in Russland verfasste, beschreibt die derzeitige Situation in weiten Teilen der Welt genau. Besonders deutlich wird dies in den meisten Ländern Asiens, Afrikas, des Nahen Ostens und Lateinamerikas, die sich alle in verschiedenen Krisen oder multiplen Krisen befinden. Der allgemeine Hintergrund ist eine extrem instabile Weltwirtschaftslage, die von Schulden und riesigen Mengen an fiktivem Kapital abhängig ist und wahrscheinlich kein nachhaltiges Wachstum erzeugen wird, sowie die enormen Auswirkungen der Covid-Pandemie auf die Menschen und die Gesellschaften.
  2. Während die Form, die genaue Kombination und die Intensität in jedem Land unterschiedlich sind, haben alle diese Krisen ihre Wurzeln in wirtschaftlichen, politischen, ökologischen und sozialen Fragen sowie nationalen Konflikten. Praktisch kein Land ist völlig unberührt geblieben, während einige zu “gescheiterten” oder scheiternden Staaten geworden sind. Manchmal sind die Entwicklungen rasant, wie in Sri Lanka, das in kurzer Zeit mit einer schweren Wirtschaftskrise, einer rasanten Inflation und dem drohenden Staatsbankrott konfrontiert wurde. Das hoch verschuldete Pakistan steht vor neuen Sparmaßnahmen. In vielen Ländern sind dicht besiedelte Küstengebiete durch den Anstieg des Meeresspiegels bedroht, während der Klimawandel die Landwirtschaft und die Wasserversorgung beeinträchtigt. Weltweit haben Naturkatastrophen im Jahr 2021 Vermögenswerte im Wert von schätzungsweise 280 Milliarden Dollar vernichtet – der zweithöchste Wert aller Zeiten. In Teilen Afrikas und des Nahen Ostens herrschen Kriege und Aufstände. Im Jahr 2021 kam es in vier afrikanischen Ländern – Tschad, Mali, Guinea und Sudan – sowie in Myanmar zu Militärputschen. Generell bestehen in der heutigen internationalen Situation keine oder nur geringe Aussichten auf wesentliche Verbesserungen des Lebensstandards für die breite Masse der in neokolonialen Staaten lebenden Bevölkerung.
  3. Eine potentiell explosive Folge ist, dass viele junge Menschen in diesen überwiegend jugendlich geprägten Ländern außer Massenarbeitslosigkeit und Gelegenheitsarbeit kaum Zukunftsperspektiven haben; für manche ist der Ausweg die Migration. Diese düstere Zukunft ist ein Schlüsselfaktor für die jüngsten großen Bewegungen und politischen Entwicklungen, die vom Widerstand gegen die Militärherrschaft in Myanmar und im Sudan über den Kampf gegen Autokratie und Unterdrückung in Thailand bis hin zur EndSARS-Bewegung gegen polizeiliche Unterdrückung in Nigeria reichen, während in Chile neben anhaltenden Massenprotesten eine von Jugendlichen angeführte Mobilisierung den rechtsextremen Kandidaten Kast bei den chilenischen Präsidentschaftswahlen besiegte. Abgesehen von EndSARS handelte es sich dabei jedoch nicht einfach um Jugendbewegungen, sondern es waren junge Menschen, die sie anführten. Im Gegensatz dazu zeigten die Zusammenstöße und Plünderungen in Südafrika im Juli 2021, obwohl sie auf Wut, Frustration und Verzweiflung beruhten, die Gefahr, dass solche Entwicklungen ohne eine klare Führung durch die Arbeiter*innenbewegung in Sackgassen führen oder in Kriminalität und ethnische Konflikte ausarten können. Dies hat sich in Afrika, im Nahen Osten und in Asien sowie in Teilen Lateinamerikas mehr oder weniger stark und in unterschiedlichen Formen bewahrheitet. In Nigeria gibt es religiöse Aufstände in Form von Boko Haram und ISWAP, großangelegtes Banditentum im Nordwesten, bewaffnete Zusammenstöße zwischen Viehzüchter*innen und Ackerbäuer*innen im Zentrum und nationalistische Rebellion im Südosten. Alle haben zugenommen – mangels einer Arbeiter*innenbewegung, die ernsthaft für eine sozialistische Alternative kämpft.
  4. Asien, Afrika und der Nahe Osten (ebenso wie der Balkan und die ehemalige Sowjetunion) sind von den wachsenden internationalen Spannungen und Rivalitäten betroffen. Einmal mehr werden sie destabilisiert, indem sie zu Schauplätzen des Wettbewerbs und der Konflikte zwischen verschiedenen Welt- und Regionalmächten werden. Die Blamage der westlichen imperialistischen Mächte, ihre gescheiterte Afghanistan-“Mission” nach 20 Jahren aufgeben zu müssen, zeigt erneut, dass selbst die stärksten imperialistischen Mächte nicht unbesiegbar sind. Der US-Imperialismus hat jahrelang ernsthaft versucht, zumindest den Anschein eines Erfolgs zu erwecken. Die Gesamtausgaben Washingtons für diesen Krieg werden auf 2,3 Billionen Dollar geschätzt, während Obama die Zahl der US-Truppen in Afghanistan kurzzeitig von 30.000 im Jahr 2008 auf 110.000 im Jahr 2011 aufstockte. Trotz dieses Rückzugs aus der inzwischen völlig hoffnungslosen Mission kann es in Zukunft wieder zu ernsthaften Interventionen kommen, wenn die herrschende Klasse der USA das Bedürfnis verspürt, ihre Interessen auf internationaler Ebene entschlossen zu verteidigen. Zumindest kurzfristig könnte dies jedoch komplizierter werden, wenn es darum geht, im Inland Unterstützung für eine dauerhafte Militäraktion zu gewinnen; gleichzeitig wird man die Risiken vorsichtiger abwägen, um zu vermeiden, dass die USA wieder in einer jahrelangen Besatzung gefangen sind.
  5. Aber 2021 endete nicht nur die Nato-Intervention in Afghanistan in einer Niederlage, sondern es lieferte auch weitere Beweisen für die Unfähigkeit des Kapitalismus, den Großteil der Welt in absehbarer Zeit vor Covid-19 zu schützen. Natürlich ist das Ausmaß von Covid und anderen Krankheiten in vielen Teilen der Welt zum Teil eine Folge des bestehenden niedrigen Lebensstandards, der schlechten Gesundheitsversorgung und der schwachen oder nicht vorhandenen Basisinfrastruktur, die alle das Ergebnis des Versagens des Kapitalismus bei der harmonischen Entwicklung ehemaliger Kolonialgesellschaften sind. Doch während die Entwicklung der Covid-Impfstoffe und der möglichen Behandlungen rasch vonstatten ging und die jüngsten enormen Sprünge in Wissenschaft und Technologie verdeutlichten, wurden ihre Herstellung und Verbreitung durch das kapitalistische Profitstreben; die mangelnde Bereitschaft der kapitalistischen Regierungen, weltweite Impfungen zu finanzieren; und – in einigen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern – durch Entfremdung von und Misstrauen gegenüber der Regierung behindert, was zu Widerstand gegen Covid-Maßnahmen und Impfungen beitrug. Die Forderungen nach einem Ende des Patentgeheimnisses für Covid-Impfstoffe und -Behandlungen nahmen zu. Sogar einige bedeutende Aktionär*innen von Moderna wollten wissen, warum das Unternehmen, das von der US-Regierung mindestens 2,5 Milliarden US-Dollar zur Finanzierung seiner Covid-Forschung erhalten hatte, Wucherpreise verlangte und sich weigerte, seine Technologie an Hersteller in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen weiterzugeben.
  6. Gegen Ende des Jahres 2021 führten die zunehmenden Befürchtungen hinsichtlich der Omicron-Variante zu einer wachsenden Kritik am kurzsichtigen Versagen der großen kapitalistischen Länder, eine weltweite Impfkampagne durchzuführen. Der ehemalige britische Premierminister Gordon Brown wies darauf hin, dass Ende 2021 jeden Monat zwei Milliarden Impfdosen produziert würden, die aber nur in den reicheren Ländern verwendet würden. Zwischen dem 11. November und dem 21. Dezember 2021 erhielten die EU, das Vereinigte Königreich und die USA mit einer Gesamtbevölkerung von 850 Millionen Menschen 513 Millionen Impfstoffdosen. Auf dem afrikanischen Kontinent mit seinen 1,388 Milliarden Einwohner*innen wurden dagegen im gesamten Jahr 2021 nur 250 Millionen Dosen verabreicht. Das Ergebnis ist, dass “nur drei Prozent der fast acht Milliarden weltweit verabreichten Dosen in Afrika verabreicht wurden und nur etwa acht Prozent der Afrikanerinnen und Afrikaner vollständig geimpft sind” (Weltgesundheitsorganisation). Brown kritisierte dies zwar, versäumte es als Befürworter des Kapitalismus aber zu erklären, dass die Verteilung des Impfstoffs und das Versäumnis, seine Produktion auf mehr Länder auszudehnen, auf das Profitsystem und insbesondere dessen neoliberalen Verfechter zurückzuführen sind.
