Kampf um kulturelle Hegemonie
Der Feldzug der AfD gegen das Gendern gehört zu einer grundlegenden Strategie der Rechten. Die hat einmal einer ihrer Gegner entworfen. Elf Jahre verbrachte der italienische Marxist, Stalin-Gegner und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens in faschistischen Kerkern, bevor Antonio Gramsci am 27. April 1937 noch immer in Gefangenschaft starb. Seine „Gefängnisschriften“ gehören bis heute zum Erbe marxistischer Theorie. Längst bedienen sich auch Rechte aus seinen Büchern und Aufsätzen.
von Steve Hollasky, Dresden
Gramscis Idee der kulturellen Hegemonie fußte auf der Überlegung, dass herrschende Gruppen sich zur Absicherung ihrer Macht nicht allein auf Gewalt stützen, sondern auch auf die Entwicklung anschlussfähiger Ideen und die Kontrolle der Kultur. In den westlichen Gesellschaften, so Gramsci existiere zwischen dem Staat, dem Zwangs- und Herrschaftsorgan einer Klasse und der Zivilgesellschaft „ein richtiges Verhältnis“. Sollte der Staat ins Wanken geraten, sichere die „robuste Struktur der Zivilgesellschaft“ die Herrschaftsverhältnisse. Der Staat sei „nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten“ befinde.
Was Gramsci als Erklärungsmuster diente, um zu bestimmen, auf welchem Wege die Bourgeoisie ihre Herrschaft sichern kann; formen rechte Ideologen gern zu einer Strategie.
Sie versuchen Deutungshoheiten zu gewinnen, Begriffe zu prägen, Musik und Kleidungsstile zu beeinflussen und ganzen Bevölkerungsgruppen den Mund zu verbieten. Nicht selten sollen im Namen der Neutralität Lehrer*innen, Pädagog*innen und selbst Pflegekräften daran gehindert werden sich politisch zu äußern.
Die Strategie
Für Rechte und Nazis birgt diese Strategie gleich mehrere Vorteile: Nach Marx formt sich die ökonomische Basis einer Gesellschaft einen ideologischen Überbau. Der Kapitalismus beispielsweise, in dem sich die Produktionsmittel in der Hand privater Eigentümer befinden, deren Ziel es ist Profit zu erwirtschaften, schafft sich einen gesellschaftlichen Überbau. Ein Rechtssystem, welches die Privilegien einer herrschenden Klasse verteidigt; eine Umweltgesetzgebung, die dafür sorgt, dass Umweltschutz nicht die Gewinne großer Firmen bedroht; eine Kultur, in der es um Profit geht; ein Bildungssystem, welches Wissen vor allem unter dem Gesichtspunkt der späteren ökonomischen Verwertbarkeit vermittelt. Marxist*innen haben zum Ziel die gesellschaftliche Basis zu ändern, das Privateigentum an Produktionsmitteln und damit auch das Streben nach Profit abzuschaffen.
Rechte und Nazis geht es um die Okkupation der Regierungsgewalt, nicht um die Veränderung der realen Macht- und Eigentumsverhältnisse. Wo Rechtspopulist*innen in der Regierung sitzen oder saßen haben sie den Kapitalismus stets verschont. Nazis und Faschisten haben sich in der Geschichte diesbezüglich ähnlich verhalten.
Kulturelle Hegemonie zu erlangen, also die Vormacht über den ideologischen Überbau, soll Rechten und Nazis helfen an die Regierung zu kommen. Mit den wirklich Mächtigen müssen sie sich dazu nicht anlegen. Ganz im Gegenteil, anders als Sozialist*innen können sie bei der Auseinandersetzung um die kulturelle Hegemonie auf Schützenhilfe durch die Bürgerlichen bauen.
Kein neues Muster
Im Grunde ist diese Strategie nicht neu. Bereits, Ingo Hasselbach, einer der führenden Nazis in Berlin zu Beginn der 1990er Jahre berichtete nach seinem Ausstieg von Triumphgefühlen in rechten Gruppen, als CDU/CSU und SPD plötzlich vom „Asylproblem“ sprachen. Der Begriff war ursprünglich in Neonazikreisen geprägt worden. Damals griffen Neonazis bundesweit, aber vorrangig im Osten Deutschlands, Migrant*innen an.
