Sahra Wagenknecht und ihre Gegner*innen führen Scheingefechte
Die Auseinandersetzung zwischen Sahra Wagenknecht und ihren Gegner*innen in der Partei DIE LINKE spitzt sich zu. Neuester Anlass war eine Aussage der LINKE-Bundestagsabgeordneten, die zum Inhalt hatte, dass die Grünen die gefährlichste Partei der Bundesrepublik seien. „Skandal“ schreien ihre Gegner*innen und werfen Wagenknecht eine Verharmlosung der AfD vor. Die Frage, ob sie dabei über ein wohl kalkuliertes Stöckchen springen, das ihnen hingehalten wurde oder jeden Anlass zum Angriff auf die ehemalige Fraktionsvorsitzende nutzen, ist schwer zu beantworten. Wahrscheinlich stimmt beides..
Denn es geht schon lange nicht mehr um Inhalte, sondern um Machtkämpfe und – zumindest muss man diesen Eindruck bekommen – um die Inszenierung des Bruchs von Wagenknecht und ihren Unterstützer*innen mit der LINKEN zur Gründung einer neuen Partei.
Von Sascha Staničić
Die Debatte darüber, wer die gefährlichste Partei in der Bundesrepublik sei, ist erstens ein Scheingefecht und zweitens lenkt sie von der eigentlichen Hauptgefahr ab. Denn sowohl Wagenknecht als auch ihre Widersacher*innen haben – in ihrer jeweiligen Logik – ja nicht Unrecht. Wagenknecht hat Recht, wenn sie darauf hinweist, dass eine Partei, die ihre gefährliche Politik in der Regierung umsetzen kann, konkret gefährlicher ist, als eine Partei, die das nicht kann. Und ihre Opponent*innen haben auch Recht, wenn sie darauf hinweisen, dass die AfD als rechtspopulistische, offen rassistische und von Faschist*innen durchsetzte Partei in vielen Fragen nicht nur für gefährlichere Inhalte steht, als es die bürgerlichen Mainstream-Parteien tun, sondern auch gilt, dass das Leben für Migrant*innen, Frauen, LGBTQ*-Menschen und viele andere schwerer wird, je größer der Einfluss der AfD ist.
Hauptgefahr Kapitalismus
Was in der Debatte zu kurz kommt, ist aber die simple Feststellung, dass Grüne und AfD nur unterschiedliche Repräsentant*innen des Kapitalismus sind und die eigentliche „Gefahr“ nicht von dieser oder jener Partei ausgeht, sondern von dem auf Privateigentum an Produktionsmitteln basierenden profitgetriebenem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Denn letztlich ist doch unsere Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass es keinen qualitativen Unterschied macht, wer uns regiert. Letztlich sind Regierungen, ob sozialdemokratisch, konservativ, grün-liberal, lindner-liberal oder auch unter Beteiligung rechtsnationalistischer oder rechtspopulistischer Kräfte die Exekutivorgane der herrschenden Kapitalist*innenklasse und setzen deren Interessen um (und Koalitionen von linken und pro-kapitalistischen Parteien ändern daran auch nichts!). So erklärt sich auch der Sinneswandel zum Beispiel grüner Politiker*innen in Sachen Waffenexporte vor und nach dem Eintritt in eine Regierung oder die Beteiligung der LINKEN an Privatisierungen oder unsozialen Maßnahmen, wenn sie Regierungspartei ist.
Wenn Linke über Gefahren sprechen, sollten sie daraus Schlussfolgerungen ziehen. Es gilt die Ursachen von Gefahren für die Arbeiter*innenklasse und für den Planeten zu bekämpfen. Parteien sind nicht die Ursachen. Der Kapitalismus ist die Ursache. Eine konsequente, antikapitalistische Politik schlagen aber weder Sahra Wagenknecht noch ihrer Kritiker*innen vor.
Wohlüberlegte Botschaft
Gleichzeitig liegen in der Debatte einige politische Fragen „vergraben“, die es sich anzuschauen lohnt. Wir gehen davon aus, dass Sahra Wagenknechts Aussage keine unüberlegte und ungenaue Formulierung war, sondern eine wohlüberlegte Botschaft und Provokation. Eine Botschaft an diejenigen Schichten der Bevölkerung, die sie erreichen will – das sind nicht die Grünen-Wähler*innen, sondern nicht zuletzt solche früheren LINKE- und Nichtwähler*innen, die heute AfD wählen. Und eine Provokation ihrer Widersacher*innen innerhalb der Linkspartei, durch die sie die Angriffe gegen sich selbst herausfordern möchte, um sich in die Opferrolle begeben zu können – und einen Austritt inklusive Parteineugründung in der Zukunft legitimieren zu können.
Wie die AfD bekämpfen?