  7. Angesichts der potenziellen Auswirkungen, die künftige Covid-Varianten haben könnten, war diese Untätigkeit selbst aus kapitalistischer Sicht kurzsichtig. Der verrottete Charakter des modernen Kapitalismus und das Profitstreben einzelner Kapitalist*innen verhinderten, was aus Sicht des Kapitalismus als Ganzes eine logische Strategie gewesen wäre. Ende 2021 schätzte der IWF, dass es 50 Milliarden Dollar kosten würde, 60 Prozent der Welt bis Mitte 2022 zu impfen. Das ist eine erhebliche Summe Geld, aber bei weitem nicht unbezahlbar. Tatsächlich entspricht es dem, was das US-Militär in etwas mehr als zwei Jahren für die Klimatisierung seiner Stützpunkte im Irak und in Afghanistan ausgegeben hatte, und es ist weit weniger als die 89 Milliarden Dollar an Gewinnen, die die zehn größten Pharmaunternehmen 2019 gemacht haben.
  8. Vor dem Hintergrund, dass sich viele Länder noch immer nicht vollständig von den Nachwirkungen der Wirtschaftskrise 2007-2009 erholt haben, hat die Covid-Pandemie mit weiteren Einbußen beim Lebensstandard, höherer Arbeitslosigkeit und wachsender Verschuldung hart zugeschlagen. Schulden, die nicht nur bei den älteren imperialistischen Ländern, sondern zunehmend auch bei China gemacht wurden. Der Präsident der Weltbank sprach von einem “tragischen Umschwung” in der Entwicklung, einer “großen finanziellen Kluft” zwischen den Ländern, und einer Verschuldung der 70 “einkommensschwachen” Ländern, die ein Rekordniveau erreicht hat und bis 2020 um 12 Prozent auf 860 Milliarden US-Dollar angestiegen ist. Und im Kapitalismus bedeutet der Versuch, die Schulden zu bezahlen, entweder direkt oder indirekt weitere Einschnitte in den Lebensstandard. Länder wie Argentinien und Sri Lanka können in einen Teufelskreis geraten, der neue Zahlungsausfälle zur Folge haben kann. Der IWF hat kürzlich das Scheitern seines 57-Milliarden-Dollar-Darlehens an Argentinien zugegeben, das 2020 zum neunten Mal einen Zahlungsausfall bei der Bedienung seiner Auslandsschulden verursachte. Vor dem Hintergrund einer Inflationsrate von über 50 Prozent und einer Armutsquote von 40 Prozent versucht die argentinische Regierung nun, ihre IWF-Schulden umzuschulden, obwohl die einzige Lösung im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung eine Ablehnung dieser weitgehend fiktiven Schulden wäre.
  9. Für die Massen sinkt der Lebensstandard erneut. Dies kommt zu den Auswirkungen der anhaltenden Wirtschaftskrisen in vielen ärmeren Ländern hinzu, die in einigen Ländern mit einer Verschlechterung der klimatischen und ökologischen Bedingungen einhergehen. Die Lebensmittelpreise sind in die Höhe geschnellt. 2021 lag der FAO-Lebensmittelpreisindex im Durchschnitt um 28,1 Prozent höher als 2020, so dass viele gezwungen waren, ihre Ernährung einzuschränken. Die Vereinten Nationen schätzen, dass im Jahr 2020 bereits 320 Millionen Menschen den Zugang zu angemessenen Nahrungsmitteln verloren haben, womit sich die Gesamtzahl auf 2,4 Milliarden erhöhte, was fast einem Drittel der Weltbevölkerung entspricht.
  10. Aber nicht nur die Wirtschaftskrise fordert ihre Opfer. Allein im Jahr 2020 wurden schätzungsweise fast 10 Millionen Menschen durch Konflikte vertrieben, aber über 30 Millionen wurden durch Stürme, Überschwemmungen, Waldbrände und Dürren aus ihren Häusern vertrieben. Im September 2021 prognostizierte die Weltbank, dass der Klimawandel bis 2050 216 Millionen Menschen dazu zwingen könnte, innerhalb ihres eigenen Landes zu migrieren. Allein ohne Luftverschmutzung würden die Menschen in Indien durchschnittlich 5,9 Jahre länger leben, mehr als das Doppelte des weltweiten Durchschnitts von 2,2 Jahren.
  11. In einem Land nach dem anderen stellt sich vor allem für die Jugend die Frage, welche Zukunft winkt oder oft auch droht?
  12. Die Instabilität wird durch die internationale Situation zunehmender Rivalitäten nicht nur zwischen den USA und China verstärkt, sondern auch durch ein wachsendes Ringen um strategische Positionen, Einfluss und Profit, an dem größere und kleinere imperialistische Mächte (wie die Türkei), rivalisierende Staaten und innerhalb von Staaten verschiedene Ethnien, Religionen oder Stämme beteiligt sind. Die Intensität von Konflikten und Streitigkeiten ist zwar unterschiedlich, aber es gibt keinen Kontinent, der davon verschont bleibt, und sie können in ärmeren Ländern besonders ausgeprägt sein. Gegenwärtig ist fast ganz Afrika von solchen Konflikten betroffen, von den Maghreb-Staaten und Nordafrika südwärts bis zur Sahelzone, Ost- und Westafrika und darüber hinaus bis Zentralafrika und Mosambik. Die seit langem bestehenden Konflikte im Nahen Osten haben sich durch das veränderte Kräftegleichgewicht in der Welt und die Stärkung der Position des Irans nach der von den USA angeführten Invasion im Irak verschärft. Die Entwicklung neuer Allianzen zwischen Israel und einigen arabischen Staaten bedeutet weder ein Ende der Notlage der Palästinenser*innen noch ein Ende der Gefahr künftiger Konflikte, an denen Israel beteiligt ist. Auch wenn die Konflikte im Nahen Osten derzeit, abgesehen von Jemen, im Allgemeinen diplomatisch oder von geringer Intensität sind, können sie doch schnell wieder aufflammen – wie sich wiederholt im Gaza-Streifen gezeigt hat. Das gilt auch für die Lage in Süd- und Südostasien.
  13. Wie das CWI in den letzten Jahrzehnten erklärt hat, ist ein Merkmal dieser Periode wiederholter Krisen die politische Schwäche vieler Bewegungen der Arbeiter*innenklasse. Dies ist eine Folge von zwei Hauptfaktoren. Erstens die Auswirkungen des Zusammenbruchs des Stalinismus auf das politische Bewusstsein, insbesondere auf die allgemeine Vorstellung vom Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus. Zum anderen die Degeneration der meisten ehemaligen sozialdemokratischen und vieler kommunistischer Parteien zu eindeutig pro-kapitalistischen Formationen oder zu solchen, die die Frage des Sozialismus bestenfalls noch als nostalgischen Hommage an die Vergangenheit aufwerfen.
  14. Dies hat dazu geführt, dass einerseits die meisten der derzeit existierenden Arbeiter*innenorganisationen nicht einmal formell eine sozialistische Alternative zu den gegenwärtigen Krisen bieten; dass es andererseits zahlreiche Länder gibt, in denen keine Arbeiter*innenorganisationen existieren, die auch nur potenziell eine solche Alternative bieten könnten. Wo ein solches Vakuum besteht, können sich andere, nicht der Arbeiterklasse angehörende Kräfte entwickeln und die zweifellos vorhandene Wut und Unzufriedenheit in andere Kanäle wie nationale, religiöse oder stammesbezogene Konflikte lenken. So sind islamisch-fundamentalistische Kräfte in verschiedenen Teilen Afrikas und Asiens gewachsen, während es in Teilen des Nahen Ostens Anzeichen für ein Wiederaufleben des „Islamischen Staats“ gibt. In Brasilien und Indien nutzen Bolsonaro bzw. Modi den religiösen Fundamentalismus als Mittel zur Mobilisierung von Unterstützung.
