Vor 30 Jahren: Die Schande von Rostock-Lichtenhagen

Rassistisches Pogrom gegen Migrant*innen erschütterte die Republik – Interview mit René Henze

Wir veröffentlichen hier ein Gespräch mit René Henze, der seit Anfang der neunziger Jahre in Rostock lebt und bereits vor 1989 in der DDR als Oppositioneller und Marxist aktiv war, das vor zehn Jahren anlässlich des 20. Jahrestag der Pogrome gegen Asylberwerber*innen in Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992 geführt wurde. 

Im August 1992 wurden in Rostock-Lichtenhagen zwei von Migrantinnen und Migranten bewohnte Häuser von etwa 1.000 Menschen angegriffen: zum einen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST) und zum anderen ein Wohnheim, in dem von der DDR-Regierung ursprünglich als billige Arbeitskräfte angeworbene Vietnamesen wohnten. Was geschah damals?

Vom 22. bis zum 24. August 1992 eskalierte im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen eine Situation, die sich schon lange abgezeichnet hatte.

Am Samstag, den 22. August sammelten sich seit dem Vormittag mehr und mehr Jugendliche vor der Aufnahmestelle für Asylbewerber und dem angrenzenden Wohnheim. Hunderte hingen da ab und grölten Parolen wie „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“. Gegen Abend flogen erste Steine.

Und die Polizei?

Als das geschah, ließ sich nicht ein Polizist blicken. Erst gegen 20 Uhr traf dann ein kleiner Trupp der Polizei ein. Aber statt gegen die Steinewerfer vorzugehen, redeten sie nur mit ihnen …

Ja, schlimmer noch. Je dunkler es wurde, umso mehr Jugendliche tauchten auf der Wiese auf – gleichzeitig wurde ein Teil der Polizei abgezogen, so dass gegen 22 Uhr nur noch 28 Beamte dastanden.

Gegen 23 Uhr rief der Ausländerbeauftragte der Stadt Rostock, der sich zu diesem Zeitpunkt im Gebäude befand, die Polizeiinspektion im Nachbarstadtteil Lütten Klein an, um mehr polizeilichen Schutz zu erhalten. Die Antwort des stellvertretenden Rostocker Einsatzleiters der Polizei Trottnow lautete: Mehr Beamte würden nicht zur Verfügung stehen. Aber er habe veranlasst, dass zwei Rostocker Beamte nach Schwerin geschickt werden, um zwei Wasserwerfer aus der Landeshauptstadt zu holen.

Bis die da waren, tobte sich der Mob an den Polizisten aus, zündete deren Einsatzwagen an und attackierte die ZAST und das Wohnheim mit Steinen.

Erst gegen zwei Uhr nachts trafen die Wasserwerfer ein, doch innerhalb kürzester Zeit hatten sie ihr Wasser verschossen.

Wie ging es dann weiter?

Am nächsten Tag, Sonntag den 23. August, sammelten sich wieder Hunderte – zumeist Jugendliche – vor dem Gebäude. Wieder „Ausländer raus“-Parolen. Mehrfach wurde der rechte Arm zum „Hitlergruß“ gereckt. Wieder flogen Steine. Und wieder griff die Polizei nicht ein – ja, sie wurde sogar gegen 18 Uhr abgezogen.

Nun wurde das Wohnheim zum ersten Mal gestürmt. Die zurück beorderte Polizei vertrieb zwar die Angreifer aus dem Haus, nahm jedoch niemanden fest.

Je dunkler es wurde, umso mehr schwoll die Masse der Angreifer – schätzungsweise bis zu eintausend – an. Nun flogen nicht mehr nur Steine, sondern auch Molotow-Cocktails.

Festnahmen gab es bis dahin keine. Das änderte sich erst, als um ein Uhr nachts rund 80 Antifaschistinnen und Antifaschisten versuchten, mittels einer Demo vor das angegriffene Gebäude zu gelangen, um es zu schützen. Nach anfänglicher Erlaubnis wurden sie nach wenigen Metern festgenommen – mit der Begründung: „Gefahr im Verzug“. Die Bilder der Festnahme gingen um die Welt und es hieß, die Polizei habe 80 der rechten Gewalttäter festgenommen.