Die Wiedereinführung des Kapitalismus in Ostdeutschland hatte die neuen Bundesländer in eine dramatische Krise gestürzt. Die Bürgerlichen wollten ihr Versagen bemänteln und suchten Sündenböcke für die Not weiter Bevölkerungskreise; Nazis und Rechte wollten ihre rassistischen Ziele erreichen, die sie in dem rassistischen Ausruf zusammenfassten: „Ausländer raus!“ Bürgerliche und Rechte ergänzten einander augenfällig und so griffen die großen Parteien dankbar den Begriff des „Asylproblems“ auf und änderten Asyl- und Bleiberechtsregeln derart restriktiv, dass das im Grundgesetz verbriefte Recht auf politisches Asyl weitgehend außer Kraft gesetzt wurde. Die Schützenhilfe der Bürgerlichen verhalf den Brandstiftern zur kulturellen Hegemonie.
AfD und Gramsci
Innerhalb der Kreise der AfD-Ideologen gehört Gramsci zur Pflichtlektüre und sie versuchen seine Idee für sich nutzbar zu machen. Wenn der sächsische Rechtsaußenrichter Jens Maier, der als AfD-Mitglied im Januar 2017 die NPD lobte, mitten im großen Hype um die spanische Serie „Haus des Geldes“ dessen Titellied in der Schule verbieten will, ist dieses Vorgehen eine Art der Umsetzung dieser Strategie.
In der Serie ging es um eine Bande, die die spanische Banknotendruckerei überfällt und deren Mitglieder zu Volkshelden werden. Heimlicher Hauptdarsteller der Serie war das Lied „Bella Ciao“, ein italienisches Partisanenlied, welches vom Kampf gegen Faschisten im Zweiten Weltkrieg erzählt.
Die etwas eigenwillige Disco-Version des Liedes war in manchen Schulen die Pausenbegleitung. Maier wollte das Abspielen des Liedes verhindern. Seine durchsichtige Begründung: Es sei den Schüler*innen ja nicht klar, worum es in diesem Song gehe. Das ist offensichtlich widersinnig, sollen Schulen doch gerade Schüler*innen mit Dingen und Themen, die ihnen bislang unbekannt waren, konfrontieren und vertraut machen. Maiers Ziel das Lied „Bella Ciao“ aus den Schulen zu verbannen dürfte mithin andere als die von ihm genannten Gründe haben.
Auch der von der AfD gern benutzte Begriff der „Altparteien“ ist direkt der Sprache der Nazis in den 1930er Jahren entlehnt. Mit ihm bezeichnet die AfD unabhängig von deren realem Alter alle anderen Parteien außer sich selbst. Auch er ein klares Beispiel für den Versuch die kulturelle Hegemonie zu erlangen und in diesem Fall hat die AfD zumindest in Teilen Erfolg damit.
Die angebliche Neutralität
Von politischen Gegner*innen verlangen AfD und andere Rechte stets ein Bekenntnis zur Neutralität. Als sich vor gut drei Jahren Pflegekräfte des „Bündnis für Pflege“ Dresden bei den Protesten gegen die Geburtstagsdemonstration der rassistischen Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) engagierten, erklärte einer der Pegida-Anhänger auf der Facebookseite des Bündnisses, Pflegekräften hätten neutral zu sein. Im Grunde ist diese Aussage nichts Anderes als die Forderung, eine ganze Gruppe von Menschen solle im Kampf gegen Rassismus gefälligst die Klappe halten.
Pegida geht in Dresden seit dem Oktober 2014 montags auf die Straße und fällt durch eine deutliche Nähe zum völkischen „Flügel“ der AfD auf. Weder Pegida noch die AfD stören sich übrigens an Vertreter*innen von Berufsgruppen, die offen ihre Sympathie zu ihnen bekunden. In diesen Fällen gibt es keine Aufforderung zur Neutralität. Auch das ist ein Ausdruck des Kampfes um „kulturelle Hegemonie“.
Der „Beutelsbacher Konsens“
Gerade Schulen hat die AfD zum Feld im Kampf um kulturelle Hegemonie auserkoren. Nicht selten unter Berufung auf den „Beutelsbacher Konsens“, bei dem es sich nicht um ein Gesetz, wohl aber um eine didaktische Richtlinie handelt, versucht die AfD insbesondere kritischen Lehrer*innen im Unterricht den Mund zu verbieten.