  15. Die Abwesenheit bzw. Schwäche der Arbeiter*innenbewegung ist ein entscheidender Faktor bei der Verschärfung von Konflikten um die nationalen Frage in vielen Ländern mit ethnischen Konflikten, Tendenzen zum Auseinanderbrechen von Staaten und Balkanisierung. Solche Entwicklungen häufen sich vor allem in Afrika, dem Nahen Osten und Asien – Regionen, die besonders unter der historischen Politik der rivalisierenden Imperialismen gelitten haben, Länder unter sich aufzuteilen oder zu kombinieren. In Ermangelung einer starken Arbeiterbewegung können soziale Krisen die Aufspaltungstendenzen beschleunigen. Die ethnien- und konfessionsübergreifenden Proteste im Libanon veranschaulichen das vorhandene Potenzial für eine Alternative. Sie können aber ohne klare Politik und Strategie ihr Ziel verfehlen. Unter solchen Umständen muss die Arbeiter*innenbewegung mit einem Programm ausgestattet werden, das die Verteidigung von Minderheiten und des Selbstbestimmungsrechts mit dem Streben nach dem Aufbau einer vereinigten Bewegung verbindet, die für demokratischen Rechte und eine Regierung aus Vertreter*innen der Arbeiter*innen und der Armen kämpft, um eine sozialistische Transformation einzuleiten. Selbst dort wo wir Marxist*innen die Bildung neuer Nationalstaaten unterstützen, bestehen wir darauf, dass diese die Rechte aller, einschließlich der Minderheiten innerhalb des neuen Staates, verteidigen müssen und von einer Regierung geführt werden müssen, deren Politik den Bruch mit dem Kapitalismus zum Ziel hat. Eine solche neue Nation, die auf der Grundlage des Bruchs mit dem Kapitalismus gegründet wird, bräuchte jedoch von Anfang an eine internationalistische Perspektive, die sowohl an die Unterstützung für ihr Existenzrecht appelliert als auch an die Arbeiter*innen und Armen weltweit, ihrem Beispiel zu folgen, mit dem Kapitalismus zu brechen und gemeinsam mit dem Aufbau einer sozialistischen Zukunft zu beginnen.
  16. In Afrika und Teilen des Nahen Ostens ist ein zunehmendes Merkmal der gegenwärtigen instabilen Periode die Tendenz zur Desintegration der Gesellschaft, zum Zusammenbruch der Infrastruktur und in einigen Fällen zum Zerfall der Nationalstaaten. Diese Aufspaltungen können ethnisch, religiös oder sprachlich begründet sein oder, wie im Falle Libyens, zu denjenigen Staatsgebilden zurückführen, welche vor der Errichtung der Kolonialherrschaft der modernen Imperialisten bestanden. In diesen Situationen des Zusammenbruchs gibt es positive Beispiele, wie etwa die der arbeitenden Menschen in Südafrika, die sich zusammenschließen, um den Nachbarschaften, in denen sie leben, einige der Grundbedürfnisse des täglichen Lebens zu sichern. Etwas Ähnliches hat sich im Sudan entwickelt, wo in einigen Gebieten die Widerstandskomitees Lebensmittel bereitstellen und für medizinische Versorgung sorgen, während sie gleichzeitig den Kampf gegen die Militärherrschaft organisieren.
  17. Ein wiederkehrendesMerkmal der gegenwärtigen Periode ist das Aufkommen spontaner Massenbewegungen, die das gesamte kapitalistische System herausfordern. Der Estallido Social (Sozialer Ausbruch) in Chile, der 2019 durch eine geringfügigen Erhöhung der Fahrpreise in Santiago ausgelöst wurde, entwickelte sich zu einer massiven Rebellion sowohl gegen das Erbe der Pinochet-Diktatur als auch gegen die traditionellen politischen Parteien, welche das bestehende politische System erschütterte und die herrschende Klasse in die Defensive zwang. Steuererhöhungen und die offizielle Reaktion auf die Covid-Pandemie trugen dazu bei, die gewaltigen Proteste, einschließlich Generalstreiks, in Kolumbien im Jahr 2021 auszulösen, bei denen sich die Basis für umfassendere Forderungen organisierte. Der Aufbau neuer oder die Wiederbelebung bestehender Arbeiter*innenorganisationen sind wichtige Schritte vorwärts. Der zweitägige landesweite Streik iranischer Lehrerinnen und Lehrer, gefolgt von landesweiten Aktionstagen, im Dezember 2021 war eine wichtige Etappe in den Kämpfen der Beschäftigten in diesem Land und in der Entwicklung unabhängiger Arbeiter*innenorganisationen seit 2017. Angesichts von 230 Streiks und Protesten, die im Dezember 2021 im Iran stattfanden, kann es keinen Zweifel am Potenzial für die Entwicklung einer Arbeiter*innenbewegung geben, die eine Klassenalternative für Lohnabhängige, Arme und Unterdrückte bietet, für die sie kämpfen können.
  18. Während spontane Bewegungen äußerst wichtig sind und in einigen Fällen den Sturz der herrschenden Klassen tatsächlich auf die Tagesordnung setzen können, werden solche Revolutionen ohne ein klares Programm und einen Plan mit konkreten Schritten nicht siegen können. Deshalb haben Marxist*innen immer wieder die Schlüsselrolle einer bewussten Arbeiter*innenbewegung erklärt, insbesondere mit einer organisierten Gruppe von Revolutionär*innen, um Kämpfe und Revolutionen anzuführen, die die Macht des Kapitalismus und Imperialismus brechen können.
  19. Das Fehlen solcher Bewegungen und politischer Organisationen mit einem klaren sozialistischen Programm und einer klaren Strategie hat dazu geführt, dass es zwar in den letzten Jahren immer wieder Kämpfe und Revolutionen gegeben hat, aber keine bewussten Bewegungen, um den herrschenden Klassen die Macht zu entreißen. Dies hat immer wieder dazu geführt, dass Revolutionen ihre Ziele verfehlen oder besiegt werden und die herrschenden Klassen erfolgreich auf Zeit spielen, indem sie Volks- und Arbeiterführer*innen in pro-kapitalistische Regierungen einbinden; diese erklären dann zwar, sie würden die Revolution “verteidigen”, verteidigen aber in Wirklichkeit – bewusst oder unbewusst – den Kapitalismus.
  20. Im Kampf gegen alte Eliten und korrupte Parteien ist in einigen Jugendbewegungen die Idee aufgekommen, “Jugendparteien” zu gründen – wie zuletzt für einen kurzen Zeitraum bei den EndSARS-Protesten, auch wenn dort solch eine Partei nie zustande kam. Wir Sozialist*innen begrüßen die Idee, neue Parteien zu gründen, die wirklich für die Interessen der Jugend, der arbeitenden Menschen und der Armen kämpfen. Junge Menschen können die treibende Kraft dahinter sein, aber Sozialist*innen warnen davor, dass solche Parteien auf einem sozialistischen Programm und nicht auf dem Alter basieren müssen, denn das Alter selbst ist kein Hindernis für Opportunismus oder Korruption.
  21. Je nach Situation führt dies nicht nur dazu, dass eine herrschende Klasse ihre Herrschaft wie bisher stabilisieren kann, sondern dies kann auch von brutaler Repression begleitet sein. Im Allgemeinen haben die international herrschenden Klassen unter dem Banner des Kampfes gegen den Terrorismus und jetzt auch gegen Covid ihre Repressionsmöglichkeiten aufgestockt, indem sie die staatlichen Streitkräfte verstärkten und neue Gesetze und Techniken der Kontrolle, Überwachung und Repression einführten. Dies ging einher mit der Zunahme von Söldnertruppen, Paramilitärs, “inoffiziellen” Methoden und Milizen, die sowohl zur Repression als auch bei internen Konflikten eingesetzt werden.
  22. Aufgrund dieser Entwicklungen stehen die Fragen der Verteidigung der demokratischen Rechte und der Bekämpfung der verschiedenen Formen der Unterdrückung ganz oben auf der Tagesordnung.
