Revolution für sozialistische Demokratie
In der ungarischen Revolution 1956 kämpften Arbeiter*innen und Jugendliche für eine sozialistische Demokratie.
von Steve Kühne, Dresden
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde in Ungarn ein Regime nach dem Vorbild der Sowjetunion unter Stalin errichtet. Die faschistische Diktatur war zusammengebrochen, die Rote Armee einmarschiert. Ungarische Kapitalisten traten die Flucht an. Moskau tat alles, eine unabhängige Bewegung der arbeitenden Bevölkerung abzuwürgen.
In dem industriell unterentwickelten Land herrschte Mangel. Die Verstaatlichung der Großbetriebe und die Einführung einer geplanten Wirtschaft bedeuteten einen gewaltigen Fortschritt. Allerdings kontrollierte von Beginn an eine stalinistische Bürokratie den Staat und die Wirtschaft. In der Landwirtschaft wurde eine Zwangskollektivierung vorangetrieben.
Die bürokratische Clique an der Spitze des Staates lag auf der Planwirtschaft wie ein schwerer Ballast. Der Überwachungsapparat verschlang riesige Ressourcen. So standen einer Million Mitarbeiter*innen dieses Apparates nur 3,5 Millionen produktiv Arbeitende gegenüber. Die einseitige Konzentration auf die Schwerindustrie beeinträchtigte die Versorgung. Ständige Normerhöhungen trieben die Beschäftigten zu immer größerer Arbeitshetze. Die Löhne waren gering.
„Entstalinisierung“
Mit dem Tod Stalins 1953 stellte sich für die Bürokratie in der Sowjetunion und in den Ostblockstaaten die Frage nach dem weiteren Weg. Machtkämpfe tobten. Nur drei Monate nach Stalins Tod kam es zum Arbeiter*innenaufstand in der DDR.
Mit der „Geheimrede“ Chrustschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 wurde die „Entstalinisierung“ verkündet. Chrustschow kritisierte demokratische Mängel, Benachteiligung von nationalen Minderheiten in der UdSSR und Deportationen nach Sibirien. Diese Kritik machte er aber einzig und allein an der Person Stalins fest. Das System selber wurde nicht in Frage gestellt. Die „Entstalinisierung“ erschöpfte sich vielfach in veränderten Namensgebungen. So hieß Stalinstädtchen in der DDR fortan Eisenhüttenstadt.
In Ungarn brodelt es
Bereits 1953 erschütterten schwere Streiks Ungarn. Selbst die gefürchtete Geheimpolizei AVH konnte die „Arbeitsdisziplin“ nicht wieder herstellen. Die Bürokratie musste reagieren. Die sowjetische Spitze bestellte die ungarische Staatsführung nach Moskau. Der Ministerpräsident Matyas Rakosi wurde durch den „Reformkommunisten“ Imre Nagy ersetzt. Dessen Politik zielte im Wesentlichen auf eine wirtschaftliche Liberalisierung ab. Es gab zwar auch einzelne politische Zugeständnisse, umfassende demokratische Rechte gehörten aber nicht zum Programm.
Doch selbst dieser Kurs dauerte nicht lange. Hegedüs ersetzte Nagy 1955 und nahm dessen Reformen zurück. Im Hintergrund zog Rakosi, weiterhin Generalsekretär der KP, die Fäden.
Der Aufstand
Der ungarische Schriftstellerverband weigerte sich 1956, die von der KP-Führung ausgearbeitete Vorstandsliste abzusegnen und wählte einen eigenen Vorstand. Im Petöfi-Zirkel – im April des Jahres von der studentischen KP-Jugendorganisation gegründet – wurden die kritischen Stimmen immer lauter. Der Druck wuchs. Rakosi, der auf verschärfte Repression setzen wollte, wurde als Erster Sekretär der KP durch die Führung in Moskau abgesetzt. Sein Nachfolger Gerö war zwar nicht weniger Stalinist als Rakosi, aber im Vorgehen doch etwas klüger. Er verzichtete, anders als sein Vorgänger, zunächst auf Massenverhaftungen.