Erst am nächsten Tag, Montag, den 24. August, wurden die letzten Asylsuchenden aus der ZAST weggebracht; die Vietnamesen dagegen nicht.

Wie verhielten sich die verantwortlichen Politiker?

Im Namen der Rostocker Bürgerschaft riet der Fraktionsvorsitzende der SPD, Statzkowsi, den Vietnamesen, ihre Gardinen vor den Fenstern zuzuziehen, um den Anschein zu erwecken, das Haus sei leer.

Um 15 Uhr erklärten der angereiste Bundesinnenminister Seiters, der Generalinspekteur des Bundesgrenzschutzes Hitz, der Rostocker Polizeidirektor Kordus sowie der Ministerpräsident von MV Seite, und sein Innenminister Kupfer auf der internationalen Pressekonferenz: Sie hätten die Lage „unter Kontrolle“.

Wie sie dies meinten, wurde gegen halb zehn Uhr abends klar. Obwohl es diesmal weniger Angreifer waren, zog sich die Polizei zurück – und die leere ZAST sowie das Wohnheim mit rund 100 Vietnamesen, sowie einer Handvoll Antifas, dem Ausländerbeauftragten der Hansestadt Rostock und einem Kamerateam des ZDF wurden dem rechten Mob preisgegeben.

In dieser Nacht wurde die ZAST und das Wohnheim gestürmt und die unteren Stockwerke in Brand gesetzt.

Dass die Angreifer niemanden umbrachten, lag nur daran, dass sich die Flüchtenden in den sechsten Stock zurückzogen und die Angreifer aus dem brennenden Gebäude verdufteten, um nicht selber Opfer der Flammen zu werden. Die Eingeschlossenen retteten sich nur, weil sie es schafften, eine Dachluke aufzubrechen und über das Dach ins – von Deutschen bewohnte – Nachbarhaus zu flüchten. Dort wurden sie von den Leuten aufgenommen und versorgt.

Waren die Angreifer alles rechtsextreme Anwohner?

Die Zahl der tatsächlichen Angreifer betrug am Samstag laut Polizei circa 1.000. Die meisten davon waren eine Mischung aus rechten Fußball-Hooligans, rechts eingestellten Jugendlichen und fast sämtlichen Führungskräften der damaligen deutschen Neonazi-Szene. Immer wieder wurde beobachtet, wie der Hamburger Nazi-Führer Christian Worch aus einem roten Audi die Angriffe per Walkie-Talkie koordinierte.

Aber schon vier Tage vor dem Pogrom, am 18. August, hatte die Rostocker Lokalzeitung NNN, „Norddeutsche Neueste Nachrichten“, einen anonymen Anrufer zitiert: „Wenn die Stadt nicht bis Ende der Woche in Lichtenhagen für Ordnung sorgt, dann machen wir das und zwar auf unsere Weise. In der Nacht vom Samstag auf Sonntag räumen wir in Lichtenhagen auf. Das wird eine heiße Nacht.“

Einen Monat zuvor, am 16. Juni 1992, meldete die Deutsche Presseagentur dpa, dass es in Rostock „Flugblätter regnet“. Unter Textpassagen wie „Rostock bleibt deutsch“ und „Widerstand gegen Ausländerflut“ wurde erklärt, dass in Rostock eine „Bürgerinitiative“ gegründet werde, um „deutsche Interessen“ zu vertreten. Unterzeichnet wurde dieses Flugblatt von einem Michael Andrejewski von der „Hamburger Liste für Ausländerstopp“ – einer Vorfeldorganisation der Hamburger NPD. Heute, 20 Jahre später, sitzt besagter Andrejewski für die NPD im Kreisparlament von Anklam und gehört zum Mecklenburger Führungszirkel der Nazi-Szene. Die Nazis haben die Stimmung angeheizt.

Das, was zusätzlich erschütterte, waren die 2-3.000 AnwohnerInnen, die daneben standen und klatschten. Ihr Verhalten erklärt sich nur durch die konkrete Situation und die Stimmung, die damals geschürt wurde.

