Frankreich nach dem ersten Wahlgang

Ersteller: Jonas Costagliola Urheberrecht: Creative Commons BY-NC-ND

Erfolg von Mélenchons Linksbündnis zeigt Potenzial für einen Sieg über Macron durch Klassenkämpfe

In der ersten Runde der Parlamentswahlen erhielt das Linksbündnis NUPES (Nouvelle Union Populaire Écologique Et Sociale  , angeführt von Jean-Luc Mélenchon) ein gutes Ergebnis und bestätigte die Unterstützung für Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen April, bei denen er 7,7 Millionen Stimmen erhielt.

Stellungnahme von Gauche Révolutionnaire (CWI in Frankreich)

Er hatte eine Kampagne mit einem Programm angeführt, das die Wünsche der Arbeiter*innen und der gesamten Bevölkerung aufgriff, darunter die Forderung nach höheren Löhnen und einem Mindestlohn von 1500 Euro im Monat, nach Renten mit 60 Jahren, nach der Verteidigung der öffentlichen Dienste und nach einer Erhöhung der Steuern für Reiche und multinationale Unternehmen, um all dies zu finanzieren.

Die kapitalistische Presse wettert seit Wochen gegen diese Maßnahmen, die sie wenig überraschend als “unrealistisch” und “gefährlich” ansieht – für Kapitalist*innen und multinationale Unternehmen. Der Preis für Angstmache geht an den so genannten “Wirtschaftsexperten” von BFM TV, der sagte: “Wenn die Preise eingefroren werden, wird es zu Engpässen kommen … Ein Bäcker wird kein normales Brot mehr herstellen, sondern nur noch Spezialbestellungen”.

Emmanuel Macrons Koalition “Gemeinsam” (“Ensemble”), die Rechten in Les Républicains (LR) und die Rechtsextremen – Marine Le Pens Rassemblement National (RN) und Eric Zemmours Reconquête – wurden von einem gemeinsamen Schreckgespenst heimgesucht: dem möglichen Sieg einer Linkskoalition, die den Arbeiter*innen und Jugendlichen zeigt, dass sie nicht unter einer unsozialen Politik leiden müssen.

NUPES hat fast 6 Millionen Stimmen erhalten, trotz einer sehr hohen Wahlenthaltung von 52 Prozent, insbesondere in kleinen Arbeiter*innenstädten und Arbeiter*innenvierteln. Das Stimmenergebnis für die NUPES liegen gleichauf mit dem von Macron, dessen Stimmen im Vergleich zu 2017 stark rückläufig sind. Seine Koalition Ensemble, in der La République en Marche (LaREM), die Demokratische Bewegung (MoDem) und verschiedene Parteien der “Mitte” zusammengeschlossen sind, erhielt 5,8 Mio. Stimmen, gegenüber 7,5 Mio. für dieselben Parteien im Jahr 2017.

Dies ist die erste Ermutigung. Es ist durchaus möglich, durch die Wahl der größtmöglichen Anzahl von NUPES-Kandidaten am 19. Juni (d.h. in der zweiten Runde der Parlamentswahlen) zu verhindern, dass Macron eine Mehrheit in der Nationalversammlung erhält, was eine echte Niederlage für den “Präsidenten der Reichen” wäre.

NUPES – eine kämpferische Kampagne

Die Kandidat*innen von NUPES stehen in 406 Wahlkreisen in der zweiten Runde. In 278 Wahlkreisen werden sie gegen einen Kandidaten von Ensemble antreten. In 63 Wahlkreisen treten sie gegen die RN an, in 29 gegen die rechte LR. NUPES ist also in 370 Wahlkreisen die Oppositionskraft gegenüber den prokapitalistischen Parteien, von Macron bis zur extremen Rechten. Auch wenn einige ihrer Kandidat*innen die Schlüsselmaßnahmen von NUPES zu Löhnen oder Renten nur sehr schwach unterstützen, ist es klar, dass es ein wesentlicher Schritt ist, alles zu tun, damit NUPES in diesen Wahlkreisen gewinnt, um die Interessen der Arbeiter*innen und der großen Mehrheit der Bevölkerung zu vertreten.

Die Ergebnisse von NUPES waren sehr uneinheitlich. Ihre guten ERgebnisse waren oft in Gebieten, in denen France Insoumise (FI, von Mélenchon 2016 gegründet) Gruppen aufrecht erhalten hatte oder in denen Aktivist*innen der Kommunistischen Partei (PCF) oder der EELV (Grüne) die Kampagne anführten. Wie wir bereits in unserer Analyse der Präsidentschaftswahlen geschrieben haben, war es in den Fällen, in denen aufgrund der fehlenden Strukturen in der FI die FI-Aktivist*innengruppen nicht beibehalten wurden, schwierig verlorenen Boden gutzumachen. Dies bestätigt leider, was wir bereits 2017 gesagt haben, dass es für die FI wesentlich ist, lokale, regionale und nationale Strukturen zu haben, die auf kollektive und demokratische Weise arbeiten.