Doch damit allein war die Woge des Unmuts, die durch Ungarn zog, nicht mehr zu stoppen. Bereits im März 1956 hatte die ungarische Bürokratie öffentlich zugeben müssen, zahlreiche Morde begangen zu haben. So war Leslo Rajk, Stalin-Anhänger und ungarischer Innenminister, in einem Schauprozess mittels gefälschter Beweise schuldig gesprochen und schließlich umgebracht worden. Anfang Oktober 1956 wurde er rehabilitiert und feierlich beigesetzt. Zu dieser Beisetzung kamen 200.000 Menschen.
Die Ereignisse in Polen zu diesem Zeitpunkt hatten enorme Wirkung. Nach Massenprotesten im Juni 1956 wurde Gomulka dort am 21. Oktober zum Ersten Sekretär der polnischen KP ernannt. Das war ein Erfolg des nationalistischen Flügels der Bürokratie, wurde aber von der polnischen Arbeiter*innenklasse als Erfolg gefeiert.
Am 23. Oktober rief der Petöfi-Kreis zu einer Demonstration in Budapest „zur Unterstützung des polnischen Volkes“ auf. Diese wurde zunächst verboten, als sich jedoch Zehntausende in der Innenstadt einfanden, hob die Bürokratie das Verbot wieder auf. Die Schriftsteller-Gewerkschaft brachte programmatische Forderungen vor, die begeistert aufgenommen wurden. Punkt 1 lautete: „Wir wollen eine eigenständige, nationale Politik, die auf den Prinzipien des Sozialismus basiert.“
Zur gleichen Zeit hielt Gerö eine Rundfunkansprache, in der er den Demonstrant*innen vorwarf, für die Einführung des Kapitalismus zu sein und ankündigte, sie zu bekämpfen. Daraufhin zogen Tausende vor das Radiogebäude. Eine Abordnung ging hinein und forderte eine Berichtigung. Als sie durch die AVH behindert wurden, eskalierte die Situation. Die Demonstrant*innen versuchten ins Gebäude einzudringen, daraufhin eröffnete die AVH vom Dach des Gebäudes das Feuer.
Arbeiter*innenräte
Diese Provokation ließen die Arbeiter*innen und Jugendlichen nicht unbeantwortet. Die Beschäftigten der Rüstungsindustrie gaben Waffen aus. In der Nacht vom 23. zum 24. Oktober wurden überall in der Stadt Barrikaden errichtet. Über den Rundfunk wurde das Gerücht verbreitet, faschistische Putschisten würden öffentliche Gebäude attackieren. Nagy war erneut zum Ministerpräsident ernannt worden, um die Massen zu beschwichtigen. Dennoch schritt der Aufstand weiter voran. Durch die Verlegung russischer Truppen nach Budapest wurde die Stimmung weiter aufgeheizt.
Noch am 24. Oktober entstanden in vielen Budapester Betrieben Räte. Bis Ende Oktober hatte diese Bewegung ganz Ungarn erfasst. Selbst der UN-Bericht über den Aufstand sah darin das auffallendste Merkmal der ungarischen Ereignisse.
Dabei war diese Bewegung nicht „auffällig“, sondern für eine Arbeiter*innenklasse, die um ihre Befreiung kämpft, nichts Neues. In der Pariser Kommune 1871, in den russischen Revolutionen 1905 und 1917, in der deutschen Novemberrevolution von 1918, ja auch in Ungarn 1918/19 waren solche Räte entstanden.
Am 25. Oktober demonstrierten wieder Tausende vor dem Parlament gegen Gerö. Doch der ließ auf die unbewaffneten Demonstrant*innen feuern. Hunderte wurden getötet. Selbst herbeieilende Krankenwagen wurden von der AVH beschossen.
Imre Nagy war die letzte Hoffnung der Bürokratie. Er sollte die Massen beruhigen. Nagy verfügte eine Feuerpause, bildete die Regierung um und löste die AVH auf. Am 30. Oktober schaffte er das Einparteiensystem ab. Die russischen Truppen erhielten aus Moskau Anweisung, sich zurückzuziehen. Zu viele Soldaten waren übergelaufen, die Truppen waren einfach nicht mehr verlässlich.