Der 1976 in Baden-Württemberg formulierte Konsens gilt heute weithin als unumstritten in der politischen Bildung. Anders als seine Interpretation. Grundsätzlich legt er Lehrer*innen auf ein Überwältigungsverbot, ein Kontroversitätsgebot und die Orientierung an den Interessen der Schüler*innen fest. Neutralität wird von keiner der an Lehr- und Lernprozessen beteiligten Personen gefordert – weder von Schüler*innen, noch von Lehrer*innen.
Eine Verpflichtung zur Neutralität vermochte auch Anja Besand in ihrem Aufsatz „Beutelsbach als Waffe“ nicht erkennen. Die Erziehungswissenschaftlerin, die seit 2009 die Professur für Politikdidaktik an der Technischen Universität Dresden innehat, beschäftigt sich in diesem Text mit der Strategie der AfD in Sachen Schule und dem Beutelsbacher Konsens. Neutralität sei bei der Vermittlung politischer Inhalte „gar nicht möglich“, heißt es dort. Dafür müssten „politische Kontroversen auch kontrovers im Bildungsraum Schule vorkommen“, wie Besand den Inhalt des „Beutelsbacher Konsens“ zusammenfasst.
Was also ein Mittel sein soll, um im Klassenzimmer zu diskutieren, zu debattieren und zu streiten münzt die AfD in ein Mittel zur Einschüchterung von Lehrer*innen um.
Die Meldeportale der AfD in mehreren Bundesländern, auf denen Eltern und Schüler*innen ihre Lehrkräfte auch anonym der AfD melden sollten, wenn diese sich nicht „neutral“ gegenüber der AfD verhielten, dienten der Einschüchterung kritischer Lehrer*innen. Mit ihnen bekräftigte die AfD ihre Forderung nach Neutralität von Lehrer*innen und Schule. Eine Neutralität, die so wie sie die AfD will, nicht viel mehr als ein Maulkorb ist.
In Sachsen war es wieder AfD-Rechtsaußen Jens Maier, der eine Gemeinschaftskundelehrerin ins Visier nahm. Sie hatte nach der Bundestagswahl 2017, in der die AfD in Sachsen erstmals stärkste Kraft wurde, für eine Motivationsphase ein AfD-kritisches Rezept verfasst, über das dann diskutiert werden sollte. Schüler*innen der Schule trugen die Äußerungen der Lehrerin an das damalige Bundestagsmitglied Jens Maier. Der informierte darüber sogar den sächsischen Kultusminister Christian Piwarz (CDU), der – ohne die Lehrerin davon auch nur in Kenntnis zu setzen – auf Maiers Beschwerde antwortete, was dieser wiederum genüsslich auf seiner Facebookseite ausbreitete. Die Lehrerin musste sich „mehrfach gegenüber dem Landesschulamt rechtfertigen“, wie die „Sächsische Zeitung“ 2018 berichtete. Es kostete Einiges an öffentlichem Druck, unter anderem einen öffentlichen Brief des Örtlichen Personalrats an den Kultusminister, um den Angriff der AfD zurückzuweisen. Und wieder: Beim Kampf um kulturelle Hegemonie stehen den Rechtsaußen mitunter die Bürgerlichen bei.
Der Kampf gegen das Gendern
Es wundert also nicht, wenn die AfD auch in einem weiteren Konfliktfeld die Schulen ins Visier nimmt.
Betrachtet man das Familienbild der AfD und ihre geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen, dann ist es eher logisch, dass die AfD auch gegen das Gendern ankämpft. In Sachsen brachten die Rechtspopulist*innen im Oktober 2021 einen Gesetzesentwurf in den Landtag ein, der es Lehrer*innen verbieten soll schriftlich zu gendern. Und nicht allein den Pädagog*innen sollte dies untersagt werden. Auch alle Initiativen und gesellschaftlichen Akteur*innen, mit denen Schulen in Verbindung stehen, sollte es verboten werden in schulischen Zusammenhängen zu gendern. Kein Schriftstück, das in den Schulen kursiert, sollte ein Gendersternchen enthalten. Zuwiderhandlungen sollten dienstrechtliche Konsequenzen folgen. Einen ähnlichen Gesetzesentwurf hatte zuvor schon die brandenburgische Fraktion der AfD in den Landtag eingebracht. In beiden Fällen scheiterte die AfD mit ihrem Vorhaben.