In einem Klima von Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg in Ostdeutschland nach der Wende einerseits und einer systematisch durch Politik und Medien betriebenen Hetze gegen Asylbewerber andererseits wurde im Neubaugebiet Lichtenhagen die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber (ZAST) von ganz Mecklenburg-Vorpommern völlig überfüllt. Die Kapazität der Anlaufstelle lag bei 200 Personen, doch sie war fast immer überfüllt – und täglich kamen 70 bis 80 neue Flüchtlinge hinzu. Schon ein Jahr vor dem Pogrom forderte der damalige Rostocker SPD-Oberbürgermeister Kilimann den Landesinnenminister auf, für Entlastung zu sorgen und berichtete, dass vereinzelt AsylbewerberInnen draußen schlafen müssten, „da das Aufnahmeverfahren in die ZAST mindestens vier Tage dauert“. In dem selben Schreiben konstatierte er eine Zunahme von Übergriffen auf die Flüchtlinge und folgerte: „Schwerste Übergriffe bis hin zu Tötungen sind nicht mehr auszuschließen.“ Das war im Sommer 1991!

Trotzdem spitzte sich die Lage weiter zu?

Zeitweilig waren über 300 Flüchtlinge im Haus untergebracht. Weitere 300 mussten auf der Wiese vor dem Haus – teilweise bis zu einer Woche – warten.

Am 25. Juni – acht Wochen vor dem Pogrom – sagte der damalige Rostocker Innensenator Magdanz von der SPD in der Rostocker „Ostsee-Zeitung“: „Wir verwalten hier den Notstand. (…) das ist sozialer Sprengstoff. Für uns ist fünf nach Zwölf. Selbst wenn die Anträge schnell bearbeitet werden – wir haben jetzt dafür zehn Leute in Lichtenhagen –, wissen wir nicht wohin mit den Menschen.“

Die Anwohner – in der absoluten Mehrheit den Flüchtlingen gegenüber freundlich gesonnen (!) – schrieben massenhaft Eingaben an den Innensenator und forderten Ersatzgebäude oder zumindest das Aufstellen von Toiletten.

Der Zustand für Flüchtlinge und Anwohner war untragbar, trotzdem reagierte sowohl die Lokalregierung als auch die Landesregierung nicht. Die Rostocker Lokalpolitik weigerte sich zum Beispiel, Ersatzgebäude zu suchen oder auch nur für Toiletten zu sorgen.

Die Anwohner fühlten sich allein gelassen?

Ja. Obendrein wurde auch die Stimmung gegen Sinti und Roma als „Wirtschaftsflüchtlinge“ geschürt. In der Lokalpresse erschienen Artikel, wonach die überwiegend aus Rumänien kommenden Flüchtlinge „alles kaputt machen“, „alles, was glänzt klauen“, für die „die Benutzung der Toilette unüblich ist“ und für die gilt: „Wer nachts lieber draußen schläft, schmeißt seine Matratze kurzerhand aus dem Fenster.“ Alles Zitate aus der NNN vom 30. Juli 1992.

Der Rostocker Innensenator Magdanz heizte die Stimmung zusätzlich an, als er gegenüber „Kennzeichen D“ am Montag, dem 24. August, sagte: „Dass Ladendiebstähle in Rostock oft durch rumänische Zigeuner erfolgen, ist kein Geheimnis“. Das sagt der Senator, der sich öffentlich weigerte, den Flüchtlingen wenigstens ein bisschen Geld zu geben, damit sie sich was zu essen kaufen können, solange sie vor der ZAST kampieren mussten.

All das führte natürlich zu massivem Unmut, den die Nazis nutzten, sich als „Helfer“ anzubieten nach dem Motto: „Dann nehmen wir die Sache selbst in die Hand.“

Die rassistische Stimmung in Rostock-Lichtenhagen wurde also gezielt geschaffen …

Rassismus kommt nicht „aus der Mitte der Gesellschaft“ – wie heute leider oft in antifaschistischen Kreisen gesagt wird – sondern Rassismus wird gemacht, von ganz oben!

Auch wenn rund 2-3.000 in den Augusttagen 1992 applaudierten und bis zu Tausend Steine und Brandsätze warfen – die Stimmung dafür schufen ganz andere!