Dies wird nach den Wahlen noch wichtiger sein, unabhängig davon, ob NUPES eine Mehrheit in der Nationalversammlung erhält (und damit die Regierung bildet) oder ob sie mit 150 bis 200 Abgeordneten die wichtigste Oppositionskraft gegen Macron ist.

Einerseits hat diese Wahlkampagne gezeigt, dass Tausende von Jugendlichen und Arbeiter*innen in die Unterstützung von NUPES investiert haben, indem sie gelernt haben, von Tür zu Tür zu gehen und Diskussionen zu führen, um andere von dem Programm und den Forderungen zu überzeugen. Dies hat eine gewisse kämpferische Energie gezeigt, die in den nächsten Monaten in die Realität umgesetzt werden will und nicht in Passivität verharren wird. Andererseits gibt es unter den sechs Millionen Wähler*innen auch Tausende, die sich stärker engagieren werden, wenn sich die FI in eine strukturierte politische Kraft verwandelt, die in der Lage ist, zu diskutieren, Entscheidungen zu treffen und dadurch beharrlich die Verteidigung unserer Interessen zu übernehmen.

Viele sehen auch, dass der Wahlgang nur ein erster Schritt ist und nicht ausreichen wird, um die Dinge nachhaltig zu verändern. Die Kapitalist*innen, die multinationalen Konzerne, die bürgerlichen Politiker*innen und die Medien werden alles tun, um das parlamentarische Handeln einer NUPES-Regierung zu blockieren. Und Macron wird versuchen, seine Politik fortzusetzen, auch wenn NUPES eine starke Opposition gegen ihn bildet.

Wir müssen uns daher auf einen Massenkampf vorbereiten und uns organisieren, um ihn aufzubauen und auf diese Weise unsere Forderungen nach Löhnen, Renten oder öffentlichen Dienstleistungen voranzubringen.

In der nächsten Periode muss eine echte neue kämpferische Massenpartei der Arbeiter*innen und der Jugend gegen den Kapitalismus aufgebaut werden. Eine solche Partei würde auch eine gemeinsame Diskussion über die wirkliche Alternative ermöglichen, die wir brauchen, um den Kapitalismus zu ersetzen. Es wird nicht möglich sein, sich mit einigen Verstaatlichungen zu begnügen, obwohl diese unerlässlich sind, insbesondere im Gesundheits- und Energiesektor. Es bedarf eines Plans, um die wichtigsten Wirtschaftssektoren in öffentliches Eigentum zu überführen, damit sie demokratisch und ökologisch geplant werden können, unter der Kontrolle und Leitung der Arbeiter*innen, verbunden mit der gesamten Bevölkerung. Dies sind die Achsen des Kampfes für eine sozialistische Gesellschaft, die wir über den Kampf um den Wahlsieg am 19. Juni hinaus zur Debatte stellen.

Le Pens Gewinne

Wie bereits erwähnt, gibt es Regionen, in denen es der NUPES nicht gelungen ist, die Hauptopposition gegen Macron zu bilden. Dies ist der Fall in den Pyrénées-Orientales, in Grand Est, in einigen benachteiligten Regionen an der Atlantikküste, im Südosten und in Teilen von Hauts-de-France wie Pas-de-Calais. Die rechtsextreme Partei von Le Pen konnte ihre Stimmenzahl auf 4,2 Millionen erhöhen, verglichen mit 2,9 Millionen im Jahr 2017. Hinzu kommen die 960.000 Stimmen für Reconquête, die rechtsextreme Partei von Zemmour, die sich jedoch nicht für die zweite Runde qualifiziert hat.

Die RN liegt in 110 Wahlkreisen in Führung. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass sie eine große Anzahl von Abgeordneten erhält und in den Orten, in denen die NUPES-Kandidat*innen in sozialen Fragen besonders kämpferisch waren, deutlich zurückgefallen ist, ist sie präsent. Und sie kann eine Gefahr darstellen, wenn es uns nicht gelingt, um die FI herum eine echte Opposition der Arbeiter*innen und der Jugend gegen Macrons Politik zu strukturieren.

Letzterer könnte durchaus die Mehrheit (289 Sitze) in der Versammlung verfehlen. Und die traditionelle Rechte in Les Républicains setzt ihren Niedergang fort, da sie nur 42 Kandidaten aufstellt, während sie 2007 noch 320 Abgeordnete hatte. Es ist klar, dass LaRem/Ensemble und LR aufeinander angewiesen sind, um ihre Sitze zu halten, insbesondere gegen NUPES, was die Wahl für viele Kandidat*innen komplizierter machen wird. Hier wird auch die Frage nach einem ausreichend kämpferischen Programm zu sozialen Fragen und gegen den Kapitalismus von entscheidender Bedeutung sein, ebenso wie die Notwendigkeit, France Insoumise aufzubauen und zu strukturieren.

NUPES – ein instabiles Bündnis

Einige der an NUPES beteiligten Parteien werden die darin enthaltenen Forderungen vermutlich nicht wirklich verteidigen.