  23. Auch wenn die Arbeiter*innenbewegung Niederlagen erleiden kann, manchmal schwere, wird sie früher oder später immer wieder aufleben. In Südasien haben wir gesehen, wie reaktionäre und autoritäre Regierungen von Protesten, herausgefordert wurden und sogar Niederlagen einstecken mussten. In Malaysia wurde die UMNO, welche die politischen Verhältnisse des Landes in den ersten 61 Jahren seiner Unabhängigkeit beherrschte, 2018 vom Thron gestoßen. Der wichtige Rückschlag für die Modi-Regierung in Indien durch die einjährige Massenbewegung der Bauern ist äußerst bedeutsam und kann anderen Schichten Zuversicht geben. In Sri Lanka gab es trotz der anhaltenden Nachwirkungen des Bürgerkriegs und einer repressiven Regierung wichtige Streiks von Lehrer*innen, Beschäftigten im Gesundheitswesen und jetzt auch im Energiesektor. Auch in Pakistan gab es in letzter Zeit Kämpfe von Arbeiter*innen und Widerstand gegen den wachsenden Einfluss des chinesischen Imperialismus. In ähnlicher Weise gab es im Nahen Osten die ethnien- und konfessionsübergreifenden Proteste im Libanon gegen die Korruption und den faktischen Zusammenbruch der Wirtschaft, während es im Irak Massendemonstrationen gegen die Regierung gab. Bezeichnenderweise bleibt in Tunesien die Gewerkschaftsbewegung trotz ihrer reformistischen Führung, welche sich dem Verfassungsputsch von Präsident Saied nicht widersetzte, ein wichtiger Bezugspunkt für den Kampf.
  24. Am auffälligsten waren die sich entfaltende Bewegung in Myanmar und die Revolution, die Ende 2018 im Sudan begann. Trotz der Unterdrückung durch das Militär, bei der in zehn Monaten mindestens 1.300 Menschen ums Leben kamen, hält der Massenwiderstand in Myanmar gegen den Putsch vom Februar 2021 an. Während die Massendemonstrationen vorerst weitgehend zum Stillstand gekommen sind, hat sich ein militärischer Aufstand gegen die Junta und ihre Streitkräfte entwickelt, der sich zum Teil auf nationale Minderheiten stützt, aber auch eine breitere Basis hat, was sich in dem stetigen Strom von Überläufern aus den Streitkräften zeigt, die sich den Rebellen anschließen. Der “stille Streik” vom Dezember 2021, ein Protest der die Menschen aufrief, zuhause zu bleiben, fand breite Unterstützung.
  25. In Indien haben die Gewerkschaften zwar zu gut unterstützten Generalstreiks aufgerufen – am Streik im November 2020 beteiligten sich mehr als 250 Millionen Beschäftigte -, aber diese Streiks wurden nicht als Teil eines Aktionsplans zur Mobilisierung der breitesten Schichten, einschließlich der armen Bäuerinnen und Bauern, im Kampf gegen die Regierung und den Kapitalismus selbst durchgeführt. Dies zeigt sich auch in dem ersten Aufruf zu einem zweitägigen Streik im Februar 2022.
  26. Der bloße Aufruf zu unbefristeten Generalstreiks, wie dies in Nigeria häufig der Fall gewesen ist, ist an sich jedoch kein Programm. Die nigerianischen Gewerkschaftsführer*innen haben Generalstreiks regelmäßig als “Sicherheitsventile” eingesetzt, stets darum bemüht deren Auswirkungen einzuschränken; im September 2020 sagten sie sogar einen Streik in letzter Minute ab, weil sie befürchteten, dass er, sobald er erst einmal begonnen hätte, nur schwer zu kontrollieren sein würde. Die nigerianische Gewerkschaftsführung befürchtete eine Wiederholung des Ereignisses vom Januar 2012, als eine spontane Massenprotestbewegung zu einem unbefristeten Generalstreik führte. Diese Bewegung, die bisher größte in der nigerianischen Geschichte, zeigte die Kraft von Massenaktionen, aber auch, dass solche Generalstreiks die Machtfrage aufwerfen – die Frage, wer das Land regiert. Unbegrenzte Generalstreiks können nicht unbegrenzt fortgesetzt werden, und wenn das alte Regime weiter an der Macht bleibt, ist die Chance auf einen gesellschaftlichen Wandel vertan, selbst wenn Zugeständnisse gemacht werden. Nichtsdestotrotz sind die Gewerkschaftsführer nicht immun gegen den Druck der Massen, wie man Ende 2021 gesehen hat, als die Kombination aus mehreren Krisen und wachsender Wut die nigerianischen Gewerkschaftsführer*innen dazu zwang, zu Aktionen gegen drohende Preiserhöhungen aufzurufen. Obwohl diese Proteste nach einem Rückzieher der Regierung abgesagt wurden, gab diese Entwicklung Marxist*innen eine weitere Gelegenheit, einen konkreten Aktionsplan und ein Programm zu entwickeln, für das die Arbeiter*innen und Armen kämpfen können, und gleichzeitig die Notwendigkeit einer kämpferischen Führung zu erklären.
  27. Manchmal können anhaltende Massenproteste ein Regime so untergraben, dass es seine Basis verliert oder sich ein Teil der Machthaber´*innen abspaltet, der Zugeständnisse machen will, um Zeit zu gewinnen. So geschehen in Ägypten im Jahr 2011. In Myanmar hingegen ist das Regime, dessen Militärführer auch stark in die Wirtschaft involviert sind, bisher weitgehend intakt geblieben und entschlossen, die Bewegung und den zunehmenden Aufstand auszusitzen, wobei es zunehmend auf Repressionen setzt, um seine Macht zu erhalten.
  28. Dies wirft die Frage auf, wie es mit dem Kampf gegen die Junta in Myanmar weitergeht. Es geht nicht nur um die Beseitigung des Militärregimes, sondern auch darum, was dann folgen sollte. Marxist*innen erklären hierbei stets, dass die Frage nicht nur darin besteht, wie man eine Massenbewegung aufbaut und einen Aufstand zur Absetzung des Militärs vorbereitet. Allein die Beseitigung der bestehenden Militärspitze wird die Bedürfnisse der Massen in Myanmar nicht erfüllen und würde, wenn keine grundlegenden Veränderungen stattfinden, den Weg für ein zukünftiges repressives Regime offen lassen. Die Alternative ist ein bewusster Vorstoß zur Mobilisierung der Massenunterstützung für ein Übergangsprogramm, das demokratische Forderungen, die Forderung nach einer revolutionären verfassungsgebenden Versammlung und ein Programm zur Umgestaltung Myanmars beinhaltet, indem die Macht in die Hände der Arbeiter*innenklasse, der Armen und Unterdrückten gelegt wird.
  29. Gleichzeitig stellt sich, ähnlich wie in Algerien, an diesem Punkt des Kampfes die Frage, wie die Bewegung aufgebaut werden kann, einschließlich der Frage, welche Organisationen aufgebaut und aufrechterhalten werden können, ob sie einen “legalen”, halblegalen oder klandestinen Charakter haben, und wie die Massenmobilisierungen fortgesetzt und die Bewegung gegen Angriffe verteidigt werden kann, einschließlich einer Diskussion über die Rolle bewaffneter Kräfte. Während die Repression natürlich das Funktionieren der Massenbewegung behindern kann, muss feststehen, dass der Schlüssel zum Sieg über die Junta die aktive Beteiligung der breitesten Schichten um ein klares sozialistisches Programm und einen Aktionsplan herum ist.
  30. Diese Frage stellt sich auch in der sudanesischen Revolution, obwohl das Regime in Khartum zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Resolution schwächer ist als das in Myanmar und sich einer besser organisierten Bewegung gegenübersieht, insbesondere in den Widerstandskomitees und auf den Straßen. In den zehn Wochen zwischen dem konterrevolutionären Putsch vom 25. Oktober und Ende 2021 gab es 11 Tage lang landesweite Massenproteste gegen die Militärherrschaft. Die Repression konnte diesen entschlossenen Widerstand gegen die Militärs an der Regierung nicht aufhalten. Jetzt ist im Sudan die weitere Stärkung der Widerstandskomitees – unter Gewährleistung ihrer Demokratisierung und der Einbeziehung breiter Bevölkerungsschichten – der Schlüssel, um nicht nur die Grundlage für den Sturz des Militärs zu schaffen, sondern auch die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwälzen.
  31. Bei allen Revolutionen ist die Erarbeitung eines Programms, das auf die Forderungen der Bevölkerung nach Veränderungen eingeht und konkrete Schritte zu deren Umsetzung vorschlägt, von zentraler Bedeutung. Der sudanesische Gegenputsch vom Oktober 2021 basierte auf der Hoffnung, dass das Scheitern der zivilen Regierung dazu führen würde, dass große Teile der Bevölkerung die Rückkehr des Militärs begrüßen würden. Obwohl die Anhänger*innen des Militärs die zivilen Minister*innen als “Hungerregierung” anprangerten, nachdem sie Mitte 2021 ein IWF-Sparpaket durchgesetzt hatten, löste der Putsch der Militärspitze, die ihre früheren zivilen Partner beiseite schob und wieder offen herrschen wollte, einen neuen revolutionären Aufschwung aus. Doch dies geschieht nicht immer, denn die Enttäuschung über die Ergebnisse der Revolution kann ab einem bestimmten Punkt den Weg für eine Konterrevolution bereiten. Deshalb ist die Frage eines sozialistischen Aktionsprogramms, wie es Lenin im September 1917 in seiner Schrift “Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll” skizzierte, für den Erfolg entscheidend.
