Streikwelle in Großbritannien verschiebt die gesellschaftliche Debatte
Interview mit Rob Williams, Koordinator des National Shop Stewards’ Network (NSSN – Vernetzung gewerkschaftlicher Vertrauensleute) und Mitglied des Vorstands der Socialist Party von England und Wales.
In Deutschland hören wir wenig über die Situation in Großbritannien, abgesehen von Johnsons Rücktritt, was passiert aber in den Betrieben?
Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass der Klassenkampf im Vereinigten Königreich so intensiv ist, wie seit einer ganzen Generation nicht mehr. Ausgelöst wird er durch die spiralförmige Krise der Lebenshaltungskosten, die eine Inflation von fast zwölf Prozent zur Folge hat, während sie vor einem Jahr noch unter vier Prozent lag. Auch die Energiepreise haben sich verdoppelt und werden noch weiter steigen. Die Arbeiter*innen kämpfen für Lohnerhöhungen, um den Lebensstandard ihrer Familien zu sichern. Zweifellos hat die Tory-Krise den Beschäftigten auch Selbstvertrauen gegeben.
Dies ist ein gewaltiger Umschwung gegenüber der Situation zu Beginn der Covid-Pandemie, als viele Gewerkschaftsführer*innen vor der falschen Vorstellung kapitulierten, dass es eine “nationale Einheit” mit der Tory-Regierung und den Bossen gäbe. Streiks wurden abgesagt und Auseinandersetzungen ausgesetzt. Gleichzeitig schockierte und verblüffte der tiefe Einbruch der Wirtschaft während des Lockdowns die Arbeiter*innen. Es waren die Bosse, die die nationale Einheit zerbrachen, indem sie mit “fire and rehire” in die Offensive gingen, um neue, schlechtere Verträge durchzusetzen, wodurch einige Arbeiter*innen 10.000 Pfund pro Jahr an Lohn verloren. Dies führte zu einigen brutalen Abwehrkämpfen.
Mit der Öffnung der Märkte und dem wirtschaftlichen Aufschwung gewannen die abhängig Beschäftigten jedoch ihr Vertrauen zurück und spürten, dass sich das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten veränderte. Dies war vor allem in den Sektoren der Fall, in denen es einen Mangel an Arbeitskräften gab. Daher kam es im letzten Jahr zu einer zunehmenden Streikwelle, die hauptsächlich auf lokaler Ebene stattfand und an der sektorübergreifende Gewerkschaften wie Unite, die über 300 Streiks durchführte, und auch GMB beteiligt waren. Doch mit dem Anstieg der Preise und dem Druck auf die Einkommen ist ein neuer Impuls hinzugekommen.
Die jüngste Phase des Kampfes besteht aus landesweiten Aktionen der Eisenbahner*innen und der Beschäftigten von British Telecom und Royal Mail. Und im Herbst bereiten die Gewerkschaften des öffentlichen Sektors eine Urabstimmung ihrer Mitglieder über einen landesweiten Streik zur Lohnfrage vor.
Inwiefern unterscheidet sich diese Streikwelle von früheren Jahren?
Es handelt sich nicht um isolierte Einzelstreiks, sondern um eine viel allgemeinere Streikwelle. Dies bedeutet, dass die Unternehmer*innen, die Tory-Regierung und die Medien nicht in der Lage waren, die Arbeiter*innen zu spalten. Der letzte größere Arbeitskampf im Vereinigten Königreich fand 2011/12 statt, als die Gewerkschaften des öffentlichen Sektors gegen die Sparmaßnahmen der Tories kämpften. Dies erreichte im November 2011 einen Höhepunkt, als zwei Millionen Beschäftigte in 29 Gewerkschaften gemeinsam gegen Angriffe auf ihre Renten streikten, was praktisch ein Generalstreik im öffentlichen Sektor war.
In der Privatwirtschaft gab es zu diesem Zeitpunkt jedoch nur wenige Aktionen. Die Tories versuchten zu argumentieren, dass die Beschäftigten des öffentlichen Sektors “vergoldete” Renten hätten, als plumpe “Teile und herrsche”-Taktik. Tatsächlich gab es unter den Beschäftigten des privaten Sektors viel Unterstützung, aber sie wurde nicht ausreichend mobilisiert, und die rechtsgerichteten Gewerkschaftsführer beendeten die Aktionen schnell. Aber in dieser Streikwelle sind Arbeitnehmer in allen Sektoren von der Lebenshaltungskostenbeschränkung betroffen und ergreifen entweder Maßnahmen oder bewegen sich auf diese zu. In der letzten Woche haben die Beschäftigten des Baugewerbes landesweit die Arbeit niedergelegt und inoffizielle Maßnahmen ergriffen.
Wie steht die Labour-Partei zu den Streiks?
