Weidels Kampf um die Kanzlerkandidatur

Foto: Olaf Kosinsky, Attribution-ShareAlike 3.0 Germany (CC BY-SA 3.0 DE)

Die AfD-Vorsitzende will die erste Kanzlerkandidatin ihrer Partei werden und hat dabei ein armenfeindliches Programm im Gepäck

Ja, sie will, so müsste man Alice Weidels mediale Einlassungen bezüglicher ihrer Rolle als mögliche Kanzlerkandidatin der AfD wohl zusammenfassen. Und dabei will die Co-Vorsitzende der Rechtspopulist*innen nicht einfach nur nach dem höchsten Regierungsamt im Bund streben. Wenige Tage vor Beginn ihres Bundesparteitags will Weidel ihre Partei auf ihre Linie einschwören. Das dürfte längst nicht allen Führungsfiguren der Rechtsaußenpartei schmecken. Die anstehenden Auseinandersetzungen um das Programm für die EU-Wahlen im nächsten Jahr könnten die Partei von Neuem erschüttern.

Von Steve Hollasky, Dresden

Manche*r dürfte sich verwundert die Augen gerieben haben, als ein Sprecher der AfD gegenüber der Presseagentur AFP verkündete, die im Europawahlprogramm formulierte Forderung nach Auflösung der Europäischen Union (EU) sei ein „redaktionelles Versehen“. Entgegen allem Getöse scheint es der AfD an einer Auflösung der EU nicht eben gelegen zu sein. Die Rechtspopulist*innen sparen nicht mit Schmähungen über das „faktisch gescheiterte Elitenprojekt“ , wie Alice Weidel selbst die EU in ihrer 2019 erschienen Programmschrift „Widerworte“ nennt.

Dass ausgerechnet Weidel sich über „Elitenprojekte“ echauffiert ist ungewollt ironisch, wo sie doch mit der AfD selbst Chefin eines „Elitenprojekts“ ist. Die Herkunft der Führungsriege der AfD ist schwerlich mit einem anderen Label zu versehen. Da gesellen sich vielfach mittelständische Unternehmer*innen, Wissenschaftler*innen und ehemalige Führungskader aus Wirtschaft und selbst der viel gescholtenen Presse.

AfD und EU

Dabei greift die AfD die EU nicht etwa an, weil an ihren Außengrenzen, insbesondere im Mittelmeer, flüchtende Menschen zu hunderten sterben. Auch nicht, weil das „Elitenprojekt“ vorrangig in die Kassen deutscher Großunternehmen und Banken horrende Gewinne spült, während Länder wie Griechenland die Verarmung ihrer Arbeiter*innenklasse organisieren müssen, um in den Genuss sogenannter europäischer Hilfen zu gelangen. Die AfD kritisiert die EU auch nicht dafür, dass die Austeritätspolitik vor dem Brexit permanent soziale Leistungen in Großbritannien und zahlreichen anderen EU-Staaten geschliffen hat und die Arbeiter*innen, gleich in welchem EU-Staat rein gar nichts vom großen EU-Kuchen abbekommen.

Kurz: Die AfD trägt keine sozialistische Kritik an der EU vor, die letzten Endes nur mit der Forderung nach einem Ende der EU der Herrschenden und dem Kampf für ein sozialistisches und demokratisches Europa enden kann. Davon ist die AfD ebenso weit entfernt wie Neptun von der Sonne.

Die Politik der AfD hat eher die Interessen mittelständischer Unternehmen im Blick, die unter der verschärften Konkurrenz der Freihandelszone EU zu leiden haben und vielfach nicht, wie Deutschlands Großkonzerne, Profite anhäufen. Genau diese Schichten sprach die AfD mit ihrem Getrommel über die angeblich von ihr beabsichtigte Auflösung der EU an. Nur kann man mit dieser Politik in Deutschland schwerlich in Regierungsverantwortung kommen.

Alice Weidel ist das längst klar gewesen. Schon 2019 beschrieb sie in „Widerworte“, ihre Vorstellungen von der Zukunft der EU als „Neuanfang unter Rückbesinnung auf die ursprünglichen Grundlagen der europäischen Staatengemeinschaft“. Ziel sei ein „Europa der Vaterländer“ im Sinne von „Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, das im Kern eine Freihandelszone bildet“. Der strikt pro-kapitalistischen Wirtschaftswissenschaftlerin Weidel schwebt eine EU vor, in der das Großkapital noch wesentlich ungehinderter als schon bislang zum eigenen Nutzen agieren kann. Den Weg dorthin erkennt Weidel nicht in einer Auflösung der Europäischen Union, sondern darin der „EU-Kommission im ersten Schritt die legislativen Hoheitsrechte“ zu entziehen. Sie will, wie sie selbst in „Widerworte“ schreibt die „EU reformieren“.