  32. Das Argument, dass zur Verteidigung von Revolutionen einfach nur “Einheit” nötig ist, ist nur teilweise richtig, die wirkliche Frage ist die Einheit von wem und wofür? Die maximale Einheit der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten ist absolut entscheidend. Gemeinsame Aktionen im Stil einer “Einheitsfront” mit anderen Kräften gegen die Reaktion sind möglich, wie es die Bolschewiki gegen Kornilows Putschversuch vom August 1917 vormachten. Aber das ist keineswegs dasselbe wie das Akzeptieren des Fortbestands des Kapitalismus als Grundlage für zum Beispiel eine Regierungsbeteiligung oder andere Formen gemeinsamer Aktionen.
  33. Im Sudan hat sich die Parole der “Volksmacht” als zentrale Forderung gegen die Fortsetzung der Militärherrschaft durchgesetzt. Das kann ein Ausgangspunkt sein, aber wir Sozialist*innen füllen diese Forderung mit Leben, indem wir argumentieren, dass eine wirkliche “Volksmacht” nur auf der Grundlage des weiteren Aufbaus von volksnahen und demokratischen Organisationen wie den Widerstandskomitees, der Beseitigung der Militärspitzen und der Verstaatlichung der wichtigsten Wirtschaftssektoren unter demokratischer Kontrolle durch eine Regierung aus Vertreter*innen der Arbeiter*innen und der Armen aufgebaut werden kann. Das Fehlen einer politischen Kraft, die sich dafür einsetzt, dass sich die Widerstandskomitees zusammenschließen und mit anderen wirklich volksnahen Kräften eine revolutionäre Regierung bilden, die das oben genannte Programm trägt, hat den Feinden einer echten Revolution Raum gegeben. Die so genannte “Sudan-Troika” (Norwegen, Großbritannien und die USA) und die Europäische Union versuchen unter dem Banner der Vereinten Nationen, eine pro-kapitalistische Regierung zu bilden, die “ein breites Spektrum von zivilen Akteuren” einbezieht und von der sie hoffen, dass diese die Massenmobilisierungen ausbremsen kann. Sie hoffen verzweifelt, die Führer*innen der Widerstandskomitees dazu zu bringen, einer solchen Regierung beizutreten und so die Revolution zu bremsen. Die Beteiligung an einer solchen Regierung muss von den Aktivist*innen abgelehnt und mit der Idee des Kampfes für eine echte soziale Revolution begegnet werden. Auch wenn ein solcher vom Imperialismus unterstützter Schritt vorübergehend erfolgreich sein kann, wird er die Revolution nicht beenden. Die Revolution richtete sich nicht nur gegen Unterdrückung und Korruption, es ging auch darum, die neu gewonnenen Rechte zu nutzen, um ein besseres Leben zu erreichen, und dieser Kampf wird weitergehen.
  34. Die Wiedergeburt der Arbeiter*innenkämpfe im Iran seit 2017 mit wiederholten Streiks, Streikwellen und Demonstrationen zu betrieblichen Konflikten und Fragen wie der Wasserversorgung hat zu einer Bewusstseinsschärfung geführt, die auch Forderungen nach der Renationalisierung privatisierter Unternehmen unter Arbeiter*innenkontrolle umfasst. In der gemeinsamen Erklärung von 15 Beschäftigten-, Rentner*innen- und anderen Organisationen zum 1. Mai 2021 heißt es unter anderem: “Das Fehlen von Arbeiter*innenorganisationen in allen Betrieben, Regionen und auf nationaler Ebene ist heute mehr denn je spürbar und erfordert sofortige und umfassende Anstrengungen zur Schaffung solcher unabhängigen Organisationen”. Der zweitägige nationale Lehrerstreik im Dezember 2021 war ein Schritt in diese Richtung.
  35. Es liegt auf der Hand, dass sich in solchen Strukturen alle Organisationen, die die Interessen der iranischen Arbeiter*innenklasse vertreten, zusammenschließen könnten, um die Kämpfe gemeinsam zu organisieren, zu diskutieren und zu koordinieren.
  36. Viele im Iran sind auf der Suche nach einer Alternative. Dass die Wahlbeteiligung trotz der enormen Klassenkonflikte und Bewusstwerdung der Arbeiter*innen eingebrochen ist, zeigt die weit verbreitete enorme Enttäuschung über den “reformistischen” Flügel des Regimes. Zweifellos werden die westlichen imperialistischen Mächte versuchen, sich einzumischen und die Opposition unter dem Banner von “Menschenrechten” und “Demokratie” zu beeinflussen. Sie werden Präsident Raisi heuchlerisch anprangern, während sie gleichzeitig enge Beziehungen zur brutalen saudischen Diktatur unterhalten und versuchen, Einfluss innerhalb der Opposition zu gewinnen. Die Arbeiter*innenbewegung im Iran und international muss sich der “falschen Freunde” bewusst sein und ihr eigenes unabhängiges Programm entwickeln.
  37. Umso dringlicher ist es, eine Diskussion über die Gründung einer unabhängigen Arbeiter*innenpartei und über ihr Programm zu beginnen. Eine solche Partei ist notwendig, um die Kämpfe der Beschäftigten und Jugendlichen zu vereinen und sie von den kapitalistischen Kräften unabhängig zu machen. Aber um dies erfolgreich zu tun, müsste sie für ein sozialistisches Programm eintreten, das die Arbeiter*innenklasse und die Armen zum Bruch mit dem kapitalistischen System mobilisieren kann.
  38. Revolutionär*innen sehen eine zentrale Aufgabe im Aufbau unabhängiger, revolutionärer Massenorganisationen, die mit der allgemeinen Entwicklung der Arbeiter*innenbewegung verbunden ist. Dort, wo Arbeiter*innen nicht organisiert sind, sei es in einer Gewerkschaft oder in politischen Parteien, versuchen wir ihnen zu helfen, sich zu organisieren, um sowohl gegen die Unternehmer*innen kämpfen zu können, als auch damit zu beginnen, sich unabhängig von den kapitalistischen Kräften politisch zu organisieren. In Ländern mit einer großen Zahl von Tagelöhnern, Gelegenheitsarbeiter*innen, Kleinhändler*innen und Arbeitslosen ist die Frage ihrer Organisierung zur Unterstützung eines breiteren Kampfes von großer Bedeutung. Aber gleichzeitig zur Hilfe bei der grundlegenden Organisation der Arbeiter*innenklasse plädieren Revolutionär*innen auch für ein Programm, das die unmittelbaren Kämpfe mit der Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus verbindet.
  39. Wie das CWI bereits erklärt hat, verläuft die Entwicklung von Arbeiter*innenparteien nicht auf die gleiche Weise. In einigen Fällen haben sich eindeutig revolutionäre Parteien als Massenkräfte zur gleichen Zeit gebildet, als die Arbeiter*innenbewegung wuchs. In anderen Fällen entwickelten sich breitere Organisationen wie Gewerkschaften und von den Gewerkschaften unterstützte Parteien, in denen Marxist*innen eine Rolle spielten und für ihr Programm eintraten. Eine Mischung dieser Tendenzen war in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie zu beobachten, von ihrer Vereinigung 1875 auf der Grundlage eines nicht-marxistischen Programms bis zur Annahme eines grundlegend marxistischen Programms auf dem Erfurter Kongress 1891. Selbstverständlich haben Marxist*innen aus dem anfänglichen Wachstum und der späteren Degeneration der Sozialdemokratie Lehren gezogen. Wir wollen die Geschichte nicht einfach wiederholen, deshalb müssen die Revolutionär*innen von Anfang an selbst organisiert sein. Die Kombination des Aufbaus spezifischer Arbeiter*innenorganisationen mit dem politischen Kampf für ein marxistisches Programm ist das, was wir die “doppelte Aufgabe” nennen, vor der revolutionäre Organisationen heute stehen.