Wir stimmen Sahra Wagenknecht und ihren Unterstützer*innen darin zu, dass nicht alle AfD-Wähler*innen hoffnungslose Rassist*innen und Nationalist*innen sind, vor allem sind wir davon überzeugt, dass sich Haltungen auf der Basis von Erfahrungen und alternativen Angeboten ändern können. Wir sind aber erstens nicht der Meinung, dass die derzeitigen AfD-Wähler*innen die wichtigste Schicht der Lohnabhängigen sind, auf die sich eine linke Partei zur Zeit orientieren sollte – so richtig es ist, zu versuchen Teile zurückzugewinnen. Hier stellt sich viel mehr die Herausforderung, diejenigen zu erreichen und zu mobilisieren, die trotz des Angebots von Rechts, zu Hause bleiben und gar nicht mehr an Wahlen teilnehmen, weil sie sich von keiner Partei vertreten fühlen. Zweitens ist es falsch, AfD-Wähler*innen dadurch gewinnen zu wollen, sich inhaltlich und rhetorisch der AfD anzupassen (und es ist zweifelhaft, wie sehr das überhaupt gelingen würde, denn in der Regel wählen Menschen eher das Original als die Kopie). Man wird diejenigen AfD-Wähler*innen, die vor allem aus Protest gegen das prokapitalistische Establishment die Rechtspopulist*innen wählen, dadurch zurück gewinnen können, dass man den besseren, effektiven, erfolgversprechenderen Protest repräsentiert.
Auf der Seite der Wagenknecht-Kritiker*innen wird jetzt betont, dass man gemeinsam mit den Grünen gegen die AfD kämpfen müsse und wird das Wagenknecht-Zitat als Neuaufguss der stalinistischen Sozialfaschismustheorie der KPD aus den 1930er Jahren interpretiert (so Zitate von AKL- und Marx21-Mitgliedern auf facebook). Spätestens hier führt dann eine nachvollziehbare Kritik an dem Wagenknecht-Zitat zu falschen politischen Schlussfolgerungen. Wir haben an anderer Stelle ausführlich ausgeführt, weshalb die AfD keine faschistische Partei (auch wenn zweifelsfrei faschistische Kräfte in ihr großen Einfluss haben) ist und weshalb Antifaschismus und Antirassismus heute nicht erfolgreich mit offen prokapitalistischen Parteien wie SPD und Grünen gemeinsam betrieben werden kann – diese sind mit verantwortlich für staatlichen Rassismus und für die sozialen Bedingungen, die die AfD zur Propagierung ihrer Scheinlösungen ausnutzen kann. Sie sind also Teil des Problems und nicht der Lösung. Um Menschen von migrant*innenfeindlichen Vorurteilen abzubringen und aus den Fängen der Rechtspopulist*innen zu befreien, darf DIE LINKE und die Arbeiter*innenbewegung genauso wenig den Eindruck erwecken, Bündnispartner derjenigen Kräfte zu sein, die die Leute erst in die Arme der Weidels und Gaulands getrieben haben, wie dass sie die AfD verharmlosen oder sich den Vorurteilen ihrer Wähler*innen anpassen darf. Eine unabhängige und sozialistische Klassenpolitik ist nötig!
Showdown in der LINKEN?
Lorenz Gösta Beutin hat im ND einen Artikel veröffentlicht, in dem er eine Reihe richtiger Kritikpunkte an Sahra Wagenknechts Haltung darlegt. Er kommt zu dem Schluss, dass ihre politischen Vorstellungen nicht mehr mit der Linkspartei kompatibel sind und wirft ihr vor, dass ihr die „Grundsubstanz marxistisch-sozialistischer Ideologie“ verloren gegangen sei. Wir stimmen zu: Wagenknechts nationaler, wie sie es nennt, „Linkskonservatismus“ ist nicht links und schon gar nicht marxistisch. Nur erschöpft sich die Fragestellung für DIE LINKE nicht in dieser Erkenntnis. Denn Wagenknechts Positionen sind nicht das einzige in der Linkspartei, was nicht links und nicht marxistisch ist. Und in der aktuellen Debatte um den Ukraine-Krieg gibt es wahrlich andere Protagonist*innen in der Partei, die problematischere Positionen vertreten, als Wagenknecht und ihre Unterstützer*innen – all diejenigen, denen ihre Opposition gegen den NATO-Imperialismus verloren gegangen ist und die teilweise Waffenlieferungen an die rechts-nationalistische Regierung der Ukraine fordern.
Wenn Parteilinke, wie Lorenz Gösta Beutin, aber ihr Feuer nur gegen Sahra Wagenknecht richten, gleichzeitig mit Unterstützer*innen von Regierungsbeteiligungen mit prokapitalistischen Parteien zusammen eine Front namens „Progressive Linke“ schaffen und mehr oder weniger offen zum Ausschluss Wagenknechts aus der LINKEN aufrufen, dann erweisen sie der LINKEN einen doppelten Bärendienst.