Sollte Weidels Plan irgendwann Realität werden, würde die EU bleiben, nur eben dann der letzten demokratischen Kontrollmechanismen entkleidet. Mehr verteidigen könnte man die Interessen der Eliten in diesem „faktisch gescheiterten Elitenprojekt“ wohl kaum.

Wo steht Alice Weidel?

Kein Wunder, denn Weidel ist vor allem eines: Eine neoliberale Politikerin vom Stile Margaret Thatchers. Wie die britische Premierministerin der 1980er Jahre warnt sie vor Zuwanderung und will die staatlichen Ausgaben drastisch senken, also Sozialleistungen kürzen. Diese würden, wie Weidel in „Widerworte“ behauptet „Bürger systematisch zur Unmündigkeit und freiwilligen Abhängigkeit“ erziehen und somit die Macht des Staates steigern. Wenig überraschend also auch, dass Alice Weidel gern mal Marcus Krall zitiert. Der ehemalige Sprecher der Geschäftsführung der Degussa Goldhandel GmbH hat gleich auf mehreren Veranstaltungen der AfD gefordert, Empfänger*innen von Transferleistungen das Wahlrecht zu entziehen.

Wie einst Thatcher, bezieht sich auch Weidel sehr gern auf den österreichischen Wirtschaftswissenschaftler Friedrich August von Hayek und den US-Ökonomen Milton Friedman. Dass beide eine enorme Vorliebe für Pinochets Diktatur in Chile hatten, kann kaum überraschen, hatte der doch den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende in einem Putsch gestürzt und machte sich hiernach daran, in einer Schocktherapie Wirtschaft und Sozialsystem unter Friedmans Anleitung umzukrempeln. Privatisierungen und Verarmung weiter Bevölkerungskreise waren die Folge.

Die zahlreichen Morde an Oppositionellen unter Pinochet waren Hayek bekannt, bereiteten ihm aber bei seinen freundlichen Äußerungen über Pinochet keine weiteren Sorgen. Schließlich hatte auch Hayek ein eher gespanntes Verhältnis zu demokratischen Rechten. Freiheit war für Hayek vor allem die Freiheit der Großunternehmen und Superreichen.

Wenn sich Weidel in der Tradition Hayeks sieht, sich zugleich als „Freiheitspolitikerin“ bezeichnet und man sich die Äußerungen des in AfD-Kreisen herumgeisternden Markus Krall vor Augen führt, muss einem zwangsläufig Angst und Bange werden. Wenn Weidel in „Widerworte“ schreibt, sie wolle „staatliche Aktivität auf ihre Kernaufgaben beschränken“ und Unterstützung nur noch – wie sie es formuliert – „tatsächlich Bedürftigen“ zukommen lassen, kann man sich vorstellen, dass Weidel Millionen Empfänger*innen von Sozialleistungen, die darauf angewiesen sind, künftig auf dem Trockenen sitzen lassen will.

Leitantrag im Weidel-Stil

Ihr bereits mehrfach erwähntes Pamphlet „Widerworte“ ist eines für einen schwachen und finanziell ausgepressten armen Staat, den sich vornehmlich (Super-)Reiche leisten können. Und soll der auch bitte Sozialleistungen drastisch senken, so soll er doch ordentlich Geld ausgeben, um aufzurüsten – nach innen und nach außen. Auch im europäischen Kontext hält Weidel die Kooperation in sicherheitspolitischen Fragen für richtig, Schmährufe auf die EU hin oder her. Ihre Partei verlangte, seit sie im Bundestag sitzt, immer wieder die Erhöhung der Rüstungsausgaben.

Der Leitantrag, der am 29. Juli dem Parteitag vorgelegt werden und das angebliche „redaktionelle Versehen“ beheben soll, ist ganz im Weidel-Stil gehalten und wirkt wie im Copy-Paste-Verfahren aus ihren „Widerworten“ übernommen: Die „Geduld mit der EU“ sei „erschöpft“, „die Weiterentwicklung der jetzt schon undemokratischen Strukturen“ der EU lehne man ab. Doch entgegen aller pseudo-radikalen Töne fordert der Antrag keine Abwicklung der EU, sondern eine Neugründung als Wirtschaftsgemeinschaft von Staaten gleicher Interessen.

Weidel schickt damit nicht nur Signale an die deutschen Großindustriellen, dass sie von ihrer Partei in der Regierung nichts zu befürchten haben, sondern auch an die CDU. Mit der will Weidel erklärtermaßen zusammenarbeiten, anders wird sie auf absehbare Zeit auch nicht an die Pfründe der Regierungsbänke herankommen, von denen aus sie – damit darf man rechnen – knallhart in Thatchers Tradition gegen die Interessen der Arbeiter*innen und Armen, unabhängig von deren Herkunft und Religion, Gesetze machen würde, wenn es zu einer Regierung unter Beteiligung der Rechtspopulist*innen kommen sollte.