  40. Der politische Kampf zum Aufbau einer unabhängigen Arbeiter*innenpartei ist derzeit in den meisten Ländern von zentraler Bedeutung. Solche Parteien können sich zunächst auf verschiedenen Wegen entwickeln – zum Beispiel durch das Wachstum politischer Arbeiter*innenorganisationen; durch Strukturen, die während der Massenkämpfe entstanden sind; oder, in einigen Ländern, durch die Gewerkschaften, die ihre Gründung direkt oder indirekt unterstützen. Ein gemeinsamer Faktor ist jedoch, dass Gewerkschaftsführer*innen heute oft versuchen, solche politischen Entwicklungen zu blockieren, indem sie sich mit bürgerlichen politischen Kräften verbünden oder versuchen, eine “unpolitische” Haltung einzunehmen. Der Grund für diese Art von Politik ist die Furcht der pro-kapitalistischen Gewerkschaftsführer*innen, die herrschenden Klassen vor Ort herauszufordern; Bündnisse mit bestehenden politischen Kräften, die ihnen gute Dienste leisten, zu brechen oder ihre Angst davor, wohin solche Parteien, wenn sie gegründet werden, politisch streben werden.
  41. So haben die Gewerkschaftsführer*innen in Nigeria eine solche Entwicklung wiederholt blockiert, indem sie sogar einmal eine Arbeiter*innenpartei gründeten, sich dann aber weigerten, diese als echte Partei funktionieren zu lassen und die Kontrolle über sie an opportunistische bürgerliche Elemente verloren. Jetzt, im Vorfeld der Wahlen 2023, möchten sie die Kontrolle über die Partei zurückgewinnen – sowohl um mit den Politiker*innen der herrschenden Klasse möglicherweise zu paktieren und um es ihnen zu erleichtern, die von den CWI-Genoss*innen und der von diesen gegründeten Sozialistischen Partei Nigerias (SPN) initiierten und inzwischen von einigen anderen aufgegriffenen Forderungen nach dem Aufbau einer echten Arbeiter*innenpartei abzuwehren.
  42. In Südafrika hat der anhaltende Niedergang des ANC, der sich in einem Absturz der Partei auf unter 50 Prozent bei den Kommunalwahlen 2021 zeigt, die Frage nach einer Arbeiter*innenpartei verschärft. Angesichts der Realität der pro-kapitalistischen Politik des ANC und der massiven Korruption berief der damals neu gegründete Südafrikanische Gewerkschaftsbund (Saftu) 2018 einen Arbeiter*innengipfel, den Working Class Summit (WCS), ein, auf dem 1.000 Delegierte von Jugendlichen, Gemeinden und Gewerkschaften eine Erklärung zur Gründung einer Massen-Arbeiter*innenpartei mit einem sozialistischen Programm verabschiedeten.Genossinnen und Genossen des CWI in Südafrika haben sichergestellt, dass die Frage der Arbeiter*innenpartei auf dem Gründungskongress von Saftu 2017 diskutiert wurde, und sich immer wieder dafür eingesetzt, dass dieser Beschluss umgesetzt wird. Alle Strömungen in der Saftu-Führung haben letztlich jedoch versucht, diesen Beschluss zu ignorieren – mit Unterstützung kleinbürgerlicher Akademiker*innen und NGOs innerhalb des WCS. Die stalinistische Gruppierung, die die Metallgewerkschaft Numsa anführt und die Saftu zudem dominiert, versuchte die Umsetzung des WCS-Beschluss jedoch zu blockieren, indem sie im 2018 plötzlich die Socialist Revolutionary Workers Party (SRWP) gründete. Sie behaupteten fälschlicherweise, die SRWP wäre die Partei, auf die die Arbeiter*innenklasse gewartet hötte. Jedoch versagte die SRWP abgrundtief bei den Wahlen 2019 und ein durchgestochener interner Bericht zeigt auf, dass die Partei weniger als 900 zahlende Mitglieder hat. Sie wird extrem undemokratisch geführt und jede Initiative von unten wird blockiert. Das führt bereits zu internen Krisen und ist gleichzeitig unattraktiv für Numsa- und Saftu-Mitglieder. Der wieder einberufene WCS wurde im vergangenen Jahr mehrmals verschoben, aber der Lenkungsausschuss, in dem unsere Genoss*innen vertreten sind, bereitet sich darauf vor, ihn Anfang 2022 abzuhalten, und unsere Genoss*innen fordern, dass er ein Datum für die Gründung einer Arbeiter*innenpartei festlegt. Es ist nicht sicher, dass der neu einberufene WCS dem zustimmen wird. Ob eine Bewegung oder eine Partei gegründet wird, wird natürlich unsere weitere Taktik bestimmen, aber es wäre dennoch ein wichtiger Schritt nach vorn.
  43. Das bürokratische Verhalten der stalinistischen und manchmal auch anderer Gruppen sind nicht die einzigen Hindernisse für die Entwicklung wirklich demokratischer, größerer Arbeiter*innenparteien. Auch wenn sie weniger Wirkung zeigen als in der Vergangenheit, verteidigen die kommunistischen Parteien dort, wo sie noch existieren, weiterhin die im Menschewismus verwurzelte “Etappentheorie”, die von den Stalinist*innen in den 1930er Jahren international übernommen wurde. Sie benutzen diese Theorie als Rechtfertigung dafür, dass die politische Unabhängigkeit der Arbeiter*innenbewegung preisgegeben wird, und verknüpfen Kampagnen für unmittelbare Forderungen nicht mit der Notwendigkeit, dass die Arbeiter*innenklasse eine Bewegung anführt, die bewusst zum Ziel hat mit dem Kapitalismus zu brechen und eine sozialistische Transformation einzuleiten. Letztere Methode, die in zwei der wichtigsten Slogans der Bolschewiki in Russland 1917 zusammengefasst wurde, nämlich “Frieden, Land, Brot” und “Alle Macht den Sowjets”, wurde in den 1920er Jahren allmählich fallen gelassen, als die Ideen und Methoden des Stalinismus begannen, sowohl die Sowjetunion als auch die kommunistischen Parteien international zu verändern. So bilden sowohl die CPI als auch die CPM in Indien immer wieder Bündnisse und Koalitionen mit bürgerlichen Kräften, arbeiten innerhalb des Kapitalismus und bringen nie die Idee einer Arbeiter*innenfront auf, die die Masse der Bevölkerung nicht nur gegen die Modi-Regierung, sondern für einen sozialistischen Wandel mobilisieren könnte.
  44. Dieser Ansatz ist auch ein Faktor für die bei Wahlen häufig anzutreffende Idee des “kleineren Übels”. Wie die chilenischen Präsidentschaftswahlen 2021 gezeigt haben, kann in einer polarisierten Situation sowohl ein enormer Druck bestehen, eine “nützliche Stimme” abzugeben, als auch das Wahlergebnis manchmal sehr wohl enorme Bedeutung erlangen. In Chile kann kein Zweifel daran bestehen, dass ein Sieg des rechtsextremen Kast eine Niederlage gewesen wäre, die wahrscheinlich zu einem schweren Angriff auf die Jugend, Frauen, die indigene Bevölkerung und die Arbeiter*innenklasse geführt hätte. Im ersten Wahlgang sprachen sich die CWI-Genoss*innen in Chile dafür aus, für keinen Kandidaten zu stimmen und sich auf die Fortsetzung der Kämpfe nach der Wahl vorzubereiten; sie riefen nicht dazu auf, für Boric, den späteren Sieger, zu stimmen, da er die prokapitalistischen Elemente innerhalb des Wahlbündnisses Frente Amplio vertrat. Der überraschende Sieg von Kast im ersten Wahlgang änderte jedoch die Situation: Kast stellte eine ernsthafte Bedrohung dar und löste eine weitere Polarisierung und Mobilisierung aus, die zu einem starken Anstieg der Wahlbeteiligung von 47,33 Prozent im ersten Wahlgang auf 55,65 Prozent im zweiten Wahlgang führte, um den Pinochet-Apologeten Kast zu blockieren, was mit fast 1,25 Millionen Stimmen Vorsprung gelang. Dies war nicht die Situation, die sich die Mehrheit der chilenischen herrschenden Klasse für den zweiten Wahlgang gewünscht hatte, vielmehr war die Wahl ein weiteres Beispiel für den Zusammenbruch der “traditionellen” Parteien. Unmittelbar nach dem ersten Wahlgang rief die chilenische Sektion des CWI dazu auf, im zweiten Wahlgang gegen Kast zu stimmen und weiterhin eine Bewegung für eine echte sozialistische Alternative aufzubauen.