Erstens bereiten sie Wagenknecht und ihren Unterstützer*innen damit den Weg für das, was diese ohnehin planen: sich von der LINKEN zu trennen und eine neue Partei bilden. Jüngste Umfragen bestätigen, worauf wir schon lange hingewiesen haben: eine Wagenknecht-Partei hat ein großes Wähler*innenpotenzial (nach einer Umfrage von dreißig Prozent) und kann bei Wahlen DIE LINKE hinter sich lassen und deren parlamentarische Existenz beenden.
Zweitens schließen sie ein prinzipienloses Bündnis und leisten keinen Beitrag dazu, die Partei inhaltlich klarer aufzustellen und so aus der Krise zu führen, sondern stärken damit letztlich diejenigen Kräfte, die durch ihre Politik der Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen die Hauptverantwortung für den Niedergang der LINKEN tragen, weil sie deren Haltung als „progressiv“ legitimieren.
Aussichten
Die Entwicklungen der letzten Wochen lassen erahnen, was in den nächsten Monaten und anderthalb Jahren passieren wird. Sahra Wagenknecht und ihre Unterstützer*innen haben den Kampf um die Linkspartei eingestellt. In NRW haben die diesem Kreis zugehörigen Mitglieder des Landesvorstands auf dem Landesparteitag am vergangenen Wochenende nicht mehr kandidiert und sich so nicht nur ihrer Verantwortung entzogen, sondern Medienberichten zufolge auf dem Parteitag auch eher sabotiert als konstruktiv agiert. Viele andere, wie Fabio de Masi, Oskar Lafontaine, Harri Grünberg und Ralf Krämer haben die Partei schon verlassen. Dieter Dehm ruft öffentlich zu einer von der Linkspartei separaten Kandidatur bei den Europawahlen auf. Alles spricht dafür, dass es genau dazu kommen wird, bietet die Europawahl doch eine einfache Gelegenheit auf Bundesebene zu kandidieren und angesichts des Fehlens einer Fünf-Prozent-Hürde auch Sitze zu erringen. Hinzu kommt, dass bei den Europawahlen gerne mal unkonventionell gewählt wird. Sollte eine solche Wagenknecht-Partei bei den Europawahlen besser abschneiden als DIE LINKE, würde das in der Partei ein Erdbeben auslösen. Nicht wenige sähen ihre parlamentarischen Felle gefährdet und man wird sich wundern, wer dann alles zur neuen „linkskonservativ“-populistischen Kraft wechselt. Eine solche würde aber politisch keine Alternative darstellen, denn das von Sahra Wagenknecht vertretene Programm verharrt nicht nur im Rahmen der kapitalistischen Marktwirtschaft und verbreitet gefährliche Illusionen in die Machbarkeit eines sozial gerechten Kapitalismus. Eine Wagenknecht-Partei wäre aller Voraussicht nach ein Top-Down-Wahlprojekt und keine inklusive und demokratisch strukturierte Arbeiter*innenpartei, die ein Forum für Debatte, Selbstorganisation und Gegenwehr der arbeitenden Klasse werden könnte.
Viele Linke in der LINKEN werden im Angesicht einer solchen Parteigründung aus Angst vor dem Tod politischen Selbstmord begehen und ihr Bündnis mit den Parteirechten intensivieren – um DIE LINKE „zu retten“. Das wird aber den gegenteiligen Effekt haben und am Ende eines solchen Prozesses wird die sozialistische Linke in der Bundesrepublik vorübergehend geschwächt sein.
Muss es so kommen? Nein. Ein Kurswechsel des Parteivorstands hin zu kämpferischer und sozialistischer Politik und einer ernsthaften Kampagne gegen Preissteigerungen und für höhere Löhne und Einkommen könnte eine andere Entwicklung einleiten, wenn dies mit einem Aufschwung an Sozialprotesten und Klassenkämpfen zusammen fallen würde. Ein solcher Kurswechsel ist aber nicht in Sicht. Deshalb spricht leider vieles dafür, dass die Anstrengungen für den Aufbau einer neuen linken Partei in der Bundesrepublik einen großen Rückschlag erleiden werden. Das wird aber nicht das Ende der Geschichte sein. Neue Anläufe für die Bildung einer sozialistischen Arbeiter*innenpartei werden sich aus Klassenkämpfen, den Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Kämpfen gegen kommunale Kürzungen etc. entwickeln. Um zu verhindern, dass sich die Geschichte der LINKEN dann als Farce wiederholt, ist der Aufbau einer starken marxistischen Kraft wichtig, die die Entwicklung einer zukünftigen Arbeiter*innenpartei beeinflussen kann. Deshalb rufen wir alle auf, sich der Sol anzuschließen.
Sascha Staničić ist Bundessprecher der Sol und Mitglied des AKL-Länderrats.