Warum so eine desaströse Polizeitaktik? Nahmen Politiker und Polizeiführung die Lage in Lichtenhagen auf die leichte Schulter? Wollten sie gar den Nazis freie Hand geben?

Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als ob einzelne Verantwortliche, wie der Einsatzleiter der Polizei, Kordus, der Innenminister von MV, Kupfer, oder der Rostocker Oberbürgermeister, Kilimann, die Situation nicht so ernst nahmen. Kordus meldete sich am Montag der Brandnacht, gegen 20 Uhr vom Dienst ab – mit der Begründung, er müsse jetzt ruhen und wünsche nicht gestört zu werden. Auf seinem Weg nach Hause in Warnemünde musste er an Lichtenhagen vorbei. Trotzdem fuhr er weiter … Ebenso fuhr der Rostocker OB am Montag wieder in den Urlaub.

Es spricht dagegen Bände, dass trotz Anwesenheit des Bundesinnenministers Seiters sowie des Inspekteurs des Bundesgrenzschutzes, Hitz, am Montag den 24. August in Rostock die Polizei nicht aufgestockt und auch der BGS nur spärlich – und zwölf Kilometer entfernt! – eingesetzt wurde.

Während der Tage des Pogroms war die Politik und die Polizeiführung angeblich nicht in der Lage, Polizeikräfte heranzuführen … Aber bei der antifaschistischen Demo am darauffolgenden Wochenende, dem 29. August, hatte der Bundesgrenzschutz keine Mühe, fast im Minutentakt Hubschrauber neben der Demo landen und über 3.000 Polizisten ausspucken zu lassen.

Dies war auch die Zeit, in der das Asylrecht geändert wurde …

Genau. Das Verhalten der Polizeiführung und der politisch Verantwortlichen sollte eine Änderung des Grundgesetzes in Fragen des Asylrechts rechtfertigen. In einer Sondersendung der „Tagesthemen“ machte sich der NDR-Korrespondent Gatter in der Brandnacht Gedanken, wie es zu der Situation kommen konnte: „Es gibt nur zwei rationale Erklärungen: Entweder bodenlose Dummheit oder der absichtliche Versuch, die Sache zum Kochen zu bringen.“

Die FDP-Abgeordnete im Schweriner Landtag Stefanie Wolf sagte am 28. August 1992 Folgendes: „Ich wurde dieser Tage von einem Journalisten gefragt, ob es sein könne, dass irgendeine Partei Interesse daran habe, dass die Situation in dieser Art eskaliert, um gewisse politische Ziele besser durchsetzen zu können. Der Gedanke, dass es so sein könnte, jagt mir kalte Schauer über den Rücken. Die Vorstellung, dass hier Menschen, sowohl die Schutzsuchenden, die zu uns kommen, als auch die Einwohner der Stadt Rostock, zum Spielball politischer Interessen gemacht werden, hieße, es käme ein Skandal ohnegleichen auf uns zu.“

Wie verhielten sich die Parteispitzen im Bund?

Bundesinnenminister Seiters erklärte am 24. August 1992, der Staat müsse nun handeln. Jedoch meinte er damit nicht die Festnahme der Rechten, die sich zu diesem Zeitpunkt schon wieder in Lichtenhagen sammelten, sondern führte aus: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben.“ Ins gleiche Horn stieß am nächsten Tag Mecklenburgs CDU-Ministerpräsident Seite: „Die Vorfälle der vergangenen Tage machen deutlich, dass eine Ergänzung des Asylrechts dringend erforderlich ist.“ Und der Mecklenburgische Justizminister Helmrich, ebenfalls CDU, erklärte zwei Wochen später: „Wir brauchen eine neue Mauer.“

Diese Rechnung ging auf, noch am Montag Abend signalisierte die Bundes-SPD ein „Umdenken“ in der Asylrechtsfrage. Und im September 1992 wurde das bislang im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl de facto abgeschafft. n

Die Politik hatte einen rassistischen Zug in Gang gesetzt … Und auch wenn rechte Hooligans, angeführt von Neonazis, eine Zeitlang in Lichtenhagen Lokführer spielten, so stellten nach wie vor die CDU- und SPD-Spitzen die Weichen

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