  45. Nun entwickelt sich in Brasilien eine ähnliche Situation im Vorfeld der brasilianischen Wahlen zu den Ämtern des Präsidenten, Vizepräsidenten und des Nationalkongress im Oktober 2022. Wie in anderen lateinamerikanischen Ländern gibt es eine enorme Polarisierung, die sich sowohl aus der Geschichte als auch aus der aktuellen Präsidentschaft Bolsonaros ergibt. Der rechtsextreme Populist Bolsonaro versucht – durch eine Kombination aus neuen sozialen Maßnahmen, Demagogie und Drohungen im Stil von Trump, eine Wahlniederlage nicht zu akzeptieren – wiedergewählt zu werden, indem er seine Basis und seine Anhänger*innen im Militär mobilisiert.
  46. Der Druck, Bolsonaro zu besiegen, ist immens und Lula, der derzeitige Spitzenkandidat, könnte durchaus als Gewinner hervorgehen. Dies stellt die herrschende Klasse Brasiliens vor ein Dilemma, da sie nicht darauf vertraut, dass Lula die relative Stabilisierung wiederholen kann, die er während seiner ersten Amtszeit als Präsident erreicht hat. Während der ehemalige Arbeiter*innenführer Lula lange Zeit bereitwillig einen pro-kapitalistischen Kurs eingeschlagen hat, befürchtet die herrschende Klasse, dass Lula trotz seiner Unterstützung für den Kapitalismus von unten unter Druck geraten könnte, Reformen durchzuführen. Dies würde sich von der Situation nach seinem ersten Amtsantritt unterscheiden, als Lula wenige Monate nach Beginn seiner ersten Amtszeit seine Position festigte und die Linke schwächte, indem er einen Präventivschlag gegen linke Kritiker*innen führte und vier Mitglieder des Nationalkongresses aus der PT (Arbeiterpartei) ausschloss, nachdem sie sich gegen eine Verschlechterung der Renten im öffentlichen Sektor ausgesprochen hatten.
  47. Diese Ausschlüsse bildeten die Grundlage für die Gründung der brasilianischen linken Partei Psol, Partei des Sozialismus und der Freiheit, im Jahr 2004. Seit ihrer Gründung gab es in der Psol Debatten über Fragen des Programms, der Strategie und der Beziehungen zu anderen politischen Kräften. Jetzt, im Vorfeld der Wahlen 2022, wird darüber diskutiert, ob Psol in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen einen Kandidaten aufstellen soll. Auf dem Psol-Kongress im September 2021 wurde mit 56 Prozent zu 44 Prozent beschlossen, die Entscheidung über die Aufstellung eines Präsidentschaftskandidaten auf April 2022 zu verschieben. Da die Minderheit wollte, dass Psol einen Kandidaten aufstellt, war dieser Aufschub eindeutig ein Versuch, nicht nur die Entscheidung hinauszuzögern, sondern ist der Versuch eine Kandidatur überhaupt zu verhindern. Es handelte sich um einen nach rechts gerichteten Trend zum “kleineren Übel”, wie er auch bei vielen anderen linken Gruppierungen in anderen Ländern zu beobachten ist, aber diesmal in der ersten Runde, in der Bolsonaro praktisch keine Chance hat, zu gewinnen. Sollte Bolsonaro in die zweite Runde einziehen, wäre es natürlich richtig, zu einer “Abstimmung gegen Bolsonaro” aufzurufen und gleichzeitig auf der Grundlage der Lehren aus den PT-Präsidentschaften zu verdeutlichen, dass man sich nach den Wahlen auf einen Kampf einstellen muss. In diesem Sinne wäre es eine Art “Einheitsfront”-Taktik auf der Wahlebene, die einen gemeinsamen Schlag gegen den rechtsextremen Bolsonaro führt, aber die politische Unabhängigkeit vom prokapitalistischen Lula bewahrt.
  48. Die Niederlage rechter Regime, der Sturz von Diktatoren und sogar die Niederlage rechter Kandidaten gegen vermeintlich linke Kandidaten bei Wahlen löst verständlicherweise immer wieder Begeisterung aus. 2021 haben wir das bei den Siegen von Castillo in Peru, Xiomara Castro in Honduras und Boric in Chile gesehen. Marxist*innen verstehen diesen Enthusiasmus – sie teilen die Freude über die Niederlage der Rechten, widerstehen aber gleichzeitig der “Berauschung” durch einen anfänglichen, noch unvollständigen Sieg. In Russland warnte Lenin 1917 wiederholt davor, sich am Erfolg des Februarsieges zu „berauschen”, wenn die Revolution noch nicht vollendet und die Gefahr der Konterrevolution immer noch präsent war.
  49. In solchen Situationen ist es notwendig, klar zu sagen, was die nächsten Schritte sein müssen, um zu vermeiden, dass solche Siege nicht letztlich doch zu einer Niederlage führen, statt die erhofften grundlegenden Veränderungen zu erreichen. Aus der reichen Geschichte des Kampfes und der Revolutionen in Lateinamerika und anderswo müssen die Schlussfolgerungen gezogen werden, dass es notwendig ist, ein klares Programm zu haben und alle Mittel, einschließlich Wahlpositionen, einzusetzen, um Unterstützung dafür zu gewinnen.
  50. Das bedeutet, dass man zu prinzipienlosen Zugeständnissen nicht bereit sein darf, sondern für den Aufbau einer aktiven Massenbewegung kämpft. Die alte “Unidad Popular“ in Chile war von Anfang an dadurch behindert, dass sie von den Führer*innen der Kommunistischen Partei und dem rechten Flügel der Sozialistischen Partei beherrscht wurde, die einen Bruch mit dem Kapitalismus “zum jetzigen Zeitpunkt” ausschlossen und so die Bewegung ausbremsten. Dem widersetzten sich zunehmend diejenigen, die die wachsende revolutionäre Gesinnung immer größerer Teile der Arbeiter*innen und Jugendlichen widerspiegelten, als sich die objektive Situation zwischen 1970 und 1973 zwischen Revolution und Konterrevolution polarisierte.
  51. In den Jahren seither gab es mächtige Bewegungen, verlorene Chancen und schwere Niederlagen für die Arbeiter*innenbewegungen in Lateinamerika. Während Kuba eine weitgehend verstaatlichte Wirtschaft beibehielt, hat es seit Anfang der 1990er Jahre verschiedene Krisen durchlebt. Jetzt hatte Covid große Auswirkungen, da der Tourismus zurückging, während die Biden-Regierung die von Trump eingeführten härteren Sanktionen aufrechterhielt. Obwohl es international Sympathie für Kuba gibt, wird es nicht mehr so sehr als Alternative gesehen wie früher. Trotz der begrenzten Debatte innerhalb Kubas, einschließlich der Kritik an der Öffnung zum Kapitalismus, zeigt die harte Reaktion des Regimes auf die Proteste im Juli 2021, dass es Angst hat. Es besteht kein Zweifel, dass die Gefahr einer vollständigen kapitalistischen Konterrevolution besteht. Das CWI hat argumentiert, dass dem nur durch ein Programm entgegengewirkt werden kann, das eine echte Arbeiter*innendemokratie, ein Ende der privilegierten Elite, ein demokratisch kontrolliertes wirtschaftliches Notprogramm und einen wirklich internationalistischen Appell nicht nur an die Solidarität, sondern auch an die Arbeiter*innen und Jugendlichen in anderen Ländern verbindet, um den Bruch mit dem Kapitalismus durchzusetzen und mit dem Aufbau einer echten sozialistischen Demokratie zu beginnen.
  52. Doch obwohl es in Lateinamerika inzwischen einige Kräfte gibt, die den “Sozialismus” in Worten erwähnen, trug eine Kombination aus dem Scheitern früherer “linker” Regierungen wie der von Allende in Chile, dem Zusammenbruch der meisten stalinistischen Staaten und der tiefen Krise in Venezuela dazu bei, dass viele linke Führer*innen den Weg der Arbeit innerhalb des Kapitalismus weiter verfolgten. In vielen Fällen war dies das Ergebnis davon, dass Arbeiter*innen- oder linke Führer nicht bereit waren, mit dem Kapitalismus zu brechen und, damit verbunden, Bündnisse mit pro-kapitalistischen Elementen und Kräften eingingen. Dies ist die Grundlage für die Krisen, die so genannte “linke” oder “fortschrittliche” Regierungen, die versuchen, innerhalb des Kapitalismus zu arbeiten, häufig treffen. In Honduras traf die erste Krise Xiomara Castro, noch bevor sie als Präsidentin vereidigt wurde, als sich ihre Libre-Partei spaltete und ein Teil ihrer Parlamentarier*innen einen Deal mit den korrupten traditionellen Parteien einging, der wahrscheinlich alle sinnvollen Reformen blockieren wird. Die einzige Möglichkeit, eine solche Sabotage zu verhindern, besteht darin, eine Massenbewegung mit einem klaren Programm für den Bruch mit dem Kapitalismus zu mobilisieren. Die Weigerung der als links angesehenen Regierungen, diesen Schritt zu tun, führt jedoch unweigerlich zu Enttäuschungen, insbesondere in Krisenzeiten, und kann rechten Regierungen und sogar der Konterrevolution Tür und Tor öffnen. Solche rechten Regierungen haben jedoch oft keine sichere Grundlage, da sie aufgrund der Enttäuschung über frühere “linke” Regierungen ins Amt gekommen sind.