Die PCF hat in vielerlei Hinsicht eine starke Kampagne geführt und sich auch für die Verstaatlichung von EDF [Strom] und Engie [Gas] eingesetzt. Viele ihrer Abgeordneten erreichten daher sehr hohe Stimmenzahlen, die über dreißig oder vierzig Prozent lagen. Von den fünfzig PCF-Kandidat*innenen in der NUPES sind 32 im zweiten Wahlgang. Aber die PCF hat nicht überall die gleiche Energie aufgewendet, vor allem dort, wo die lokalen Verbände der Parti Socialiste (PS) ihre Kandidaturen gegen die NUPES aufrechterhalten haben. Das Argument, mit dem die Kandidatur von Fabien Roussel (PCF) bei den Präsidentschaftswahlen gerechtfertigt wurde, ist nicht überall verschwunden, ganz im Gegenteil. Aber die PCF-Aktivist*innen können dazu beitragen, dass die Lohnforderungen und das Einfrieren der Preise wirklich zu den ersten Anliegen der NUPES-Abgeordneten gehören.

Von den hundert Wahlkreisen, die Europe Ecologie-Les Verts (EELV –  “Europa Ökologisch – Die Grünen” ) zugeteilt wurden, haben sich 76 für die zweite Runde qualifiziert. Die EELV lehnt jedoch Forderungen wie die nach einer Preisobergrenze (insbesondere für Kraftstoffe, auch wenn der Anstieg des Benzinpreises nur die am wenigsten Wohlhabenden trifft) ab oder befürwortet die Einführung von Steuern, die wiederum vor allem die Arbeiter*innen treffen (wie die Einführung von Luftqualitätszertifikaten für Kraftfahrzeuge, wie in Rouen). Wir wissen auch, dass die EELV eine von der Realität der Europäischen Union losgelöste Vision hat und denkt, dass sie verändert werden könnte, während sie in Wirklichkeit ein gemeinsames Organ der wichtigsten kapitalistischen Länder Europas ist, um ihre neoliberale Politik durchzusetzen.

Schließlich hat die Parti Socialiste ihr übliches doppeltes Spiel getrieben. Einerseits akzeptierte die nationale Führung die Vereinbarung mit der NUPES, andererseits gab es PS-Verbände, die ihre eigenen Kandidaten aufrechterhielten. In 13 Wahlkreisen war es sogar der PS-Kandidat, der den NUPES-Kandidaten ausschalten ließ. Im 4. Wahlkreis Seine-Maritime, in dem Laurent Fabius [ein ehemaliger PS-Premierminister] Abgeordneter war, führte die PS eine heftige Kampagne gegen die NUPES, da es für die PS vor allem darum ging, ihre lokale Macht im Ballungsraum Rouen zu erhalten.

Djoudé Mérabet, der bereits Bürgermeister von Elbeuf und Vizepräsident der Metropole war, unterlag der Kandidatin der NUPES, Alma Dufour, nur um 167 Stimmen. Es war eine dynamische NUPES-Kampagne, die in den wichtigsten Arbeiter*innenstädten dieses Bezirks mobilisierte.

In der Stadt Rouen selbst hat die Kandidatin der PS, Christine de Cintré, am 14. Juni immer noch nicht das Plakat “Weder Macron noch Mélenchon” vom Fenster ihres Wahlkampfbüros entfernt.

52 PS-Kandidat*innen sind dank der NUPES in der zweiten Runde, aber die meisten von ihnen haben nur eine taktische Vereinbarung getroffen, obwohl sie unter starkem Druck von Wähler*innen und Wahlkampfaktivist*innen stehen, die ihnen sagen: “Passt auf, wenn ihr nicht für die Forderungen wie die Rente mit 60 stimmt!”

Eine Gelegenheit die genutzt werden muss!

Macrons Stimmen sind rückläufig, und die der extremen Rechten sind auf dem Vormarsch, aber nicht so stark wie die der linken Koalition – es ist klar, dass es ein Potenzial gibt, Macrons Politik effektiver zu bekämpfen. Sicherlich sind Wahlen nicht die zentrale Arena des Kampfes für die Veränderung der Gesellschaft, aber die Kampagnen und die anschließend gewählten Vertreter*innen, die die Interessen der Arbeiter*innen verteidigen, können eine wichtige Rolle spielen.

Und die Tendenz, die sich bei den Präsidentschaftswahlen durch die Unterstützung der Kandidatur von Mélenchon für eine kämpferische Politik gegen Macron und den Kapitalismus abzeichnete, wurde in der ersten Runde der Parlamentswahlen bestätigt.

Dies drückt sich in einer noch zaghaften und konfusen Art und Weise in dem Willen aus, unser Lager, das der Arbeiter*innen, der Jugend und der Mehrheit der Bevölkerung, gegen diese Politik zu vereinen, die uns so viel Leid zufügt und unsere Lebensbedingungen und sogar die gesamte Gesellschaft ständig verschlechtert. Es ist also eine Gelegenheit, die es zu ergreifen gilt, um dieses System und die Politiker, die dem Kapitalismus dienen, zu erschüttern und unsere Kämpfe zu fördern! Lasst uns am 19. Juni NUPES wählen, und Macron und Le Pen besiegen!