Wäre sie damit durchgekommen, wäre es sächsischen Lehrer*innen fortan unmöglich gewesen, das Gendern in den Schulen auch nur zu thematisieren. Dass die AfD mit diesem Verlangen selbst den Beutelsbacher Konsens verletzt, der verlangt gesellschaftlich kontrovers diskutierte Themen auch im Unterricht kontrovers zu diskutieren, zeigt wie wenig es dieser Partei um Unvoreingenommenheit oder die gern ins Feld geführte Neutralität im Klassenzimmer geht.
Die AfD will weder die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, noch die Gleichberechtigung von Menschen unterschiedlicher geschlechtlicher Identität.
Und auch in diesem Fall kann die AfD auf Schützenhilfe bürgerlicher Parteien setzen. Der Kapitalismus braucht die Spaltung der Arbeiter*innenklasse, denn wer gespalten ist ist schwach. Wenn es den Herrschenden gelingt Menschen entlang religiöser, ethnischer, kultureller, geschlechtsspezifischer Linien zu spalten; wenn es ihnen gelingt Ossis gegen Wessis, Muslimas und Muslime gegen Christ*innen und Atheist*innen aufzuhetzen, dann schwächen sie auch den Kampf für mehr Lohn und Gehalt, für ein öffentliches Gesundheitswesen unter demokratischer Kontrolle durch die Beschäftigten, für niedrige Mieten und gegen Rüstung.
Und so hat die CDU-geführte Landesregierung in Sachsen bereits zu Beginn des Schuljahres eine Empfehlung formuliert, die Lehrer*innen dazu anhält, auf das Gendern mit Sonderzeichen und sogar mit dem schon seit Langem durchaus gebräuchlichen großen Binnen-I zu verzichten.
Warum die AfD so handelt
Der AfD bringt diese Strategie große Vorteile. Sie versucht so das erklärte Ziel zu erreichen, Schulen, Universitäten und Kultur zu kontrollieren. An den realen Machtverhältnissen, an der Eigentumsfrage, wird die AfD damit nichts ändern. BMW, die großen Krankenhausbetreiber, die Besitzer von Seniorenwohnheimen, die Rüstungsindustrie, der Großteil der Mietwohnungen – all das wird dann weiterhin im Besitz einiger weniger und großer Privatunternehmer sein, deren einziges Ziel der Profit ist. Daran will und wird die AfD nichts ändern. Und deshalb wird sie für die Mehrheit der Bevölkerung auch keine Verbesserungen erreichen. Aber das wollen die Rechtspopulist*innen auch nicht. Es reichen ihnen die Regierungsämter und die Kontrolle über die gelebte Kultur. Daher verfolgen sie diese Strategie.
Nur, was soll man dagegen tun? Dagegen anzukämpfen ist sicherlich wichtig, das allein reicht aber nicht. Es geht darum zu erklären, weshalb die AfD gegen das Gendern, gegen antifaschistische Lieder, gegen bestimmte sprachliche Formulierungen ankämpft und weshalb sie andere Formulierungen einfordert. Und es ist wichtig zu erklären, weshalb dieser Kampf um kulturelle Hegemonie, sollte ihn die AfD für sich entscheiden, das kapitalistische System, mitsamt seiner Ungerechtigkeiten stützt. Der Kampf gegen das Gendern in der Schule lenkt von den wirklichen Problemen ab: Schüler*innen, die durch Corona im Unterricht nicht mitkommen, deren Eltern nicht das nötige Einkommen haben, um ihnen ein inzwischen so wichtiges Endgerät zu bezahlen, der Mangel an Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen, die vollgestopften Klassen – all das sind wirkliche und echte Probleme, die es zu lösen gilt. Das Gendern, was ohnehin nicht alle Lehrer*innen tun, gehört nicht dazu.
Zudem zielen die Absichten der AfD im Kampf um ihre kulturelle Hegemonie darauf ab, die Arbeiter*innenklasse zu schwächen und ihre Selbstbestimmung zu verhindern. Daher läuft ihr Kampf in diesem, wie in vielen anderen Bereichen, den Interessen der lohnabhängig Beschäftigten, der Jugendlichen, der Rentner*innen und der Migrant*innen zuwider. Und das gilt es sichtbar und deutlich zu machen. Die Alternative zu all diesem Irrsinn bietet nur der Kampf um eine sozialistische Demokratie, in der Kultur befreit sein wird vom Streben nach Profit und dem Kampf einzelner Gruppen um Hegemonie.
Oder, um mit Gramsci zu sprechen: „Die Wahrheit zu sagen, ist revolutionär.“