  53. Die Situation, der sich Castillo in Peru nach seiner Wahl im Juni 2021 zum Präsidenten gegenübersah, war in gewisser Hinsicht ähnlich zu der Xiomara Castros. Er sah sich mit einem überwältigend feindseligen Parlament konfrontiert, was nur überwunden werden konnte, wenn er die Präsidentschaft und eine unabhängige Bewegung außerhalb des Parlaments nutzte, um eine aktive Massenunterstützung für sozialistische Veränderungen aufzubauen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Zunächst versuchte Castillo, ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Kräften herzustellen. Er ernannte einen Premierminister von Peru Libre – einer Partei, die sich selbst als marxistisch bezeichnet und unter deren Banner er für die Präsidentschaft kandidierte -, während er einen pro-kapitalistischen ehemaligen Weltbank-Ökonomen zum Wirtschaftsminister machte. Dies dauerte 69 Tage, bevor Castillo den Ministerpräsidenten ablöste, ein Schritt nach rechts, der von einem Sonderparteitag der Peru Libre kritisiert wurde. Die Enttäuschung über Castillo wächst, seine Popularität sank im vergangenen Dezember auf nur noch 25 Prozent. Auch wenn Castillo unter Druck einen Zickzackkurs fährt, kann diese Situation nicht ewig andauern. Ohne den Aufbau einer Massenbewegung durch Revolutionär*innen, die ein klares sozialistisches Programm und eine Strategie zum Bruch mit dem Kapitalismus haben, besteht früher oder später die Gefahr einer Rückkehr der Reaktion.
  54. Die Herausforderung, außerhalb der Parlamente ihre Kräfte aufzubauen, stellt sich auch der nunmehr der aus jetzt vier Parteien bestehenden „Front der Linken und der Arbeiter*innen – Einheit“ (FIT-U) in Argentinien. Bei den Wahlen im November 2021 erhielt sie 1.373.548 Stimmen (5,91 Prozent) und verdoppelte die Zahl ihrer Sitze in der nationalen Abgeordnetenkammer von zwei auf vier, womit sie ihren bisherigen Höchststand von 1.211.252 Stimmen (5,36 Prozent) und drei Sitzen im Jahr 2013 übertraf. Dies ist zweifellos ein bedeutender Stimmenzuwachs für diese Parteien, die sich selbst als trotzkistisch bezeichnen, und muss als Plattform gesehen werden, von der aus der Peronismus herausgefordert und eine breitere Unterstützung innerhalb der Arbeiter*innenklasse aufgebaut werden kann. Mit einer solchen Basis stellt sich für jede marxistische Partei die zentrale Frage, wie sie eine Mehrheit in der Arbeiter*innenklasse gewinnen kann – dieselbe Frage, vor der die Bolschewiki nach der Februarrevolution standen.
  55. Aber die Entwicklung wird nicht geradlinig verlaufen. Angesichts des Ausmaßes der Krise ist es möglich, dass, wie Trotzki im Übergangsprogramm schrieb, die Regierungen “unter dem Einfluss eines außergewöhnlichen Zusammentreffens bestimmter Umstände” “auf dem Weg des Bruchs mit der Bourgeoisie weiter gehen können, als ihnen selbst lieb ist.”. Aus diesem Grund fürchten Teile der brasilianischen herrschenden Klasse eine neue Lula-Präsidentschaft, die von den Massenbewegungen zu Maßnahmen gedrängt werden könnte, die sie ablehnen. Eine Herausforderung für Marxist*innen ist die Frage, wie sie auf solche Entwicklungen reagieren sollen.
  56. Diese Frage kann sich auch stellen, wenn beispielsweise Militärputsche wie in Mali zumindest anfänglich einen gewissen Rückhalt haben, weil man glaubt, dass sie sich gegen korrupte Machthaber richten. In einer anderen Form fand der Schritt des tunesischen Präsidenten gegen die Regierung und das Parlament eine gewisse Unterstützung in der Bevölkerung und stieß nicht sofort auf großen Widerstand. Wenn zum Beispiel echte Reformen oder auch nur begrenzte Maßnahmen gegen die Korrupten angeboten würden, müssten Marxist*innen im Dialog mit breiteren Schichten auf solche Stimmungen reagieren. Alle positiven Schritte müssten begrüßt werden, während von Anfang an die Notwendigkeit betont werden müsste, dass die Arbeiter*innenklasse eine unabhängige Rolle spielen, demokratische Rechte verteidigen und mit einem sozialistischen Programm für eine Regierung der Arbeiter*innen und Armen auf der Grundlage von demokratischen Massenorganisationen eintreten sollte.
  57. Natürlich hängen die Einzelheiten von den genauen Umständen ab. In Ägypten zielte der politische Eingriff des Militärs im Februar 2011 eindeutig darauf ab, das System zu schützen, indem die Mubarak-Clique geopfert wurde. Am Tag des Rücktritts von Mubarak warnte das CWI in einer in Kairo verteilten Erklärung vor der möglichen künftigen Rolle des Militärs und argumentierte: “Die Forderungen der Arbeiter*innen, Armen und Jugendlichen können nicht erfüllt werden, wenn nicht alle Elemente des alten Regimes vollständig beseitigt werden. Der Kapitalismus kann für die ägyptische Gesellschaft keinen Weg in die Zukunft bieten. Die Linke darf sich keiner Koalitionsregierung mit Pro-Kapitalisten anschließen, sondern muss sich für eine Regierung aus Vertreter*innen der Arbeiter*innen, Kleinbäuerinnen und -bauern und der Armen einsetzen, die eine echte sozialistische Umgestaltung Ägyptens durchführt.”
  58. In der heutigen stürmischen Zeit bleibt der Kampf um Unterstützung für die Ideen des Sozialismus und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels die oberste Priorität für Revolutionär*innen. Dies hängt mit der Notwendigkeit zusammen, eine wirklich kämpferische und kampffähige Arbeiter*innenbewegung wiederherzustellen oder aufzubauen.Einige Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben eine Rolle in Kämpfen gespielt und in Ländern wie Indien werden NGOs nun angegriffen und müssen verteidigt werden. Jedoch müssen Sozialist*innen, besonders in der neokolonialen Welt, gegen den politischen Einfluss jener NGOs und staatlicher “Entwicklungs”-Agenturen kämpfen, die versuchen, Kampagnen und Aktivismus möglichst “unpolitisch” zu gestalten, d.h. innerhalb des Systems zu arbeiten, während sie Versuche, echte unabhängige, kämpferische Arbeiter*innenorganisationen aufzubauen, einschränken. Der NGOisierung von Aktivist*innen, Gruppen und Kämpfen kann nur widerstanden werden, indem man nicht zulässt, dass ein “unpolitischer” Ansatz die Kampagnenarbeit für die Unterstützung sozialistischer Ideen und den Aufbau von Arbeiter*innenorganisationen beeinträchtigt.
  59. Jeder Kontinent kann Beispiele mächtiger gesellschaftlicher Kämpfe bieten. Die Herausforderung besteht darin, die politische Grundlage und die Organisationen aufzubauen, die den Bewegungen ein Programm und eine Strategie geben können, um nicht nur die unmittelbaren Forderungen durchzusetzen, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwälzen. Es besteht kein Zweifel daran, dass eine erfolgreiche Machtergreifung der Arbeiter*innen in einem einzigen Land eine rasche internationale Wirkung haben würde, die größer wäre als die revolutionäre Welle, die “Tage, die die Welt erschütterten”, die auf die russische Revolution von 1917 folgten. Das ist die Perspektive für einen Ausweg aus der schrecklichen Situation, in der sich ein Großteil der Welt derzeit befindet und welche weiter bestehen wird, solange der Kapitalismus besteht.