Nicht nur in den Fabriken, sondern in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens (ob Schulen, Unis, Klinken oder Armee) wurden in jenen Tagen Räte ins Leben gerufen. Diese Räte etablierten eine Doppelherrschaft. Zum einen gab es die Räte, zum anderen weiterhin die KP-geführte Regierung (mit ihrer Verbindung nach Moskau). Hier musste früher oder später eine Entscheidung fallen.
Die Räte, wie in Russland 1917 rechenschaftspflichtig und jederzeit wähl- und abwählbar, ermöglichten Diskussionen über die politische und wirtschaftliche Situation. Überall, wo die Symbole des verhassten stalinistischen Regimes nicht schon gefallen waren, wurden sie nun gestürzt. Stalin-Statuen fielen wie Bäume, wenn man einen Wald rodet.
Der neu gegründete Nationalrat Freier Gewerkschaften forderte die Bildung von Arbeiter*innenräten in allen Betrieben, um eine Arbeiter*innenverwaltung durchzusetzen. Auf dieser Basis sollte die Planung der Wirtschaft gemeinsam übernommen werden. Gefordert wurden zudem Lohnerhöhungen, freie Abstimmung in den Betrieben über festzulegende Normen, Rentenerhöhungen und eine Anhebung des Kindergeldes. Klingt das nach einem Programm der kapitalistischen Konterrevolution?
Zweite Invasion
Am 4. November begann die zweite, von Moskau gesteuerte Invasion. Truppen aus dem asiatischen Teil der UdSSR ersetzten jene Truppen, die sich in Ungarn mit den Aufständischen verbündet hatten. Ihnen wurde erzählt, ein faschistischer Putsch sei im Gange. Da sie die Landessprache nicht beherrschten, blieben sie von allen Informationen abgeschnitten. Sie schlugen den Aufstand mit brutalsten Mitteln nieder. Nagy und seine Anhänger*innen hatten sich in die jugoslawische Botschaft geflüchtet und ließen die Aufständischen allein.
Diese organisierten entschiedene Gegenwehr und riefen einen hervorragend befolgten Generalstreik aus. Die Arbeiter*innenräte errichteten noch einen Nationalen Gesamtarbeiter*innenrat. Letztendlich kapitulierten sie jedoch vor den 200.000 ausländischen Soldaten und 6000 sowjetischen Panzern. Am 10. November waren die entscheidenden Kämpfe weitgehend beendet. Dennoch hielten sich in einigen Landesteilen Ungarns die Arbeiter*innenräte bis 1957.
Welle der Verfolgung
Die Konterrevolution schlug erbarmungslos zu. Verhaftungen und Erschießungen waren an der Tagesordnung. Nicht weniger als 20.000, vor allem jugendliche, Revolutionär*innen wurden in Lager in die UdSSR deportiert.
Imre Nagy und der militärische Führer des Aufstandes, Pal Maleter, wurden 1958 hingerichtet. Zehntausende flohen vor Verfolgung und Terror über die Grenze nach Österreich.
Ein hervorstechendes Merkmal der ungarischen Revolution war die spontane Art und Weise, auf welche die Arbeiter*innen in Richtung sozialistische Demokratie gingen. Ohne Zweifel strebten sie gegen Ende der revolutionären Ereignisse nach der Schaffung einer neuen Partei. Die Aufgabe einer solchen Partei hätte es sein müssen, für die Bildung einer Arbeiter*innenregierung auf nationaler Ebene zu kämpfen, die von den Räten demokratisch gewählt wird. Sie hätte auch ein Programm für Arbeiter*innendemokratie und Sozialismus in ganz Osteuropa und Russland entwickeln müssen – verbunden mit dem Ziel, dass eine ungarische Räterepublik nicht isoliert bleibt und von außen zu Fall gebracht werden kann.