Ring frei!

Ob im „Stern“- oder „Welt“-Interview, Weidel erklärt überall und gern, sie habe „Lust“ Kanzlerkandidatin der AfD zu werden. Von der Wahrheit dieses Satzes kann man ausgehen. Dabei lobt sie Björn Höcke. Der unumstrittene Führer des völkischen Flügels der AfD habe in seinem Bundesland Thüringen große Erfolge eingefahren und werde dort seinen Führungsanspruch stellen, erklärt Weidel gegenüber „Welt“, nicht etwa Höcke selbst, was bemerkenswert ist.

Dass Höcke und Weidel sich hinter den Kulissen der Machtkämpfe innerhalb der AfD in den letzten Jahren wiederholt abgesprochen haben, ist ein derart offenes Geheimnis, dass es schon ein Gemeinplatz geworden ist. Ob ihre Absprachen weiter halten werden ist mehr als ungewiss. Selbst, wenn Höcke die Kanzlerkandidatur nicht unmittelbar anstreben sollte, kann er kaum wollen, dass die neoliberale Thatcher-Nachahmerin Weidel programmatische Pflöcke einschlägt.

Höcke will die AfD in Richtung sozialer Demagogie bewegen, den Opfern des kapitalistischen Irrsinns alles versprechen und es zum Schluss dann doch nicht halten, anders wird er im Osten kaum dauerhafte Siege erzielen. Seine Anhänger*innen greifen die EU in deren Existenz von rechts an, wenigstens propagandistisch gilt es da für Höcke Schritt zu halten.

Es ist also durchaus denkbar, dass Höckes Kettenhunde innerhalb der AfD inzwischen zum Angriff auf Weidel bellen. Möglicherweise wird Höcke der Auseinandersetzung aber auch aus strategischen Gründen aus dem Weg gehen.

Inwieweit es innerhalb der Rechtspopulist*innen zum nächsten Grabenkampf kommen wird, kann man momentan nur erahnen. Alles andere als unmöglich dürfte dieser Kampf aber sein, zumal Höcke und die mit ihm kooperierenden Führungen der anderen ostdeutschen Landesverbände auf Umfragewerte blicken können, die teilweise über dreißig Prozent liegen und sich damit stark fühlen dürften.

Sozialistische Alternative schaffen

Der Höhenflug der AfD wird zurzeit mit allen möglichen und unmöglichen Thesen erklärt. Michel Friedman sieht im „Stern“ das „Schweigen der Demokrat*innen“ als Ursache. Der nicht aus der medialen Öffentlichkeit verschwinden wollende Professor em. Werner J. Patzelt sieht die Abkanzelung der AfD-Anhänger*innen als Ursache. Manch befragter „Experte“ sieht allen Ernstes das Gendern als verantwortlich für den Aufstieg der Rechtspopulist*innen.

Das Problem bleibt ein anderes: Der Kapitalismus steckt in der tiefsten Krise seit 1945. Er delegitimiert sich täglich. Ein Blick in die Nachrichten reicht, um unverzüglich abschalten zu wollen: Kriege, Klimakrise, Armut, Inflation… Die Rechte schafft es mit der AfD Unzufriedenheit zu kanalisieren, gegen Migrant*innen und damit gegen Menschen, die nicht nur nichts für die kapitalistische Misere können, sondern ebenso ihre Opfer sind.

Auf der Linken fehlt dieser politische Ausdruck. Die Linkspartei steckt in einer existentiellen Krise und die Gewerkschaftsführungen verpassten die Chancen des Frühjahrs, die Tarifrunden zu einer umfassenden Bewegung auszuweiten, in der auch Arbeiter*innen mit Migrationshintergrund eine wichtige Rolle hätten spielen können.

Der Mensch lerne empirisch, pflegte der lateinamerikanische Revolutionär Ernesto Che Guevara zu sagen. Soziale Kämpfe, die den Kapitalismus und dessen Irrsinn infrage stellen, und den Beteiligten zeigen, dass sie stark sind und – unabhängig von Sprache, Hautfarbe, Herkunft und Religion – gleiche Interessen teilen, würden nicht nur die Chance bieten, Löhne und Gehälter zu erhöhen; Mieten zu senken; sondern auch die Möglichkeit eröffnen, einen politischen Ausdruck dieser Interessen zu formen, der nur sozialistisch sein kann. Eine Kraft, die auch gemeinsam mit sozialistischen Parteien und Organisationen europaweit für ein sozialistisches und damit wirklich demokratisches Europa kämpfen müsste. Das würde Kapitalismus und AfD gefährlich werden. Die Zeit dafür drängt!

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