Die neue Labour-Führung unter Sir Keir Starmer verhält sich entweder neutral zu den Streiks oder, schlimmer noch, sie weist führende Labour-Abgeordnete an, Streikposten nicht zu unterstützen. So wurde ein prominenter Abgeordneter von Starmer deswegen aus seinem Amt entlassen. Dies ist der deutlichste Ausdruck des Rechtsrucks in der Labour-Partei, mit dem Starmer dem kapitalistischen Establishment beweisen will, dass die Tage von Corbyn vorbei sind und seine Labour-Partei in Sicherheit ist. Tatsächlich hat die Krise der Tory-Regierung dazu beigetragen, denn je näher Starmer sich der Regierung fühlt, desto mehr will er sich gegenüber dem Großkapital beweisen. Aber seine Position hat der Diskussion in den Gewerkschaften und vor allem an den Streikpostenketten über die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Arbeiter*innenpartei als Alternative zur Labour Party neuen Auftrieb gegeben.
Wie wahrscheinlich ist ein Generalstreik?
Ein 24-stündiger Generalstreik ist in dieser Situation dringend nötig. Wenn wir mit den Streikenden darüber sprechen, dass die Arbeiter*innen gemeinsam streiken sollten, findet das volle Unterstützung. Selbst im August, der normalerweise ein sehr ruhiger Monat für die Gewerkschaften ist, treten Hunderttausende von Arbeitner*innen in den Ausstand. Wenn die Möglichkeit besteht, dass im Herbst Millionen von Beschäftigten des öffentlichen Sektors in den Streik treten, würden tagelange, koordinierte Aktionen praktisch einen Generalstreik bedeuten.
Ein mögliches Hindernis für diese Entwicklung ist, dass die Tories vor sechs Jahren noch mehr gewerkschaftsfeindliche Gesetze eingeführt haben. Der wichtigste Teil davon war die Bestimmung, dass ein Streik nur dann legal ist, wenn sich mindestens fünfzig Prozent der Arbeiter*innen an der Urabstimmung beteiligen müssen. Für Beschäftigte in Sektoren, die als “systemrelevant” gelten, liegt die Schwelle sogar noch höher. Dies hat dazu geführt, dass es vor allem bei landesweiten Urabstimmungen sehr viel schwieriger ist, das gesetzliche Mandat zu erhalten. Angesichts der Wut der Kolleg*innen und des zunehmenden Ausmaßes der Aktionen, wobei die Streiks bei der Bahn eine herausragende Rolle bei der Stärkung des Vertrauens und des Bewusstseins spielen, können die undemokratischen Schwellenwerte der Tories jedoch erreicht werden.
Es gab auch Streiks bei Amazon, was war da los?
Diese Aktion, die hauptsächlich von jungen, nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen durchgeführt wurde, stellt eine neue Phase des Kampfes im Vereinigten Königreich dar. Sie zeigt auch, wie die Streikwelle als Bezugspunkt für nicht organisierte Arbeiter*innen fungiert hat. Als man ihnen eine Lohnerhöhung von nur 35 Pence pro Stunde “anbot”, sahen sie, wie die Arbeiter*innen in anderen Sektoren aktiv wurden, und zogen daraus den Schluss, dass sie auch streiken könnten. In dieser Phase handelte es sich um einen Sitzstreik, was durch die Arbeiter*innen in den USA in den 1930er Jahren berühmt wurde. Die Beschäftigten sind in der Kantine geblieben und verweigern die Arbeit. Wir haben die Aktion von Amazon unterstützt und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass die Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sein müssen. An einigen Standorten hat die Unternehmensleitung darauf geachtet, nicht zu hart durchzugreifen, was zeigt, dass sie weiß, dass die Stimmung unter den Beschäftigten sehr wütend ist. Aber es ist wichtig, dass die Gewerkschaften in diesen riesigen Betrieben aufgebaut werden.
Was schlägt die Socialist Party vor?
Wir unterstützen die Forderung der Arbeiter*innen bei Amazon nach einer Lohnerhöhung von zwei Pfund als Schritt zu einem Mindestlohn von 15 Pfund pro Stunde. Wir haben darauf hingewiesen, dass die Arbeiter*innen gewerkschaftlich organisiert sein und sich auf nationaler Ebene stärker vernetzen müssen, um die Verbindungen, die sie bereits geknüpft haben, zu stärken. Dies würde sie auch stärker in den sich entwickelnden allgemeinen Kampf einbinden. Aber die Idee, gemeinsam zu streiken, wird von diesen neuen Schichten der Arbeiter*innenklasse begrüßt.
Deshalb ist die Kundgebung, die das National Shop Stewards Network auf dem TUC-Kongress (TUC = Gewerkschaftsdachverband) am 11. September organisiert, so wichtig. Es ruft die Gewerkschaften dazu auf, sich zusammenzuschließen, wie sie es auf dem TUC-Kongress 2011 getan haben, um Streiks zu koordinieren. Das hat zu dem damaligen massiven Rentenstreik geführt – etwas, das es jetzt auch braucht.